Die Tochter des Rabbiners

In einer unserer ostjütischen Handelsstädte gab es eine kleine jüdische Gemeinde, deren Familien einst aus Polen über Deutschland eingewandert waren. Es waren strenggläubige Leute, über deren religiöse Bräuche und fremdartige Lebensweise unter den Bürgern der Stadt viele sonderbare Gerüchte im Umlauf waren. Besonders das Laubhüttenfest im Herbst erregte viel Munterkeit, wenn jede Familie eine Ecke im Hinterhof mit abgeschlagenen Zweigen überwölbte und dort Andacht hielt, um der vierzigjährigen Wüstenwanderung der Ahnen und dem Leben in Zelten zu gedenken. Die meisten von ihnen waren Einzelhändler und Kleinfabrikanten, die ein ruhiges Leben ohne Kontakt zur christlichen Umwelt führten, es sei denn, die Geschäfte und der Schulbesuch der Kinder verlangten dies.

Jeden Freitagabend begaben sich die Familien mit großen Gebetsbüchern unter dem Arm zur Synagoge; ansonsten sah man sie kaum. Während die übrigen Bürger den Abend in der Regel im Klub oder in der Handwerkskammer verbrachten, wo sie im Tabakrauch und bei warmen Toddy an Spieltischen die Zeit totschlugen, hielten sich diese dunkeläugigen Fremden zu Hause auf und widmeten sich mit ihrer scheuen Frömmigkeit dem mausartigen Leben in einem Bau, in dessen Brutwärme und orientalisch-duftender Atmosphäre zahlreiche Kinder schlüpften.

Über den Rabbiner der Gemeinde sagte man, er sei ein sehr kenntnisreicher Mann; er hatte in Deutschland studiert und dort seinen Doktortitel erworben. Die anderen Geistlichen der Stadt – auch der katholische – hielten sich dennoch von ihm fern. Obwohl sie begeisterte Prediger waren, die eine große Treue zu Luthers Katechismus oder dem Papst in Rom verlangten, nahmen sie gerade an seiner Strenggläubigkeit und seinem entschlossenen Festhalten am Gesetz Mose Anstoß; dies beeinflusste auch die Sicht der Bürger auf den Mann. Dazu kam noch seine Armut. Die Gemeinde war klein; kaum eines ihrer Mitglieder konnte für die Synagoge und den Geistlichen viel spenden, der hauptsächlich durch Gaben von wohlhabenden Gläubigen aus Kopenhagen und anderen Orten unterhalten wurde.

Die Buben der Stadt fürchteten sich vor dem "Judenpriester" aufgrund der mysteriösen Zeremonie der Beschneidung und der blutigen Schächtung, der er angeblich ebenfalls vorstand. Sie hörten, wie sich die Erwachsenen darüber empörten, dass in einem christlichen Land solch ein heidnischer Brauch immer noch erlaubt sei. Dies sei doch in Wahrheit Götzenanbetung, hieß es, und daher wunderte es niemanden, dass nur wenige den graubärtigen kleinen Mann grüßten, wenn er sich auf der Straße zeigte.

Von den vielen Kindern des Rabbiners war Rachel die älteste. Als Kind hatte sie in der Stadt Aufmerksamkeit erregt, da sie eine große Schönheit zu werden schien. Doch ihr Heranwachsen enttäuschte. Sie blieb weiterhin klein und zierlich. Noch als Zwanzigjährige machte sie einen unscheinbaren Eindruck. Sie hatte hübsche, dunkelgoldene Augen, doch ihr Gesicht war blutleer und von Sommersprossen verunstaltet. Obwohl ihre körperliche Entwicklung früh ins Stocken geraten war, hatte sie sich im Gegenzug durch die Unterweisung ihres gelehrten Vaters eine geistige Reife und ein Wissen angeeignet, die ihrem Alter weit voraus waren. Während andere gleichaltrige Mädchen ihre jugendlichen Reize in Ballsälen oder auf Fahrradtouren hin und her bewegten, saß sie in ihrer Kammer mit Blick auf ein dunkles Gässchen, oder sie hockte zwischen den hohen Regalen ihres Vaters und vertiefte sich in Lessing, Goethe und andere Größen der Weltliteratur.

