Nachruf

Und so hat dieses Jahr uns wieder einer der denkwürdigsten und berühmtesten Personen unserer Gegend beraubt. Heute um halb fünf öffnete sich die Himmelspforte für Ludvig Nicolaj Kasper Frederik Sørensen.

Der jungen Generation, die ihn nur in seiner Gebrechlichkeit zu sehen bekam, wird er als eine halb wehmütige, halb lächerliche Kuriosität in Erinnerung bleiben, aus einer Zeit und einem Leben, dessen Gefühle und Beziehungen sie nicht versteht. Doch manch älteres Herz wird diese Nachricht heute zum Klopfen bringen, und manche Gedanken werden insgeheim um jenen Mann kreisen, mit dem ein Abschnitt der heimischen Geschichte ewige Ruhe findet.

Hergekommen war er zu einer Zeit, in der man in dieser Region noch vollkommen abgeschieden von der Außenwelt lebte, ohne eine andere Verbindung an das, was außerhalb des breiten Waldgürtels im Osten und hinter dem Meer im Westen liegt, als die wöchentliche Post. Die "gute Zeit" der Bauern hatte eben begonnen, der Wohlstand strömte förmlich herein, und ein verschwenderischer, an vielen Stellen überschwänglicher Müßiggang war an den Platz der strengen Genügsamkeit und des unermüdlichen Arbeitseifers früherer Zeiten getreten.

Die Männer hatten ihre helle Freude an diesem Leben. Sie aßen ohne Unterlass, spielten Karten, tranken, schliefen, tranken wieder und schlugen sich. Die Frauen hingegen – vor allem die jungen – fanden sich allmählich in nahezu völliger Untätigkeit wieder, glitten während dieser müßigen, ereignislosen und gleichmäßig verrinnenden Tage immer mehr in eine Art Traumwelt, in der sie sich mit ihrem dämmernden Bedürfnis nach Zärtlichkeit und ihren erwachenden Sehnsüchten einschlossen.

Und diese Frauen waren hübsch. Die Meeresnähe, durch die die Luft immer einen gewissen Feuchtigkeitsgrad behielt, machte ihre Haut rein und zart, ihre Augen tief und leuchtend. Ihre Körper waren groß, mit den Merkmalen des Bauernstandes an den etwas burschikosen Händen und Füßen. Doch die Jahre hatten ihre von der Arbeit gekrümmten Rücken geradegerichtet und eine gesunde, weiß schwellende Fülle auf ihre schlanken Glieder gelegt.

Am hübschesten waren sie, wenn sie lächelten; denn sie alle hatten kräftige, leuchtende Zähne und volle Lippen. Doch ihr Lächeln war sehnsüchtig, wehmütig. Und wenn sie an ihren Spinnrädern oder Klöppelkissen saßen und nachdenklich über den Wald oder aufs Meer sahen, konnte sich ein Glühen auf ihre Wangen legen und ein Schwung in ihren Blick, der sie weit weg führte von der lärmenden Zecherei der Männer und ihren brutalen Zärtlichkeiten.

Ahnte er das?

War es überhaupt eine wohlberechnete Spekulation in diesem Sinn, die den jungen Frauenverehrer damals aus den immer gewagteren Unternehmungen und der größeren Konkurrenz der Provinzstadt herausführte?

Man weiß es nicht. Das Erstaunen aber war groß unter diesen Leuten, als er sich vor dreißig Jahren – unbekannt und ohne Vorwarnung – mit seinem kombinierten "Krämer- und Spezereienladen"1 in ihrer Mitte etablierte, und am größten bei den jungen, weiblichen, denn er offenbarte sich als jung, lebhaft und außergewöhnlich attraktiv, etwas kurz geraten vielleicht, aber mit wundervollem, verspieltem Blick und hellbraunen Locken, dazu in der elegantesten und allerneusten Stadtmode gekleidet, mit weißem Leinenmantel und bestickten Pantoffeln, wenn er einkaufen ging, aber mit Seidenhut, Schilfrohrstock und Lackschuhen an allen Feiertagen.

Nach und nach erwachten sie alle – sowohl die jungen Mädchen als auch die reifen Frauen, sogar die überreifen.

