Die Tochter des Priesters

Eine Gedächtnisskizze

Wir hatten unsere Kinderschuhe in derselben Handelsstadt Ostjütlands abgelaufen, in der ihr Vater immer noch Rabbiner war, als wir uns als Erwachsene – vor gut und gern dreißig Jahren – in einem Seebad an der Nordsee zufällig begegneten. Sie war damals vermutlich einundzwanzig.

Die kleine jüdische Gemeinde deutsch-polnischer Herkunft, der ihr Vater vorstand, setzte sich bis auf eine einzige Ausnahme aus Leuten des Mittelstands zusammen, die hart um ihr Auskommen kämpfen mussten und deshalb kein Ansehen unter der gut situierten Bürgerschaft der Stadt genossen. Zudem waren die meisten Gemeindemitglieder altmodische Orthodoxe und hielten ihr Heim vor der Außenwelt strikt verschlossen, was ihre Beliebtheit in der Stadt ebenfalls nicht förderte. Ohne Kontakt zur übrigen Bevölkerung, außer die Geschäfte verlangten dies, lebten sie für die Familie und pflegten ihr eigentümliches jüdisches Privatleben, dessen schwere, mit vielen fremden Zutaten gewürzte Brutwärme sich derart von der gemäßigten Gemütlichkeit einer nordischen Wohnstatt unterscheidet.

Die arme Gemeinde konnte für Synagoge und Priester nicht viel entbehren, und da dieser eine große Kinderschar hatte, lebte er unter sehr beengten Verhältnissen. Seine junge Tochter muss wohl angenommen haben, dass ich das wusste und aus diesem Grund erstaunt war, sie an einem Ort zu treffen, den die Leute im Wesentlichen aufsuchten, um sich zu amüsieren. Jedenfalls erzählte sie mir umgehend von der reichen Verwandten, die für die Kosten ihrer Reise aufgekommen sei. Sie hatte sich ein Sommervergnügen wünschen dürfen und wählte einen dreiwöchigen Aufenthalt an einem Badeort. Sie habe immer schon das Meer sehen wollen, sagte sie bloß. Doch etwas in ihrem unruhigen, achtsamen Blick verriet, dass auch das sommerfrohe Ferienleben am Strand und in den Dünen einen Einfluss auf ihre Entscheidung ausgeübt hatte. Dem Ideal einer jüdischen Mädchenschönheit, dessen Erwartung sie als Kind geweckt hatte, war sie nicht gerecht geworden. Sie war klein und unscheinbar. An der Seite der anderen jungen Damen des Badehotels, zumeist Töchter von jütländischen Grossisten und Großbauern vom Typus eines blonden Schwergewichts, hinterließ sie beinahe einen halbwüchsigen Eindruck. Da sie auch durch ihre Abstammung nicht besonders auffiel, wurde sie am Anfang meist übersehen.

Am langen Esstisch des Hotels, berühmt für seine üppigen Gedecke, saßen wir nebeneinander. Nach jütländischem Brauch war insbesondere der Abendbrottisch ein reichhaltiges Zeugnis für die Fettigkeit der dänischen Erde. Er war wie eine Speisekammer-Offenbarung aus dem Schlaraffenland. Damals befand sich die Welt in einer glücklichen Phase, in der es sich für ein paar Kronen am Tag wie ein Vielfraß leben ließ.

Bereits am ersten Tag fiel mir auf, dass sie bloß ein paar Stücke trockenes Weißbrot mit etwas Marmelade aß. Selbstverständlich wurde mir rasch der Grund klar, zumal sich unter den Gästen ein älteres Ehepaar befand, das sie vom anderen Ende des Tisches aus neugierig beobachtete. Es waren Leute aus unserem Heimatort, und ich konnte verstehen, welche Aufregung es in der kleinen jüdischen Gemeinde hervorrufen würde, wenn berichtet werden könnte, dass nicht einmal die Tochter des Priesters die Speisegebote einhielt.

Es ließ sich nicht vermeiden, dass allmählich auch die anderen Tischnachbarn bemerkten, dass sie kaum das Essen anrührte, sondern nur zum Schein etwas auf ihren Teller legte. Sie glaubten, das junge Mädchen sei krank, und brachten sie mit teilnahmsvollen Fragen in Verlegenheit. Ein Medizinstudent bot ihr an, einen wundersamen Appetitschnaps zu mischen. Ein anderer Herr wollte sie zu etwas nötigen, was er einen "Königin Victorias Magenöffner" nannte. Das war ein von englischer Soße durchweichtes Stück Brot mit Senf, Anchovis und Salzgurke. Von allen Seiten der tafelfreudigen Gesellschaft regnete es gut gemeinte Ratschläge auf sie herab, die das junge Mädchen immer unglücklicher machten.