Doch glücklich machte sie dies umfangreiche Wissen nicht. Trotz ihrer all ihrer Liebe für das Zuhause, ihrer großen Zuneigung, besonders für den Vater, dem sie wie die anderen Gemeindemitglieder ehrfurchtsvoll die Hand küsste, war ihr Gemüt aufgewühlt und gequält. Ihr zurückhaltendes und folgsames Wesen barg eine Seele, die nach Licht und Glück dürstete und immerzu auf einen Sonnenstrahl hoffte. Allerdings wusste sie nur allzu gut, dass sie nicht hübsch war. Manchen Abend, wenn sie ihr sommersprossiges Gesicht lange im Spiegel studiert hatte, schluchzte sie sich in den Schlaf, den Kopf verschämt im Kissen vergraben.

Nun war sie einundzwanzig geworden. Der Sommer stand vor der Tür; und da geschah in der schmalen Gasse, in der sie lebten, wahrhaftig ein Wunder. Eines Tages brachte die Post ihr einen versiegelten Brief mit einer größeren Geldsumme von einer deutschen Verwandten, einer begüterten Tante aus Breslau, die kürzlich zu Besuch gewesen war. Die Tante schrieb, sie schicke dieses Geld für eine Sommerfreude, weil sich Rachel gewiss danach sehne, ein wenig mit den Flügeln zu schlagen.

Nicht nur Rachel war hellauf begeistert. Auch die Mutter und die vielen großen und kleinen Geschwister jubelten beim Anblick des großen Geldscheins. Niemand in der ganzen Geschwisterschar empfand Neid. Rachel war schließlich die Älteste, und alle hatten sie gern, wie eine zweite Mutter. Und das war sie auch. Sie hatte sich um alles kümmern müssen, wenn die Mutter wieder einmal im Wochenbett lag, war immer hilfsbereit und verständnisvoll, machte mit den Größeren Hausaufgaben, half den Kleinen beim Anziehen, stopfte und flickte bis spät in den Abend.

Der Rabbiner war der Einzige, der bei all der Freude etwas nachdenklich umherlief. Und seine Unruhe wuchs, als sich Rachel entschloss, das Geschenk der Tante für einen vierwöchigen Aufenthalt in einem der großen, mondänen Seebäder an der Westküste zu verwenden. Er hatte volles Vertrauen zu seiner Tochter; doch er fragte sich – und später auch sie – ob sie auch wirklich all die Schwierigkeiten bedacht hatte, in die sie als strenggläubige Jüdin an solch einem Ort geraten konnte. Ihre Antwort beruhigte ihn. Doch dann beobachtete er mit Sorge die geschäftigen Reisevorbereitungen, die vielen Einkäufe: hauchdünne Sommerkleider, zwei neue Hüte, ein Bademantel, weiße Strandschuhe und viele andere Dinge. Schließlich gestand er seiner Frau sei Missfallen. Aber Frau Lea erklärte, dass ihre Tochter wie andere junge Mädchen aussehen müsse, wenn sie sich der großen weiten Welt präsentieren wolle. Dies sei gewiss auch die Absicht der Tante gewesen, da sie so reichlich gegeben habe.