Ob er vor seiner Haustür stand und sich mit seinem leisen, fast verschämten Lächeln galant verbeugte, wenn man ihn auf der Straße passierte; oder ob er in einen Festsaal eintrat, den Hut in der einen Hand, die zusammengelegten Handschuhe in der anderen; oder ob er schließlich beim Tanz seinen Arm so sanft und einschmeichelnd auf die Taille seiner Dame legte und mit ihr über das Parkett zu schweben schien – stets lag in seiner anständigen Haltung, seinem ritterlichen Benehmen, im Duft seines Haars und im Klang seiner Stimme gewissermaßen ein Hauch eben dieser reicheren, schöneren und glücklicheren Welt, um die ihre Träume kreisten.

Er war nicht wie die anderen Männer, die bei einem Krug Bier und einem Kartenspiel schrien und fluchten. Sein Mund stank nicht nach Kautabak und schäumte nicht über vor geschmacklosen und unzüchtigen Worten.

An stillen Sommerabenden ertönte seine schöne Stimme aus dem kleinen Zimmer hinter dem Laden, wo er zur Gitarre klagende und liebliche Lieder über Liebe und Verliebtheit sang. In Mondscheinnächten schwärmte er an seinem Fenster. Und in seinen großen, braunen, feurigen Augen brannte eine heiße und verzehrende Leidenschaft.

Doch jeder Frau näherte er sich mit einer fast rührenden Ehrfurcht. Er beobachtete sie aus der Ferne wie mit glückseliger Verehrung. Er konnte seinen Blick so flehentlich heben und ihn so verzagt senken. An einsamen Orten aber wagte er es bisweilen plötzlich, ihre Hand zu ergreifen und an sein Herz zu ziehen; und dann fiel er auf die Knie und seufzte und stöhnte, bis er, wie ein eigenwilliges Kind, seinen hübschen Lockenkopf in den bebenden Jungfrauenschoß legen durfte.

Er erntete reich. – Eigentlich darf man das nicht sagen; denn damals drang von diesem geheimnisvollen Geflüster nie etwas nach außen. Erst lange Zeit später, durch die vertraulichsten Geständnisse zwischen Mann und Frau hindurch, als Krankheit, Angst oder Reue einigen den Mund geöffnet hatten, hat man hier und da einen Einblick in die weitreichende Gunst bekommen, die er genossen haben muss; denn es ist wohl kaum zu viel gesagt, dass es zwischen Wald und Meer nicht allzu viele Höfe gibt, auf denen sich nicht zur einen oder anderen nächtlichen Stunde eine Tür für ihn geöffnet hat.

Anfangs hat ihn sein außerordentlicher Erfolg sicherlich selbst verwundert. Er muss das Gefühl gehabt haben, als könnte sein bloßer Blick ihm Zugang zu aller Herrlichkeit und allem Glück auf Erden gewähren. Und Jahr für Jahr wuchs der Zauber noch, breitete sich zusammen mit seinem Ruf bis weit über die Gemeindegrenze aus.

Und wie um seinen Triumph zu vollenden, begannen die jungen Kerle im Umkreis nach und nach, seinem Vorbild zu folgen. Seine Haltung, sein Gang, die Art, wie er sein Haar trug oder sich im Walzer gebärdete, seine Krawatten – alles wurde zum Gegenstand ihres bewundernden Nacheiferns. Und noch zwanzig Jahre später, in seinem 45. Lebensjahr, stand er für alle Jugendlichen als unberührtes und unerreichtes Beispiel da, der beneidete Held aller Feste und Zusammenkünfte, sogar für die Siebzehnjährigen Objekt der Verehrung.

Doch das Glück ist unbeständig. Früher oder später – es kommt immer der Tag, an dem irgendein Zufall einem plötzlich die Binde von den Augen reißt und man sich vor Scham abwendet von der Stirn, die man gekränzt hat, dem Mund, den man geküsst hat, dem Gott, den man verehrt hat. Neue Zeiten, neue Moden, neue Männer – und der Gott liegt verhöhnt im Schutt.

Auch dieser Fall bildete keine Ausnahme.

Eines Tages sahen sie die Falten unter seinen Augen, dann die Flecken auf seinem Mantel. Und im Zuge der viel lebendigeren Verbindung zur Umwelt, die zu dieser Zeit entstand, war er bald vollkommen lächerlich geworden in der wachsenden Kultur mit seiner zwanzig Jahre alten Mode und überholten Eleganz.