Nachdem die Angelegenheit bekannt geworden war, schlug die Anteilnahme in nicht minder aufdringliche Neugierde-Aufmerksamkeit um. "Die kleine Rabbinertochter" wurde für ein paar Tage zum allgemeinen Gesprächsthema unter den ungefähr fünfzig Gästen des Hotels. Niemand konnte begreifen, dass sie dorthin gefahren war und sich all dieser Unannehmlichkeiten aussetzen wollte, die sie schließlich hätte voraussehen müssen. Aber man war besonders daran interessiert herauszufinden, wovon der arme Mensch eigentlich lebte. Auf Nachfrage in der Küche erfuhr man, dass ihr alle zwei oder drei Tage von zu Hause ein kleines, fest versiegeltes Postpaket mit etwas Fleisch und Talg geschickt wurde, das sie sich in der Küche zubereitete und anschließend in ihrem Zimmer aß, wo sie auch ihre eigenen Teller und die übrigen Utensilien aufbewahrte.

Nun wusste man genug. Die Leute fanden sie beklagenswert, vergaßen aber nicht, dass sie sich hier in den heiligen Gefilden der Religion befanden und behielten ihre Meinung für sich. Doch man konnte hören, wie besonders die älteren Damen ihr Erstaunen zum Ausdruck brachten, dass das kleine Fräulein Rachel unter diesen Umständen nicht lieber ganz den Mahlzeiten ferngebleiben wäre. Sie verständen natürlich gut, äußerten sie ein wenig beleidigt, dass es für sie nicht sonderlich amüsant sein könne, jedes Mal, wenn wir anderen aßen, im Zimmer zu sitzen, doch sie fänden es anstößig, wie sie Tag für Tag ihre fremde Religion mit ihren vielen sonderbaren Vorschriften derart offen zur Schau stelle, und waren insgesamt der Meinung, dass sie wie die Mehrheit ihresgleichen eine unglückliche Neigung besitze, um sich solch ein Geheimnis zu machen.

Von Anfang an hatte ich mich ein wenig über ihre Freimütigkeit in diesem Punkt gewundert, denn ansonsten lag in ihrem Wesen etwas eichhörnchenhaft Scheues und Verschlossenes. Sie war keineswegs eine dieser durchsichtigen Naturen. Die schonungslose Kritik, der sie beinah überall ausgesetzt war, wurde durch die vielen Eigentümlichkeiten und scheinbaren Widersprüche an ihr etwas entschuldigt, aus denen man selbst bei näherer Bekanntschaft nie völlig schlau werden konnte.

Sie war eine begabte und vor allem sehr belesene kleine Person, deren Erziehung durch ihren gelehrten Vater geleitet worden war, der an einer deutschen Universität einen Doktortitel erworben hatte. Im Vergleich zu den anderen jungen Damen des Badeortes, die sie gewöhnlich herablassend behandelten, war sie selbst fast eine Gelehrte, und dieses Bewusstsein verließ sie gewiss nur selten. Dass es ihr dagegen an deren Sicherheit im Auftreten, deren angeborenem, glücklichem Einklang mit der Umgebung fehlte, war ihr indes kaum im selben Maße bewusst, und in dem Drang, sich in der fremden Gesellschaft Geltung zu verschaffen, erregte sie unwissentlich bei jeder Gelegenheit Anstoß. Nun war allerdings dieser Sommeraufenthalt das große Ereignis in ihrem beengten Leben, das Abenteuer, von dem nicht eine einzige Minute vergeudet werden durfte. Sie musste unbedingt überall dabei sein, wo etwas los war, weshalb ihre Anwesenheit oft als Anmaßung empfunden wurde.