Am großen Tag der Abreise begleitete sie die ganze Familie zum Bahnhof, selbst der Kleinste, den die Mutter auf dem Arm hielt. Auch der Vater kam mit. Das war ein Aufzug, der überall in den Straßen die Leute an die Fenster lockte. Auf der Fahrbahn liefen die zwei größten Jungen mit Rachels Koffer in ihrer Mitte, während die kleineren Kinder auf dem Gehweg darum stritten, wer ihre Handtasche, ihren neuen Sonnenschirm und andere Kleinigkeiten tragen durfte. Zum Abschied winkte sie ihnen vom Fenster des Abteils zu, und als sich der Zug in Bewegung setzte, folgte ihr die ganze Schar winkend bis zum äußersten Ende des Bahnsteigs, wo sie zur Belustigung des Bahnhofspersonals stehen blieben – neun an der Zahl – und sich mit Taschentüchern, Mützen und Regenschirmen verabschiedeten, solange noch ein Schimmer von ihr zu sehen war.

Auf einer großen Wiese hinter den Dünen lagen ein Sommerhotel und ein paar Pensionen, und in einer der hinteren hatte sich Rachel ein Zimmer gesichert. Sie kam dort erst gegen Abend an, nachdem die anderen Gäste gegessen hatten und wieder zum Strand gegangen waren, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Den kompletten nächsten Vormittag war sie mit Auspacken beschäftigt. Jedes Mal, wenn sie draußen Stimmen hörte, lief sie zum Fenster, doch sie wagte sich bis zur Mittagszeit noch nicht hinaus. Auch ihre Mutter hatte ihr geraten, sich erst ein wenig zu orientieren, was die Damen zu den verschiedenen Tageszeiten anhätten. Doch die hohen Dünen verdeckten den Strand mit seinem emsigen Badeleben, über das sie so viel gehört hatte. Alles, was sie bislang von diesem Märchenland gesehen hatte, war die große Wiese, auf der ein paar halbwüchsige Mädchen Krocket spielten.

Da ertönte der Gong zum Mittagessen. Ihr wurde vor Nervosität schwarz vor Augen, als sie vor dem Spiegel stand und mit dem Zeigefinger ihre Locken an den Schläfen ein letztes Mal einrollte.

An dem langen Esstisch saßen bereits zwanzig, dreißig Gäste, bereit, sich beim ersten Signal über die kalten Platten herzumachen. Ihr wurde ein Platz zugewiesen, doch die Runde war einstweilig allein damit beschäftigt, nach dem Inhalt der Platten Ausschau zu halten. Niemand achtete auf sie, nur einer ihrer Tischnachbarn, ein junger Herr mit Brille, verneigte sich höflich und stellte sich als Kandidat soundso vor.

Der Tisch strotzte von Essen. Es war in den guten alten Zeiten vor dem alles verzehrenden Weltkrieg, als man sich für ein paar Kronen am Tag der Schlemmerei hingeben konnte. Es gab riesige Braten, Platten mit roten Hummern, andere mit knusprigen Hähnchen. Ebenso Eiergerichte, köstliche Salate und Marmeladen – eine Fülle von der Fettigkeit der Erde und des Meeres. Mitten auf dem Tisch thronte ein mächtiger Schinken mit einer Papiermanschette, verziert mit Silberblumen.

Nachdem der schlimmste Hunger gestillt worden war, entdeckte man den neuen Gast und nahm ihn in Augenschein. Ein älterer Herr, der auf der anderen Seite des Tisches seinen Platz hatte, ließ hinter der Serviette eine Bemerkung über ihre Abstammung fallen. Rachel wurde nun insgesamt Gegenstand allgemeiner Musterung, und dabei entging es auch nicht der Aufmerksamkeit, dass sie das Essen nicht angerührt, sondern sich nur zum Schein etwas auf den Teller gelegt hatte. Ihre direkten Tischnachbarn brachten sie mit wohlgemeinten Fragen, die sie mit einem schüchternen Lächeln beantwortete, ständig in Verlegenheit. Der junge, höfliche Kandidat zu ihrer Rechten bot an, ihr einen kräftigen Schnaps als Aperitif zu mischen, und überall am Tisch wurde über das beklagenswerte kleine Geschöpf getuschelt, das sich neben ihrer Abstammung und ihrem unglücklichen Äußeren offenbar auch mit einem schwachen Magen herumplagte. Während des gesamten Essens nahm sie nichts außer ein paar Scheiben trockenes Weißbrot und ein wenig Marmelade zu sich.

