Eine Begegnung

Erzählung von Henrik Pontoppidan

Mit Illustrationen von O.P. Balle.

Die Landstraße führte am Meer entlang, unter hohen, mit Villen bestreuten Waldhängen, die steil zum Strand abfielen. Es war ein recht früher Sommermorgen. Die Sonne war vor Kurzem über der weißen Meeresoberfläche aufgetaucht, der Strand, die Hänge, die Bäume der Landstraße – alles war noch in hellvioletten Nebel gehüllt. Die Schiffe draußen auf dem Meer glitten dahin mit rosenroten Segeln, die weißen Strandvögel tummelten sich über der Wasseroberfläche mit goldenen Flügeln.

Ich kam die Straße entlang, auf der kein anderer Mensch zu sehen war. Noch schlief man in den Fischerhütten und Strandhotels. Von den kleinen Sommervillen hoch oben auf den Hängen, die aus dem Wald hervorlugten wie Starenkästen, hörte man keinen Laut. Erst in einer Stunde oder zwei würde die Sonne hier das Leben erwecken. Dicke Herren in Nankingjacken1 und Damen in bunten Schmetterlingskleidern würden sich dann auf allen Veranden zeigen; Lachen, Tellerklappern und Klaviermusik würde aus den offenen Fenstern schallen und der Staub der Landstraße aufgewirbelt werden von Landauern, Fahrradfahrern, Brauereiwagen und mürrischen Fußgängern, die mit dem Hut im Nacken zum Bahnhof eilten, um ihre Geschäfte zu erledigen.

Von der Landstraße bog ich auf einen Pfad, der in merkwürdigen Windungen zu einer Aussichtsbank auf dem höchsten Punkt der Gegend am Waldrand führte, wo ich zu dieser Tageszeit ungestört sitzen und das Meer und seine vielen Segelboote betrachten konnte. Als ich dort ankam, sah ich zu meiner Überraschung – und zu meinem Verdruss – dass die Bank bereits besetzt war, von einer Dame, die an einem Ende Platz genommen hatte und mich von dort aus mit einem Blick ansah, der ein nicht weniger großes Erstaunen als mein eigenes, ja, fast Schrecken, offenbarte.

Ich verbarg so gut wie möglich meine Verstimmtheit, lüftete schweigend den Hut und nahm Platz am anderen Ende der Bank. Für mich gab es keinen Anlass, mich von diesem Platz verdrängen zu lassen, den ich jetzt seit über einem Monat jeden Morgen aufgesucht hatte und auf den ich meinte, deshalb einen gewissen Anspruch zu haben.

Ich nahm an, dass die Dame sich sowieso schnell entfernen würde, wenn sie sah, dass ich mich von ihr nicht stören ließ, sondern, ganz im Gegenteil, es mir bequem machte. Aber in dieser Hinsicht irrte ich mich. Mehrere Minuten verstrichen, und sie machte nicht die geringsten Anstalten, sich zu erheben. Ganz im Gegenteil … sie blieb so ruhig sitzen, so reglos, so mucksmäuschenstill, dass ich schließlich daran zu zweifeln begann, ob sie ein echter, lebendiger Mensch war und nicht eine riesige, verkleidete Puppe, die von irgendwelchen Kindern hier vergessen worden war.

Da konnte ich meine Neugierde nicht weiter beherrschen; ich ließ meinen Blick langsam zu ihr hinüber wandern.

Großer Gott – wie hübsch sie war! Ein ganz junges Mädchen, fast noch ein Kind. Ein Körper so anmutig zart, ein Gesicht so glatt wie eine Haselnuss, hellgraue Augen, blassrote Lippen, blondes seidenweiches Haar, das gelockt über die leicht blauen Schläfen fiel und im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst war. Sie trug ein helles Morgenkleid und über den Schultern ein kleines blaues Umschlagtuch; auf dem Kopf hatte sie einen weißen Strohhut mit einem langen Schleier, der am Rücken herabhing.