Unter den Gästen befand sich ein jüngerer, gut aussehender Architekt und Gitarrenspieler, der in diesem Sommer der Pascha des Badeortes war. Überall sah man ihn umgeben von seinem Harem, sechs bis acht junge Damen, deren Bewunderung für seine Person und gesellschaftlichen Talente sie schwesterlich verband. Er hatte seinen Platz uns schräg gegenüber, und ich merkte bald, wie sie vor Eifer brannte, in den Kreis aufgenommen zu werden, und sich über jedes Zeichen der Gnade freute, das ihr der gefeierte Mann über den Tisch hinweg sendete. Allerdings bestand kein Zweifel daran, dass sich die Haremsdamen gegen sie verschworen hatten, um sie auszuschließen. Doch unbeeindruckt von deren stillem Widerstand setzte sie ihre Annäherungsversuche mit einer mal verlegenen, mal kecken Beharrlichkeit fort, die an das zugleich ängstliche wie todesmutige Flattern einer Motte um das Licht erinnerte.

Eines Nachmittags traf ich sie, als sie fast eine halbe Meile1 vom Hotel entfernt allein am Strand entlangging. Ich ahnte den Grund und fragte daher nicht nach. Wir gingen gemeinsam zurück. Wenn sie so mit jemandem unter vier Augen war, zeigte sie gern ihre Belesenheit, indem sie sich zum Beispiel über die Entwicklung des Fauststoffs im Laufe der Jahrhunderte oder andere große Themen ausließ, die im Missverhältnis zu ihrem Alter und ihrer tatsächlichen Reife standen. Doch an diesem Tag war alles Krampfhafte aus ihrem Wesen gewichen. Sie war ungewöhnlich still und verzagt. Sie verschränkte die Arme hinter dem Rücken, und die sonst so unruhigen und wachsamen Augen waren die meiste Zeit auf den Boden gerichtet.

Wenn sie auf diese Weise ihren Gedanken nachhing, erinnerte sie mich ganz an ihren Vater, den kleinen Mann mit grauem Bart, dessen Gestalt ich aus meiner Kindheit deutlich im Gedächtnis hatte. Es war nicht allein die Haltung, die gleich war. Das Mädchen erweckte in mir zudem den Eindruck von Einsamkeit, der sich mir damals – beinahe unheimlich – beim Anblick des "Judenpriesters" aufgedrängt hatte, wenn er mit den Händen auf dem Rücken die Straße entlanglief und ihn kaum jemand grüßte. Aufgrund der Beschneidungszeremonie und der mysteriösen Schächtung, der er vorstehen sollte, sahen wir Jungen ihn mit dem gleichen Schrecken an, mit dem wir von den Opferpriestern der Vergangenheit und ihren blutigen Händen lasen. Ich hatte nun durch die Erzählungen der Tochter einen kleinen Einblick in den fremdartigen Geist bekommen, der dieses jüdische Priesterheim auch abseits des Religiösen prägte, und auch ein Verständnis für das große Opfer, das ihr Vater gebracht hatte, als er sein deutsches Vaterland verließ, um Priester für zwanzig bis dreißig arme Glaubensgenossen in einer jütländischen Kleinstadt zu werden. Ohne Einflussmöglichkeiten außerhalb seiner kleinen, scharf abgegrenzten Gemeinde, mit deren Kleinhändlern und Kleinfabrikanten er über die Synagoge hinausgehend keinen geistigen Austausch haben konnte, war er wirklich der einsamste Mann der Stadt. Noch nicht einmal zu den anderen Priestern bestand Kontakt. Trotz seines gelehrten Titels erkannten diese ihn nicht als ebenbürtig an, während er sich seinerseits nicht für den ewig schwelenden theologischen Streit in der dänischen Kirche interessierte.

Er vergrub sich zwischen den Regalen. Und die Schwermut der Einsamkeit, das Fernweh des Studierzimmers, die Überspanntheit und Verzagtheit seiner ganzen empfindsamen Seele schienen das Erbe für seine Lieblingstochter zu sein, was Fräulein Rachel gewiss war. Ihre Liebe zu ihm mischte sich mit tiefster Ehrfurcht. Und dennoch war ich mir nie sicher, ob sie in ihrem Herzen den Glauben ihres Vaters teilte oder sich bloß aus Gehorsam und Pflichtgefühl ihrem Zuhause gegenüber dazu bekannte. In diesem Punkt war sie außerordentlich zurückhaltend. Aber ich hatte trotzdem den Eindruck, dass gerade sie ihrem Zuhause ein Opfer brachte, ohne sich das je einzugestehen.