Doch Rachel war auf all das vorbereitet gewesen. Sie hatte sich gesagt, dass sie dieses Fegefeuer durchmachen müsse. Auch ihre Mutter hatte empfohlen, so zu tun, als wäre nichts, dann würden die Leute das schließlich auch tun. Im Übrigen befolgte sie allein wegen ihres Vaters das Verbot des jüdischen Gesetzes, fremde Speisen anzurühren. Dass sie sich nur aus Gehorsam und Ehrfurcht ihrem Vater gegenüber zum jüdischen Glauben bekannte, war das schlimmste Geheimnis ihres Lebens, von dem nicht einmal ihre Mutter wusste. Obendrein hatte sie unter den Tischgenossen ein älteres Ehepaar entdeckt, das sie vom Sehen her von zu Hause kannte. Sie bemerkte, wie die beiden sie die ganze Zeit wachsam im Auge behielten; und sie konnte sich ausmalen, welche Unannehmlichkeit es in der Gemeinde hervorrufen würde, wenn glaubhaft berichtet werden könnte, dass des Rabbiners eigene Tochter die Speiseregeln nicht befolgte, sobald sie sich unter Christen aufhielt. Dies könnte den Vater gar seine Stellung kosten.

Dieses alte Ehepaar klärte die anderen Kostgänger hinterher über die Bewandtnis von Rachels Enthaltsamkeit gegenüber den Tafelfreuden auf, und da sich das bei allen weiteren Mahlzeiten wiederholte, wurde "die kleine Rabbinertochter" überall im Seebad rasch zum allgemeinen Gesprächsstoff. Die Angelegenheit wurde besonders bei den vielen Kaffeekränzchen der älteren Damen ausgiebig erörtert. Die meisten fanden, dass sich die junge Dame unter solchen Umständen hätte fernhalten sollen, jedenfalls dürfe sie nicht mit am Tisch sitzen. Es sei unschicklich, sich durch die vielen sonderbaren Vorschriften dieser Religion derart zur Schau zu stellen, anstatt während der Mahlzeiten unauffällig im Zimmer zu bleiben. Doch bekanntermaßen fehle es den Juden in bedauerlicher Weise an Feingefühl.

Gewiss bemerkte Rachel nicht ganz ohne ein leicht prickelndes Wohlbefinden, dass sie zum Gegenstand von derart viel Aufmerksamkeit geworden war. Doch auch diese Frage hatten sie und ihre Mutter im Vorhinein bedacht, und sie waren sich einig gewesen, dass sie sich nicht in ihrem Zimmer wie in einer Büßerecke verkriechen sollte, während die anderen aßen. Denn gerade bei den Mahlzeiten ereignete sich das meiste. Hier wurden Bekanntschaften geschlossen und Ausflüge vereinbart. Ihr liebenswürdiger Tischnachbar, der Kandidat, hatte ihr bereits einige Herren vorgestellt, und beim abendlichen Tanz wurde sie sogar ein paar Mal aufgefordert.

Am meisten interessierte die Leute jedoch die Frage, was das seltsame junge Ding eigentlich zu Essen bekam. Sie konnte schließlich nicht von Luft leben. Einige der Neugierigsten erkundigten sich schließlich in der Küche und erfuhren, dass für sie mit der Post jeden zweiten Tag ein fest versiegeltes Wachstuchpäckchen mit Lebensmitteln eintraf, die sie in ihrem Zimmer, in dem sie auch ihre eigenen Teller und Kochtöpfe aufbewahrte, auf einem Spirituskocher zubereitete. Als ein dickbäuchiger Grossist aus Kopenhagen, der im Badehotel wohnte, am Frühstückstisch diese Geschichte hörte, brach er in Gelächter aus. "Unglaublich!", sagte er. Er war selbst durch und durch Jude, lockig wie ein Schwarzer, jedoch ein unvoreingenommener Mann, der sich bei Tisch ohne Skrupel am guten dänischen Schweinefleisch bediente.