Die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens waren ein immer verbitterterer Kampf, diesen Strom aufzuhalten und seinen alten Ruhm zu bewahren – ein zunehmend hoffnungsloser Versuch, seine verblassende Glorie aufzupolieren und sich an die Lorbeeren zu klammern, die unbarmherzig in seinen Händen verwelkten.

Er sollte erfahren, dass jedes Glück in diesem Leben zehnmal mit Leid bezahlt werden muss; dass man für jedes Quäntchen Freude mit einem Herz voll Kummer büßt. Er, der noch auf dem Sterbebett nach Liebe und menschlicher Hingabe dürstete, musste feststellen, dass er einsam und verlassen war – vergessen von ausgerechnet jenen, denen er selbst die größte Glückseligkeit ihres Lebens geschenkt hatte.

Er versuchte, dagegen anzukämpfen, wollte sich wenigstens die Dornenkrone des Martyriums zu eigen machen. Doch all seine Anstrengungen waren vergebens. Überall begegnete ihm höchstens das stumme Lächeln des Mitleids.

Wie er gelitten haben muss!

Er hätte sich rächen können. Er hätte diesen Frauen ihre Schande ins Gesicht schleudern können. Doch so sehr das Leben auch seinen Widerstand geschwächt hatte; so sehr Armut, Not, Verlust und Elend auch an seinem Inneren genagt hatten – seine Ritterlichkeit bewahrte er unversehrt bis zuletzt. In bitteren Stunden war sie Trost für seinen Stolz; sie war das wertvolle Heiligtum, das ihn hoch über die Trauer und Vergänglichkeit des Erdenlebens hob; und mit ihr ging er unverzagt in den Tod.

Vor seinem Tod sah ich ihn zum letzten Mal bei Anders Christiansens großem Taufmahl an Christi Himmelfahrt2. Und der Eindruck von ihm an jenem Abend hat sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gebrannt.

Wie immer hatte er seine Position an einem unübersehbaren Platz eingenommen, genau an der Tür zwischen den zwei vordersten Zimmern, durch die stetig zahlreiche Gäste hereinströmten.

Er hatte sich in seiner üblichen Statuenhaltung aufgestellt, mit dem einen, spiegelblanken, einst so bewunderten, nun breiten, knorrigen und warzigen Stiefel ein paar Zoll vor der Spitze des anderen, die rechte Hand halb in die Brust des fettigen, eng zugeknöpften Fracks gesteckt, den Zylinder leicht und ungezwungen an die linke Hüfte gedrückt.

Die Hand, die den Hut festhielt, war verhüllt von einem gerade noch als crèmegelb zu erkennenden Glacéhandschuh. Und der Hut war das so berühmte, rötliche und abgenutzte, aber sorgfältig gebürstete "Rohr" – genannt Peter – das ihn mehr als alles andere davor bewahren wird, bei der Jugend in Vergessenheit zu geraten.

Auf dem Aufschlag seines Fracks prangte eine große, leuchtende Rose. Dahinter ließ sich ein blaugepunkteter Seidenschlips mit einer hufeisenförmigen Nadel erahnen. Und daraus – ohne die Spur irgendeines Hemds – ragte der rote, nackte, schlaffe und fleckige Vogelhals des alten Schürzenjägers. Zuoberst wurde die Figur von der großen, ölglänzenden und ölgelben Haarlocke gekrönt, die wie ein Apparat über den Ohren angebracht war.

Seine schwarze, abgetragene Hose hing weit und ausgebeult unter den kraftlosen, krummen Knien. Doch in seinem Blick lag eine Jugend, in seinem feuerroten, gezwirbelten Schnurrbart eine Keckheit, die das blaugefleckte Gesicht und die vorstehenden, blutunterlaufenen Augen erleuchtete.

Jedes Mal, wenn eine junge Frauengestalt an ihm vorbeischwebte, richtete er sich noch weiter auf, schlug kavaliersmäßig die Hacken zusammen, ließ "Peter" am ausgestreckten Arm seinen Oberschenkel hinabgleiten und schraubte seinen Hals in eine achtungsvolle Verbeugung, die das alte verführerische Lächeln geradezu aus ihm herauszog.