Einige Tage später, es herrschte ungewöhnlich schönes und ruhiges Wetter, verständigten sich die Hotelgäste am Mittagstisch darauf, einen Ausflug ins Grüne zu unternehmen. Zwar gab es im Umkreis von vielen Meilen nicht einen einzigen Baum, doch irgendwo landeinwärts in der Heide lag eine Schonung, wo man sich angeblich mit ein wenig gutem Willen vorstellen konnte, im Schatten umherzuspazieren. Zur Beförderung standen ein Char-à-bancs und ein Erntewagen zur Verfügung, der erste für die Älteren, der zweite für uns Jüngere. Geplant war, direkt nach dem Mittagessen, um drei Uhr, aufzubrechen, damit wir zum Abendessen wieder zu Hause sein konnten.

Nachdem wir vom Tisch aufgestanden waren, zog mich Fräulein Rachel etwas zur Seite und fragte, ob ich ihr genau sagen könne, wie lange die Fahrt dauere. Ich war über die Frage ein wenig verwundert, besonders aber über den äußert unruhigen Blick, mit dem sie die Antwort erwartete. "Vier bis fünf Stunden", sagte ich. – "So lange!" – Sie überlegte einen kurzen Moment und entfernte sich dann mit den Worten, sie komme nicht mit.

Als die Kutschen nach ungefähr einer Stunde vor dem Hotel hielten, sah ich sie dennoch als eine der Ersten den Erntewagen besteigen. Sie hatte sich wie die anderen jungen Damen einen bunten "Strandschal" zugelegt, der wie eine Fanø-Haube mit einer Schleife stramm über dem Kopf zusammengebunden wurde. Ich hatte sie damit schon mal gesehen, aber erst jetzt fiel mir auf, wie das ihr Aussehen veränderte. Obwohl Sonne und Seeluft sie nicht weiter gebräunt hatten, sondern bloß ein paar Sommersprossen auf ihrer Stirn zum Vorschein brachten, betonte dieses farbenfrohe Kopftuch das Südländische ihrer Gesichtszüge und verlieh der ganzen Erscheinung einen Schimmer von etwas Wildem und Fremdartigen. Oder lag das vielleicht nur am fiebrigen Glanz in ihren dunkelbraunen Augen? War der eigentliche Grund nicht eher in ihrem Inneren zu suchen, wenn sie mit ihren einundzwanzig Jahren plötzlich einer Zigeunerin mittleren Alters ähnelte, die voll dunkler Leidenschaft glühte?

Ich konnte es nicht lassen, sie aufgrund ihres Wankelmuts zu necken. Doch sie revanchierte sich und antwortete keck, dass ich sie "natürlich" falsch unterrichtet hätte. Sie habe eben den Kutscher gefragt und zur Antwort erhalten, dass der Ausflug bequem in drei Stunden zu schaffen sei. "Und nun?", fragte ich, um eine Erklärung zu bekommen, die allerdings ausblieb. In diesem Moment war ich kurz davor, mich der allgemeinen Meinung über sie anzuschließen und sie für verschroben und hysterisch zu halten.

Nach gut einer Stunde Fahrt auf sandigen Heidewegen erreichten wir die Schonung und stiegen von den Kutschen ab. Es gab nichts weiter zu sehen als lange Reihen von Erdlöchern mit jeweils einem kleinen Weihnachtsbaum in ihnen. Wir mussten mitten in der Sonne auf einer versengten Wiese lagern und stärkten uns am mitgebrachten Wein und Kuchen. Da wir jungen Leute erpicht darauf waren, uns zu amüsieren, gaben wir uns danach einer Polka hin. Das Orchester bestand aus einer Mundharmonika. Die meisten Herren tanzten in Hemdsärmeln, und die Zipfel der Kopftücher unserer Damen flogen uns um die Ohren. Der ältere Teil der Gesellschaft, der als Publikum auf einem Deich saß, hatte gewiss glauben können, dort in der Heide einem der primitiven Volksfeste früherer Zeiten beizuwohnen.

Unsere Schatten auf dem Boden waren bereits lang, und der abendliche Seenebel legte sich über das Land, ehe wir aufhörten und uns zurück zu den Kutschen begaben. Die Zeit der hellen Abende war vorüber. Es war Ende August. Über dem Horizont hing die Sonne groß und rot im Dunst wie ein aufgehender Mond.