Manche aber betrachteten das junge Mädchen mit Sympathie, gerade aufgrund der Schwierigkeiten, die ihr die Treue gegenüber der altehrwürdigen Religion bereitete. Dazu zählte auch ihr freundlicher Nachbar bei Tisch, der Kandidat, mit dem sie rasch einen kameradschaftlichen Umgang pflegte. Sie gingen gemeinsam spazieren und führten stundenlange, tiefsinnige Gespräche, bei denen Rachel Gelegenheit erhielt, durch ihre große Belesenheit und geistige Reife Ansehen zu erlangen. Erstaunt hörte er, wie sie sich zu den großen Themen äußerte, und seine aufrichtige Bewunderung bereiteten ihr Genugtuung für die Kränkungen, die ihr von anderer Seite widerfuhren, vor denen sie aber stolz und weise die Augen verschloss. Auf Dauer konnte diese Art der Unterhaltung sie jedoch nicht zufriedenstellen, denn sie entsprach nicht den großen Erwartungen, mit denen Rachel hierhergekommen war. Wie sehr sie es auch schätzte, mit ihrem Wissen zu brillieren und z. B. über die Entwicklung des Fauststoffs im Laufe der Jahrhunderte zu diskutieren, so war sie doch nicht dieser Art Triumph wegen von zu Haus aufgebrochen. Der Kandidat war mit all seiner Liebenswürdigkeit überhaupt nicht der Mann, der ein nach Glück dürstendes Herz eines jungen Mädchens zu entflammen vermochte. Es gab indes einen anderen Herrn im Seebad, der das vermochte, und daher fiel ihr der Kandidat allmählich zur Last.

Unter den Gästen aus Kopenhagen, die in der benachbarten Pension logierten, befand sich ein Kunstmaler, ein hübscher, blonder, leicht korpulenter junger Mann, der auch Sänger und Gitarrenspieler war. Er war diesen Sommer der Pascha des Seebads. Jede Düne, auf der er seine Staffelei aufstellte, wurde rasch zu einem Wallfahrtsort für die vielen Müßiggänger der Kolonie. Junge Mädchen ließen sich nach dem Baden neben ihm im Sand nieder. Dort konnten sie stundenlang wie ein schwatzender und lachender Harem sitzen. Rachel hatte vom ersten Tag an den brennenden Wunsch gehegt, in diese Schar aufgenommen zu werden. Sie kreiste immer in deren Nähe, doch die jungen Haremsdamen hielten sie auf Abstand. Wenn sie Rachel kommen sahen, drehten sie ihr den Rücken zu, und jedes Mal, wenn sie eine Gelegenheit zur Annäherung versuchte, ekelten die anderen sie fort.

Da versammelten sich eines Tages alle Gäste des Seebads am Strand, um den Übungen der Rettungsmannschaft zuzuschauen. Es blies kräftig, daher hatte Rachel ihren Hut gegen einen dieser "Strandschals" eingetauscht, die damals überall in den Seebädern des Landes in Mode waren. Seeluft und Sonne hatten ihrem weißen Gesicht bereits Farbe verliehen und die Sommersprossen weggewischt, die bunte Kopfbedeckung, die sie im Nacken zu einer großen Schleife gebunden hatte, betonte zudem das Südländische ihres Aussehens auf vorteilhafte Weise. Sie wirkte beinahe wie eine kecke kleine Zigeunerin. Bald schon fiel sie dem Kunstmaler unter all den Menschen auf. Zur offenkundigen Empörung seines Damengefolges näherte er sich ihr ohne Umschweife und stellte sich vor. Dies führte zu einem längeren Gespräch, bei dem er sie schließlich recht verwirrte, als er um Erlaubnis bat, bei Gelegenheit ein Porträt von ihr zu malen. Sie wusste, dass er trotz seiner Jugend einen angesehenen Namen als Künstler hatte und sogar schon Mitglieder der königlichen Familie porträtiert hatte.