Als sie merkte, dass ich sie beobachtete, bildete sich ein roter Fleck auf ihrer Wange, aber sie rührte sich nicht. Wie von einer inneren, nervösen Unruhe ergriffen, saß sie gezwungen aufrecht da und drückte sich gegen die Armlehne der Bank. Die Hände mit den grauen, mit blauen Schleifen besetzten Stulpen ruhten in ihrem Schoß, die Füße hielt sie unter der Bank.

Schließlich wagte ich es, sie anzusprechen, ich konnte es nicht lassen. Ich machte eine Bemerkung über das schöne Wetter und die Vögel, die um uns herum im Wald zeterten. Sie drehte mir den Kopf zu, sah mich kurz an, und antwortete ohne Verlegenheit – anscheinend. Nach und nach kamen wir ganz ungezwungen ins Plaudern. Es stellte sich heraus, dass wir einige gemeinsame Bekannte hatten, und sie wurde immer vorbehaltloser und mitteilsamer. Schließlich brachte ich sie sogar dazu, lachend ihren Kopf abzuwenden, als ich durch Grimassen versuchte, einige Herren, die wir beide von den Straßen Kopenhagens kannten, zu imitieren.

Durch dieses Gespräch erhielt ich einige vereinzelte Auskünfte über sie. Ich erfuhr, dass sie mit ihrer Familie in einer Villa in der Nähe wohnte und mehrere Geschwister hatte. Als sie mir erzählte, dass sie sich – wie ich selbst – seit über einem Monat hier aufhielt, konnte ich meine Verwunderung nicht zurückhalten, sie nie zuvor gesehen zu haben.

"Eigentlich gehe ich mit offenen Augen durch die Welt, wage ich zu behaupten – und ich hätte Sie sicher nicht übersehen. Ich gehöre nicht zu der Sorte, die nur herumsitzt und Däumchen dreht, ich bin von morgens bis abends unterwegs – und das Fräulein wohl auch, da ich das Vergnügen habe, Sie hier zu so früher Morgenstunde zu treffen, während unsere anderen jungen Damen alle noch auf ihren grünen Ohren schlafen. Deswegen kann ich gar nicht verstehen, dass ich Ihnen noch nie zuvor begegnet bin."

Plötzlich zog sie eine ernste Miene. Sie wandte ihren Kopf ab und schien zunächst nicht antworten zu wollen.

"Ich bin am liebsten zu Hause", sagte sie – seltsam kurz angebunden.

"Wie bitte?" rief ich aus. "Das ist wirklich sehr verkehrt von Ihnen, Fräulein. In dieser Sommerzeit – und bei diesem Wetter! Das ist bestimmt auch nicht nach Vorschrift Ihres Arztes. Im Gegenteil, Sie sollten sicher von morgens bis abends an der frischen Luft sein, und es gibt hier im Badeort ja alle möglichen Gelegenheiten zur Zerstreuung. Wir haben Angelausflüge, Lawntennis, Rudersport und hunderte andere Sachen. Ach ja – die Sommerbälle im Konzertsaal! Dort habe ich Sie auch nicht gesehen, Fräulein! Wie kann das sein? Tanzen Sie nicht?"

"Nein."

Ich sah zu ihr hin. Sie hatte das Wort mit halber Stimme fast schon gestammelt.

Obwohl sie weiterhin von mir abgewandt dasaß, konnte ich sehen, dass sie blass geworden war und die vorherige nervöse Unruhe ihre Lippen zum Zittern brachte.

Sie war mir ein Rätsel. Was war das eigentlich für ein sonderbares kleines Geschöpf, auf das ich hier gestoßen war? Während unserer gesamten Begegnung hatte sie mich immer wieder aufs Neue in Erstaunen versetzt –, zuerst durch die Ungewöhnlichkeit, hier zu sitzen, einsam träumend zu dieser Tageszeit, wie eine verspätete Dryade des Waldes; danach durch die Freiheit und Frische, mit der sie mit mir gesprochen hatte – und nun erneut mit diesem plötzlichen, scheuen Schweigen.