Plötzlich tauchte Fräulein Rachel vor mir auf. Sie war noch warm vom Tanz, bei dem sie sich auf unglaubliche Weise schließlich selbst in der Quadrille des Architekten Platz verschafft hatte. Mit großer Unruhe fragte sie mich nun, wie spät es sei. Als ich ihr geantwortet hatte, blickte sie sich verwirrt um und wurde bleich. Die Sache begann mir mysteriös vorzukommen. Spielte sie Komödie oder hatte sie den Verstand verloren?

Auf der Heimfahrt beobachtete ich sie. Eine der Haremsdamen warf aus einer Tüte Konfekt in die Menge, das sie von einer Tante auf der anderen Kutsche ergattert hatte. Wir saßen auf den aufgetrennten Heuballen der Kutsche aneinandergedrückt wie Vogelküken im Nest und reckten die Hälse. Nur Fräulein Rachel schwieg und hatte das Gesicht mit einem grübelnden Ausdruck abgewandt. Mitten in der Heiterkeit stand sie auf und bat den Kutscher anzuhalten, da sie aussteigen und zu Fuß gehen wollte.

Alle sahen sich an, und es schien die allgemeine Auffassung vorzuherrschen, dass sie wieder einen Versuch unternahm, sich interessant zu machen. Bestimmt gab es auch ein paar, die sie verdächtigten, auf die Begleitung durch den Architekten zu spekulieren.

Ihr wurden Vorhaltungen gemacht. Wir erklärten ihr, es sei noch über eine halbe Meile bis zum Hotel und würde dunkel werden, ehe sie das Haus erreichte. Doch keine unserer Überredungen fruchtete. Mit großer Bestimmtheit verlangte sie auszusteigen. Ein gut gemeintes Angebot von einem von uns Herren (der Architekt war es nicht) schlug sie auf eine Weise aus, die plötzlich die Vermutung aufkommen ließ, dass ihr Alleinsein zwingend notwendig war. Unter allgemeiner Verlegenheit stieg sie aus. Keiner von uns dachte daran, dass Freitagabend war, der heilige Abend der Juden, und keiner von uns wusste damals, dass ein strenggläubiger Jude mit Beginn des Sabbats nicht zu fahren wagt, um nicht gegen das Gebot zu verstoßen, auch Ochse und Esel an dem heiligen Tag ausruhen zu lassen.

Kurz darauf war sie im Abenddunst verschwunden.

Wir waren jedoch kaum einige Minuten gefahren, als ein paar beherzte Damen, die es unvertretbar fanden, von ihr wegzufahren, die Kutsche unter dem Vorwand anhielten ließen, dass auch sie sich ein wenig die Beine vertreten wollten. Eine von ihnen erzählte mir später, sie hätten sie in Tränen aufgelöst am Wegesrand gefunden. Sie habe sich ihnen in einem Anflug von Verzweiflung um den Hals geworfen, sei jedoch erst nach und nach mit dem Grund herausgerückt, weshalb sie von der Kutsche abgestiegen war.

Ich selbst sah sie nicht mehr. Den ganzen folgenden Tag hielt sie sich in ihrem Zimmer auf, und sehr früh am nächsten Morgen reiste sie ab, ohne sich zu verabschieden, außer von den zwei Damen, die sich ihrer angenommen hatten.

Auch später begegnete ich ihr nie wieder, weiß über ihr späteres Schicksal eigentlich nur, dass sie unter traurigen Umständen jung und unverheiratet starb. Das Leben war ihr zu schwer geworden in der Abgeschiedenheit, in die sie hineingeboren worden war oder die sie in israelitischer Treue gegenüber ihrem Zuhause heldenhaft gewählt hatte, und die ihr der Unverstand und die Vorurteile ihrer Mitmenschen nie leicht gemacht hatten. 2

 
[1] Eine dänische Meile sind rund 7,5 Kilometer. tilbage
[2] Das junge Mädchen in Præstens Datter (Die Tochter des Priesters) ist zweifellos Rebekka Wreschner nachempfunden worden, geboren am 27. Mai 1865 in Randers und am 4. April 1891 ebendort gestorben. Dem Verzeichnis der mosaischen Gemeinde in Randers zufolge war sie die Tochter des Religionsgelehrten Doktor phil. Meyer Abraham Wreschner und seiner Frau Betty, geb. Oppenheim. Auf dieser Website finden Sie mehr über Rebekka Wreschner im Eintrag über die Gedichte von Amalie Louise Bruhn (dän.). tilbage