Am Abend wollte sie in ihrem Zimmer eilig nach Hause schreiben und von der großen Ehre berichten, die ihr zuteilgeworden war. Doch als sie den Stift in der Hand hielt, dachte sie daran, dass das ihrem Vater vielleicht nicht gefiele. Auch die Mutter könnte womöglich Bedenken haben. Sie hatte oft gehört, wie die Mutter Künstler als ruchloses Volk bezeichnete, denen nicht zu trauen sei und die die Leute immer um Geld anbettelten. – Missmutig legte sie den Stift weg. Sie wollte mit dem Schreiben bis zum nächsten Tag warten. Vielleicht war es besser, die Sache den Eltern gegenüber einfach gar nicht zu erwähnen, bevor klar war, ob er sein Angebot tatsächlich ernst meinte.

Doch schon am nächsten Tag geriet sie in eine neue Schwierigkeit, über die sie ebenfalls nicht schreiben wollte. Sie und die anderen Kostgänger saßen am Frühstückstisch, als der o-beinige kleine Wirt ankam und mitteilte, dass es einen Anruf aus der benachbarten Pension gegeben habe mit der Nachfrage der dortigen Gäste, ob man in Stimmung sei, das gute Wetter für einen gemeinsamen Ausflug in den Wald zu nutzen. Tatsächlich gab es im Umkreis mehrerer Meilen jedoch nicht einen einzigen Baum, aber da er ein großer Schelm war, versicherte er, dass ein Stück landeinwärts eine Schonung mit Heide liege, in der man sich mit ein wenig gutem Willen vorstellen könne, im Schatten umherzuspazieren. Als Beförderungsmittel standen ein Char-à-bancs und zwei Erntewagen zur Verfügung, der erste für die Älteren, die letzteren für die jungen Leute. Er wollte dann noch wissen, wie viele seiner verehrten Gäste bei solch einem heiteren kleinen Nachmittagsausflug mitfahren wollten.

Der Vorschlag löste bei den jungen Leuten Begeisterung aus, und alle streckten die Hände in die Luft. Nur Rachel hatte sich nicht gerührt und behielt die Hände im Schoß.

"Möchten Sie nicht mitkommen?", fragte ihr Nachbar, der Kandidat, verwundert.

"Ich weiß nicht. Ich werde darüber nachdenken", antwortete sie mit einem verzagten Lächeln.

Es war nämlich Freitag, der mosaische heilige Abend, an dem sich kein strenggläubiger Jude unter Nichtjuden aufhalten und auch nicht in einem Gespann fahren durfte, um nicht das Gebot Moses zu verletzen, da auch Tiere am Sabbat ruhen sollten. Doch als die Wagen ungefähr eine Stunde später auf der großen Wiese vorfuhren und die Kutscher ihre Ankunft mit Peitschenknall verkündeten, war Rachel eine der ersten, die sie erwartete. Und eine der eifrigsten. In der Zwischenzeit hatte sie sich beim Wirt erkundigt und erfahren, dass der Ausflug nur drei bis vier Stunden dauern sollte. Sie konnte also damit rechnen, vor sechs Uhr zum Beginn des Sabbats zurück zu sein.

Es gelang ihr, auf dem Erntewagen mit dem Kunstmaler und seinem üblichen Damengefolge einen Platz zu bekommen. Das geschah nicht ohne Widerstand. Als sie hinaufsteigen wollte, behauptete der Harem wie aus einem Mund, dass alles besetzt sei. Doch der Pascha rief ihr zu, sie solle nur kommen. Er bereitete ihr höchstpersönlich ein Lager im Stroh, und geschmeidig wie eine Natter schlüpfte sie hinauf.