All seine Gelenke aber ächzten wie bei einem Automaten3; und sein Lächeln schien jenen Zauber verloren zu haben, der einst so vielen den Kopf verdreht hatte.

Sowohl die jungen Mädchen als auch die reifen Frauen, sogar die überreifen, strichen kalt an ihm vorbei – warfen ihm bloß im Vorbeigehen ein halb mitleidiges "’n Abend, Sørensen" zu, bevor sie im angrenzenden Salon verschwanden, wo ein junger, großer, blonder Seminarist aus Blaagaard4 einen immer größeren und fröhlicheren Kreis um sein priesterliches Gewand scharte.

Herr Sørensen tat jedoch, als wäre nichts geschehen. Er stellte den Fuß wieder anständig auf den Boden, schob die geschwellte Brust noch ein bisschen stolzer vor und schaute sich mit seinen großen, glasigen, halbblinden Augen herausfordernd um. Wohl aus Vergesslichkeit blieb das Lächeln noch eine Weile auf einer Gesichtshälfte, bis es schließlich wie durch irgendeine Art Flaschenzug nach unten gezogen wurde.

Heimlich aber schielte er durch die Tür zu der immer größer werdenden Gruppe vergnügter Frauen um den priesterlich gekleideten Seminaristen. Und jedes Mal, wenn munterer Lärm zu ihm drang und ihm die Triumphe des jungen Mannes verkündete, schoss ihm das Blut in den nackten, schlaffen Hals, und seine blauen Lippen zitterten.

Nach der Tafel sah ich ihn in einer Ecke des Tanzsaals. Er war vernünftig genug, nicht selbst den Versuch zu unternehmen, jemanden aufzufordern, stattdessen verharrte er in seiner üblichen Haltung mit der einen Hand auf der Brust, der anderen an der Hüfte, und blickte verächtlich auf das Geschehen, vor allem auf den jungen Blaagaard-Schüler, der sich mehr und mehr als Mann des Abends hervortat.

Auf dem Parkett herrschte große Aufregung. Die Mädchen hatten einen großen Kreis um den Seminaristen gebildet, dessen Augen mit einem roten Tuch verbunden waren, und der jetzt unter allgemeinem Jubel auf seinen langen Beinen durch den Ring stolperte. Die Aufgabe war, ein einfach entzückendes, wildes Rehkitz von einem siebzehnjährigen Mädchen zu fangen, das mal hier, mal dort sein frisches, rotbäckiges, von goldenen Locken eingerahmtes Kindergesicht mit einem "Kuckuck" zwischen den Röcken seiner Freundinnen zeigte, oder sich ab und zu vorsichtig ganz nah an seinen Rücken schlich, um dann mit einem lauten Heulen wieder hinter dem Kreis zu verschwinden.

Es wurde ein furchtbares Theater. In seinem Eifer, sie zu fangen, umklammerte er einen nach dem anderen in diesem Ring aus blühenden Mädchenkörpern, die miteinander verflochten waren wie ein Kranz aus Jugend und Gesundheit und lachend um ihn herumsprangen. Die Siebzehnjährige war sowohl schlau als auch schnell zu Fuß. Mit "miez miez", leuchtenden Augen und unaufhörlichem Lachen tauchte sie über Schultern auf und schlüpfte unter Armen hindurch – bis sie schließlich in einer unerwarteten Wendung direkt auf ihn zu rannte. Und mit errötenden Wangen und wogendem Busen sank sie in seine Umarmung, um seine Belohnung zu empfangen – einen Kuss.

Während dieses Spiels fiel mein Blick zufällig ein paar Mal auf Sørensen, und nun bemerkte ich, dass er sehr blass war. Seine Haltung war unverändert, aber ich glaubte, den Boden unter ihm zittern zu spüren.

Als er mich erblickte, schritt er jedoch würdevoll – etwas wackelig, denn er hatte bei Tisch jede Menge getrunken – zu mir herüber und blieb dann stehen, den Kopf leicht in den Nacken gelegt.

– Was sagt man dazu, Herr Justesen?

– Wozu?

