Anton Nielsen

Obwohl er beinahe das Greisenalter erreichte, bevor er starb, war er kein lebensmüder Mann. Als es sich vor einiger Zeit herumsprach, dass er krank war, erzählte man sich gleichzeitig, dass er bloß auf das Honorar für ein Buch wartete, um in den Süden zu reisen und zu versuchen seine Gesundheit in milderer Luft wiederzugewinnen. Er fühlte sich noch nicht am Lebensende angelangt, und er hat sicherlich bis zuletzt gekämpft.

Und doch war er in seinen späteren Jahren kaum ein glücklicher Mann. Vor einiger Zeit gab Ignotus1 in diesem Blatt eine leicht wehmütige Schilderung des alten Dichters und seiner Kleinbauer-Landwirtschaft2 unter Freunden auf Fünen. Er, der in seiner Zeit – und zu Recht – als Erneuerer begrüßt worden war, fühlte sich halb vergessen und ganz übersehen. Er, der in seiner Zeit wie kein anderer Dichter die Ohren und Herzen der Bauern gewonnen hatte, fand zuletzt nur mit Schwierigkeit einen Verleger für seine Schriften3. Dazu kamen wohl noch andere Sorgen. Häusliches Familienglück hatte er, laut eigener Aussage4, nie kennengelernt. Und er war arm – arm, wie selbst ein Lieblingsdichter des Volkes es in einem kleinen volkstümlichen Land wie Dänemark werden kann.

Deshalb ist es doppelt schade, dass er den Festtag nicht erleben durfte, der sein nah bevorstehender 70. Geburtstag natürlich geworden wäre. Er hätte dann sicherlich gemerkt, dass er nicht vergessen worden war, sondern dass sich im ganzen Land noch tausende Freunde mit Dank und Bewunderung an ihn erinnerten.

Man hört oft, dass Steen Steensen Blicher als derjenige genannt wird, der dem Jahrhundert die ersten Wirklichkeitsschilderungen der dänischen Bauern gab. Das stimmt wohl nicht. E Bindstouw ist fürwahr ein meisterliches Buch; aber es nimmt in Blichers Œuvre einen ähnlichen Platz wie Træsnittene in Christian Winthers ein. In diesen Büchern findet sich vielleicht mehr Kunst, aber absolut weniger Natur als in anderen berühmten Werken derselben Verfasser. In unserem Jahrhundert ist Schandorph zum klassischen Schilderer der Bauern und Kleinstadtbürger geworden, so wie Drachmann – neben so vielem anderen – jener der Fischer wurde.

Aber lange vor Schandorph und Drachmann und im Großen und Ganzen völlig unbeeinflusst vom Durchbruch der 70er, nämlich bereits 1861, hatte der junge Anton Nielsen, der damals als Schullehrer nahe Schandorphs Heimat lebte, mit seinen drei Bänden5 Dorfgeschichten Fra Landet, den Sprung in den Naturalismus6 geschafft. Mit diesem Buch hält der Naturalismus – halb unbewusst – seinen Einzug in unsere Literatur. Aus einer naiven, aber tiefliegenden Liebe zum Bauern und seinem Wesen heraus, gepaart mit dem Drang des Schulmannes zu belehren, anzuleiten und zurechtzuweisen, entstanden ganz isoliert eine Reihe Schilderungen des Volkslebens, deren wesentlicher Zweck es war, das Dorfleben so darzustellen, wie es wirklich war, das heißt, wie der Verfasser es wirklich sah. Hier gab es keine bewussten Beschönigungen. Hier suchte man keinen Anspruch auf Schönheit zu erfüllen, nur den auf Wahrheit. Noch dieser Tage überrascht es, wie hellhörig in einer Erzählung wie "Kaffesladder"7 das Reden und die labyrinthischen Gedankengänge von ein paar Dorfziegen aufgeschnappt wurden, und wie mutig und naturgetreu die Darstellung vollendet ist.

Leider gewann ja all zu früh der Student und Moralist die Überhand über den Dichter und Naturverehrer in Anton Nielsen, der – selbst Schullehrer – Sohn eines Küsters und mit einer Pfarrerstochter verheiratet war. Bereits in seinen allerersten, ansonsten so neuen und frischen Büchern werden allzu viele Seiten von einer unkleidsamen Frommheit befleckt, die mit den Jahren zunahm8. Bei ihm verrät sich, wie bei der übrigen langen Reihe an Schullehrerverfassern, denen er mit seinem Auftreten die Feder in die Hand drückte und denen sich in letzter Zeit ein paar Pfarrer angeschlossen haben, die angeborene Küsternatur ununterbrochen im Eifer bei jeder erdenklichen Gelegenheit die Kirchenglocken läuten zu lassen und unabänderlich jede feierliche Begebenheit mit einem Vaterunser und einem Amen zu beenden.

Wenn also gesagt wird, dass auch Anton Nielsen nicht vollbrachte, was er in seiner Jugend zu verheißen schien, sondern dass die schleichende Seuche, die uns alle früher oder später in dieser lieben, kleinen Gesellschaft aus Pfarrer- und Küstersöhnen untergräbt, auch seine Geisteskraft stutzte, bevor sie sich richtig entfalten konnte, hinterlässt er doch zumindest ein Werk, das seinen Namen vor früher Vergessenheit retten wird. "Fra Landet" wird in unserer Literatur als ein Denkmal und ein Meilenstein stehen. Er gehörte wirklich zu den Männern des Durchbruchs.

Henrik Pontoppidan.

 
[1] Ignotus war Henrik Cavlings Pseudonym. tilbage
[2] Kleinbauer-Landwirtschaft: Cavling schreibt nichts über Anton Nielsens Landwirtschaft in seinem Artikel. tilbage
[3] mit Schwierigkeit (…) Verleger: z. B. musste sein Landsbyliv i Trediverne. Barndomsminder 1894 im Milo'ske Boghandels Forlag in Odense erscheinen. tilbage
[4] laut eigener Aussage: siehe Anton Nielsens Brief an Pontoppidan vom 19.10.1896. tilbage
[5] drei Bänden: Mit dem Untertitel Billeder af Folkelivet i Sjælland erschienen sie 1861, 1862 und 1863. tilbage
[6] Naturalismus: Über HPs Gebrauch dieser Bezeichnung siehe einen (späteren) Artikel im Lexikon. tilbage
[7] Kaffesladder (wörtl. Kaffeeklatsch): Aus der ersten Sammlung, 1861, eine der wenigen erhaltenen Erzählungen, die in (schwer leserlichem) Dialekt verfasst sind, etwas das HP nie selbst tat. tilbage
[8] Moralisten: K.K. Nicolaisen verweist auf HPs Artikel im Apparat zu seiner Biografie über Anton Nielsen in Dansk biografisk Leksikon und schreibt:

(...) die Frische der Beobachtungen weicht hier und da N.s Lust zu moralisieren, weshalb seine späteren Bücher sich künstlerisch nicht mit seinem ersten messen können.

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