Zu guter Letzt wurde die große Gesellschaft auf die Wagen verteilt, damit man abfahren konnte. Anfänglich fuhren sie im Trab auf einer Chaussee, doch schon bald bog der Korso in einen Heideweg, auf dem sich die Pferde im Schritttempo vorwärtsmühen mussten. Die Nachmittagssonne brütete, und die Lerchen sangen. Der Char-à-bancs, den der Wirt lenkte, fuhr zuvorderst, dahinter folgten die Erntewagen mit der ausgelassenen Jugend. Am lebhaftesten ging es auf dem Wagen mit dem Maler zu. Er hatte eine Tüte köstliches Konfekt dabei und verteilte es an all jene, die – wie er sagte – am niedlichsten darum bitten würden. Jedes Mal, wenn die Tüte hervorgeholt wurde, drängten sich die Damen im Stroh um ihn herum und reckten ihre Hälse wie hungrige Küken. Rachel war wieder eine der eifrigsten, was zahllose ungnädige Bemerkungen über die aufdringliche kleine Jüdin hervorrief.

Nach anderthalb Stunden immer langsamerer Fahrt sahen sie, wie der Char-à-bancs vor ihnen anhielt und die Passagiere ausstiegen. Der Wirt drehte sich auf dem Kutschersitz um und deutete mit der Peitsche auf die Gegend. Sie verstanden nicht. Es gab anscheinend nichts anderes zu sehen als die gleiche kahle, flache Heide, die sie die ganze Zeit vor Augen gehabt hatten. Erst beim Aussteigen entdeckten sie, dass der Erdboden umgegraben und bepflanzt worden war. In tiefen Löchern erhoben sich winzig kleine Fichten, deren Spitzen kaum über den Boden ragten.

"Bitte sehr!", grinste der Wirt. "Ist das nicht ein schöner schattiger Wald?" Dieser fröhliche kleine Mann, ein ehemaliger Wollhändler, hatte sich vom Umherziehen ein lockeres Mundwerk und eine Kühnheit bewahrt, die seine Gäste gemeinhin sehr schätzten. Diesmal fand man allerdings, dass er mit seiner Narretei zu weit gegangen war. Einige der Älteren waren zutiefst beleidigt. Doch er hatte dies geahnt und in dem Kasten auf dem Wagen Trostmittel mitgebracht. Sobald die Pferde versorgt waren, wurden mehrere große Körbe hervorgeholt, darunter einer voll langhalsiger Flaschen, deren rote und grünen Öffnungen unter dem Deckel hervorlugten. Bald lagerte die ganze Gesellschaft im Heidekraut um verlockend angerichtete frische Backwaren, Marmeladen und Obst. Die Stimmung stieg. Es wurden heitere Revuelieder gesungen und Toasts ausgebracht, und einige junge Menschen trugen zum Schluss in ihrer Begeisterung den kleinen Wirt im Tragesitz herum.

Danach wurde getanzt.

Eine Mundharmonika und ein Taschenkamm bildeten das Orchester. Die jungen Mädchen flogen mit wehendem Haar von Arm zu Arm. Um ihre hellen Kleider zu schonen, hatten sie die bunten Kopftücher abgenommen und um den Leib gebunden. Auch Rachel wurde von dem lustigen Reigen mitgezogen. Die Herren wetteiferten darum, sie aufzufordern, und wenn der Kunstmaler sie mit seinen starken Armen hochhob, schloss sie vor Wonne die Augen. Ihr schien, als würde sie von einem glücklichen Traum fortgerissen.

Inzwischen waren die Schatten lang geworden. Die Zeit der hellen Abende war vorbei. Die riesige, feuerrote Herbstsonne ging im Dunst des Himmelsrands unter. Plötzlich tauchte Rachel vor dem Kandidaten auf, der nicht tanzte und sich daher unter den Zuschauern befand. Mit ängstlicher Stimme fragte sie ihn, wie spät es sei, und als sie hörte, dass es sechs Uhr war, verstummte sie und in ihren Augen machte sich ein verzweifelter Ausdruck breit. Im selben Augenblick stürzten ein paar Herren auf sie zu, um sie aufzufordern, doch sie schüttelte den Kopf und verließ den Tanzplatz.