– Haben Sie schon einmal einen echten Kavalier gesehen, der die Hand seiner Dame beim Tanzen vor dem Bauch hält? Das muss schick aussehen, elegant, verstehen Sie … Herrgott! Die jungen Leute müssen sich nun einmal immer neue Sachen ausdenken. Aber du lieber Himmel, was für ein Tanz! … Ich weiß nicht, Herr Justesen, ob Sie hier in der Gesellschaft einen jungen Seminarschüler bemerkt haben? – Hmm. – Ich würde ja bei Gott zehn Kronen dafür geben, wenn er aufhören würde, seine Füßchen wie einen Korkenzieher herumzuschleudern … Naja, die Jugend! – Die Jugend! … Nicht wahr?

Er redete mit einem überlegenen Lächeln und schüttelte oft den Kopf, doch er konnte weder das Blut aufhalten, das ihm schon wieder in den Kopf stieg, noch das Zittern in seiner Stimme verbergen.

– Das war aber auch ein netter Toast von diesem jungen Kerl – der eben am Tisch, oder? Um Himmels Willen – was für ein Quatsch! – Reiner Humbug! – Dorfschulgewäsch! – Völliger Wirrwarr! – Papperlapapp! – Ja, man muss sich viel anhören, Herr Justesen – und dann auch noch in Versen! Ha, ha! – Wissen Sie, wie man ihn nennen könnte? Einen – einen – einen Gewehrsmann, so nenne ich ihn! 5 Ha, ha, ha! Nicht wahr? …

Vermutlich wusste ich nicht so wirklich, wie ich darauf antworten sollte, und war deshalb unvorsichtig genug, ihm vorzuschlagen, dass er doch selbst die Versammlung mit einem Toast erheitern sollte – etwas, für das er ja seinerzeit so viele Lorbeeren geerntet hatte. Ich bereute es, sobald es meinen Mund verlassen hatte. Und ich spürte, wie er misstrauisch seinen Blick auf mich heftete, als er sich langsam zurückzog.

Dennoch müssen meine Worte wie ein Feuer in sein Herz gedrungen sein. Kurz darauf sah ich ihn nämlich unruhig an der Wand des Saals auf- und abgehen, und zu meinem Entsetzen steuerte er schließlich die Punschtheke in der Ecke an und griff nach einem Glas.

Erst füllte – und leerte – er es dreimal auf der Stelle. Beim vierten Mal drehte er sich fest entschlossen um, ging würdevoll mit vier langen Schritten in die Mitte des Saals, hielt die Musik mit einer theatralischen Handbewegung an und klopfte mit einem Fingernagel drei kleine, feierliche Schläge an sein Glas.

Es folgte große Bestürzung. Gütiger Gott! Wollte er etwa sprechen? Man scharte sich um ihn, und sogar aus den anderen Räumen kam man gelaufen, um zu sehen, was im Gange war.

Er ließ sich Zeit. Es war, als glühten seine halb erloschenen Augen erneut auf, da er sich nun wieder im Mittelpunkt aller Aufmerksamkeit und Verwunderung wähnte. Er warf den Kopf zurück und sah sich um, als wollte er noch einmal mit letzter Kraft die Anerkennung und Ehrfurcht dieser Leute einfordern, die er sein Eigen genannt hatte. Er strich sich mit seiner zitternden Hand über die warme Stirn, blickte in sein Glas, dann hoch zur Decke – und fing schließlich an.

Doch unglücklicherweise überkam ihn in diesem Augenblick ein übler Schluckauf; und weil der Seminarist so geistreich war, sofort "Hört!" zu rufen, brach die ganze Versammlung in schallendes Gelächter aus.

Damit war das Eis gebrochen, und fortan fand das Gejohle einfach kein Ende mehr. Jedes Mal, wenn sie Sørensen ansahen, fingen sie wieder an. Denn er hatte seine großen Glasaugen starr und unbeweglich auf den Schuldigen gerichtet – so starr und so unbeweglich, dass sein ganzer Körper dadurch einen fast versteinerten Ausdruck bekam. Er verzog keinerlei Miene, sein Gesicht wurde nach und nach leichenblau. Und während Jubel und Gelächter um ihn herum wuchsen, blieb er einfach so stehen – eine, zwei, vielleicht mehrere Minuten lang.