Was mich jedoch fast am allermeisten verwunderte, war, dass meine kleine Schmeichelei ihr augenscheinlich gefallen hatte. Wie war das möglich? Ein so außergewöhnlich einnehmendes junges Mädchen musste doch andauernd Gegenstand von männlicher Galanterie sein. Sicherlich langweilten sie die Komplimente der Herren schon. Und eine Kokette war sie bestimmt nicht. Sie sperrte sich ja ein, versteckte sich wie eine angeschossene Hirschkuh im Dickicht des Waldes, während alle anderen jungen Mädchen siegessicher herumschwirrten und den jungen Männern den Kopf verdrehten mit ihrer fantastischen Sportbekleidung – sie, die die Königin von allen sein, den gesamten Badeort zwingen könnte, sich ihr bewundernd vor die Füße zu werfen.

Mich erfasste eine heftige Neugierde, das Geheimnis im Wesen dieses schönen Kindes kennenzulernen. Ich hatte mich mit meinen Fragen offenbar dem wunden Punkt ihrer Seele genähert, und um sie nicht noch mehr zu erschrecken, lenkte ich das Gespräch nun in eine andere Richtung. Ich begann erneut, über unsere gemeinsamen Bekannten zu reden, über die Kopenhagener Theater, die Schauspieler, über Bücher und Musik, und es dauerte nicht lange, bevor ich sie wieder lächeln sah.

Aber auf einmal fuhr sie zusammen. Es wurde nach ihr gerufen, von der Villa aus, in der sie wohnte.

"Thea! … Thea!", schallte es wiederholt.

Sie tat, als hätte sie es nicht gehört. Während sie sich auf die Unterlippe biss, starrte sie weiterhin auf ihre eine Hand, die sich krampfhaft an die Armlehne der Bank klammerte.

Ich verstand sie nicht und sagte deswegen ganz arglos:

"Es wird gewiss nach Ihnen gerufen, Fräulein. Thea heißen Sie also … Das ist wahrscheinlich Ihre Schwester, die nicht begreifen kann, wo Sie sich versteckt haben. Hören Sie! Jetzt ruft sie wieder! Dann muss ich wohl auf Ihre angenehme Gesellschaft verzichten."

"Thea! … Thea!", rief diesmal sowohl eine Frauen- als auch eine Herrenstimme mit einer solchen Ausdauer und Kraft, dass die Vögel um uns herum verstummten.

Aber sie rührte sich immer noch nicht. Sie war wieder sehr blass geworden, und ich konnte sehen, wie sie am ganzen Leib zitterte.

Das war mir völlig rätselhaft. Was in aller Welt sollte ich von ihr halten?

In meiner Ratlosigkeit sagte ich:

"Ich hoffe, Fräulein, dass nicht ich Schuld an Ihrer Verstimmtheit bin. Es tut mir leid, wenn ich Sie mit meiner Aufdringlichkeit verärgert habe. In dem Fall würde ich Sie bitten, mir das zu verzeihen."

Aber als sie weiterhin weder antwortete noch Anstalten machte zu gehen, obwohl die Rufe immer noch zu hören waren – und jetzt mit vielen Stimmen –, verstand ich, dass ich hier nur eines zu tun hatte, nämlich mich so schnell wie möglich zu entfernen.

Ich erhob mich, zog höflich und schweigend meinen Hut und ging weg.

Mit einem seltsamen Gefühl lief ich weiter in den Wald, um über diese merkwürdige Begegnung zu grübeln, aber nachdem ich um die hundert Schritte gegangen war, drehte ich mich um und sah das junge Mädchen den Aussichtspunkt verlassen und zur Villa hinuntergehen. Da löste sich das Rätsel: Das junge, feine Geschöpf humpelte auf einem großen Klumpfuß.

Sie hielt sich das Taschentuch vor die Augen und schien heftig zu weinen.

 
[1] Nanking: Baumwollbekleidung, meist gelb. tilbage