Die Älteren in der Runde spürten nun allmählich den Seenebel. Sie wollten zurückkehren, und da wurde dem Wirt Bescheid gegeben. Nach einem wilden Kehraus, bei dem die Paare im Schein der letzten Sonnenstrahlen herumwirbelten, fuhren die Wagen vor. Es wurde die Order erteilt, die alten Plätze einzunehmen, um keine Verwirrung zu stiften, doch Rachel setzte sich heimlich hinter den Kutscher, verdeckt und allein. Während der Heimfahrt, bei der sich die anderen bei einem Pfänderspiel amüsierten, lachten und kreischten, hockte sie schweigsam da und dachte an ihre Eltern und Geschwister, die nun daheim im Halbdunkel der Synagoge mit ihren Gebetbüchern saßen – dachte besonders reumütig an ihren lieben Vater, der auf der Bima mit erhobenen Händen im Ornat stand. Die anderen im Wagen stupsten sich gegenseitig an und zuckten mit den Schultern, gaben aber ansonsten vor, sie nicht zu beachten. Ihr plötzlich verändertes Wesen fassten sie als Getue auf, ein erneuter Versuch, sich interessant zu machen. Selbst der Kunstmaler pflichtete ihnen bei, als man ihm zuflüsterte, dass sie doch eine fürchterlich affektierte Person sei.

Das hatte Rachel gehört. Zur allgemeinen Verwunderung erhob sie sich kurz darauf und bat den Kutscher anzuhalten. Ihr sei kalt geworden, sagte sie, und sie wolle das letzte Stück des Wegs laufen. Es wurden Einwände hervorgebracht. Man erklärte ihr, dass es noch eine halbe Meile sei und es dunkel werden würde, bevor sie zu Hause ankäme. Doch ohne auf sie zu hören, verlangte sie abzusteigen. Beim Anblick ihres gequälten Gesichtsausdrucks entstand ein betretenes Schweigen. Sie hatte offenbar zwingende Gründe, den Wagen zu verlassen. Bei ihr musste ein natürliches und heftiges Bedürfnis nach Einsamkeit eingetreten sein. Schleunigst wurde ihr Platz gemacht, damit sie absteigen konnte.

Der Kandidat war wie üblich der Einzige, der nichts begriff. Er wollte sie unbedingt begleiten und hing bereits mit einem seiner langen Beine über der Kutsche, als der Kunstmaler ihn mit einem Griff am Arm zurückhielt und flüsterte:

"Mensch, sind Sie verrückt! Begreifen Sie nicht, was los ist!"

Während die Haremsdamen ihr halb ersticktes Lachen vor einander zu verbergen suchten, half man Rachel aus dem Wagen, und als er sich kurz darauf wieder in Bewegung setzte, war ihre Gestalt im dichten Abenddunst verschwunden. Doch es konnte selbstverständlich nicht angehen, ein junges Mädchen allein inmitten dieser Einöde zurückzulassen. Ein paar beherzte Damen ließen den Wagen erneut unter dem Vorwand halten, dass auch sie einen Drang verspürten, sich die Beine ein wenig zu vertreten. Als sie Rachel entdeckten, saß sie auf einem Stein am Wegesrand und weinte. Sie fragten sie aus und versuchten sie zu trösten, doch sie wollte nichts sagen. Sie war in einem verzweifelten Zustand, den sie als hysterisch empfanden. Sie bat die Damen, sie allein zu lassen. Erst nach viel Überredung folgte sie ihnen.

Den ganzen nächsten Tag blieb sie auf ihrem Zimmer, und am folgenden Morgen, ganz früh, reiste sie mit der Linienkutsche ab, ohne sich von jemandem verabschiedet zu haben.