Am Ende sah es ganz unheimlich aus. Schließlich fielen erst das Glas, dann "Peter" aus seinen Händen, woraufhin die einst so schöne und bewunderte Statue in die Arme eines beherzten jungen Mannes sank, der erst im letzten Augenblick begriffen hatte, was vor sich ging.

Er war "getroffen" worden – von irgendetwas. Tagelang lag er teilnahmslos da und stand nicht mehr auf. Während wir anderen den Winter6 mit Festen und Feiern wegtanzten, -spielten und -tranken, entschwand er leise in der kleinen, dunklen, stickigen Kammer hinter dem Laden, die einst Zeugin so großer heimlicher Freude und Glücksmomente gewesen war – einsam, verlassen, vergessen.

Ich hatte – ehrlich gesagt – selbst auch nicht viel an ihn gedacht und war deshalb recht verwundert, als die einäugige Kirsten Skræders, die ihn in seinem Siechtum pflegte, eines Nachmittags keuchend in den Garten kam, wo ich meine Kartoffeln anhäufelte7, und sagte, ich müsse schnell zum Kaufmann kommen; er liege im Sterben und wolle wohl etwas sagen, aber sie könne ihn nicht verstehen.

Ich bat sie, gleich zu ihm zurückzugehen, während ich von drinnen Essig und eine Flasche Hoffmannstropfen holte, die ich in meinem Bestand wusste. Zur Sicherheit nahm ich auch Stift und Papier mit und machte mich rasch auf den Weg. Doch in der Tür kam mir Kirsten Skræders schon entgegen und sagte:

– Jetzt ist er tot.

Ich nickte stumm und folgte ihr hinein.

Obwohl es mitten am Nachmittag war, fiel das Licht nur sehr sparsam durch das kleine, staubbedeckte Fenster, das sonderbar hoch und an eine Ecke gezwängt war, sammelte sich jedoch hell über dem Bett, das an der gegenüberliegenden Wand stand. Diese war von oben bis unten zugeklebt mit grellen und vergilbten Bildern von halbnackten Damen zu Pferd, Seiltänzerinnen und Riesinnen. Ansonsten standen in der Stube nur ein Schrank, ein paar Stühle und ein Spiegel in einem vormals vergoldeten Rahmen. Das Bett bestand aus ungestrichenem Holz und war mit Stroh unterlegt; und dort lag er auf schmutzigen Laken, die eine, von vielen unechten Ringen geschmückte Marmorhand auf der Decke. Unter seinem Kopf war ein großer, fettiger Fleck von der Perücke, die ihm nun schließlich doch abgenommen worden war.

Davon abgesehen war in seinem Gesicht noch nicht viel Veränderung zu sehen. Er blieb das, was er eigentlich schon die letzten Jahre lang gewesen war – eine Leiche mit gezwirbeltem Schnurrbart.

(Aus Hemming Justesens Tagebuch.)

 
[1] Spezereiengeschäft: Spezereien: Gewürze; österr. Delikatessen. tilbage
[2] 1885 war Christi Himmelfahrt am 14. Mai. tilbage
[3] Automat: mechanische Puppe. tilbage
[4] Blaagaard: Blaagaard Seminarium, Hochschule für angehende Lehrer*innen im Stadtteil Nørrebro in Kopenhagen. 1859 gestiftet, mittlerweile ins University College Copenhagen integriert. tilbage
[5] Gewehrsmann: Mitglied einer der "Gewehrsverbindungen", die am 5. Mai 1885 verboten wurden, weil sie als potenzielle Aufrührer gegen die Estrup-Regierung und ihre provisorischen Gesetze angesehen wurden. Pontoppidan erzählt von der Gefangenschaft eines solchen Mitglieds in einer "Erinnerung" an das "Ende des ersten Provisoriumsjahres oder vielleicht der Anfang des zweiten" in seinem "Selbstgespräch" vom 16. April 1897 in der Politiken. tilbage
[6] Winter: Der Autor hat anscheinend übersehen, dass Sørensen an Christi Himmelfahrt "getroffen" wurde. tilbage
[7] Kartoffeln: d.h. um den 1. Juni oder später im Sommer. "Anhäufeln" bezeichnet eine Pflegemaßnahme, bei der die Stängel junger Kartoffelpflanzen mit Erde bedeckt werden, um die Bildung weiterer Knollen anzuregen. tilbage