Pontoppidan

Als Henrik Pontoppidans grosser Roman erschien, war er das Ereignis seines Jahrgangs. Inzwischen ist eine Flut von Romanen an uns vorübergezogen, und immer noch ist "Hans im Glück" das Buch, das den stärksten und geschlossensten Eindruck von ihnen allen macht. Seit dem Niels Lyhne hat das kleine Dänemark dem übrigen Europa kein so vollgewichtiges Werk mehr gegeben. Es ist die Geschichte einer Jugend, wie Niels Lyhne, der Entwicklungsroman eines jungen Mannes unserer Tage. Es ist ein Buch "von schlechten Freidenkern", die Beschreibung nicht nur eines Individuums, sondern einer Generation, einer geistigen Strömung, wie Niels Lyhne. Aber Jacobsen ist voll lyrischer Stimmung, sein Roman das Werk eines Kranken, Leidenschaftlichen, Überempfindlichen. "Hans im Glück" ist die feste, breite Schöpfung eines Epikers. Lyrisch fein und zart, aber nie auf Kosten der Handlung. Psychologisch tief, aber nie zum Schaden der Erzählung. Sein Verfasser steckt, trotz aller Teilnahme für den Helden, mit leiser Ironie hinter dem Buch, wie der des Niels Lyhne; mit jener kaum merklichen dänischen Ironie, die sich nur auf Augenblicke durch eine überraschende 183 Wendung, eine Spitze des Gesprächs, eine scharfe Beobachtung verrät.

Es ist die Geschichte von einem struggleforlifer1, der als Mystiker endet. Von einem aus der Art geschlagenen Sidenius – sie sind ein altes Pastorengeschlecht, die Sideniusse –, der als echter Sidenius in Einsamkeit stirbt. In seinem dumpfen Kinderehrgeiz ist es Hansens höchste Vorstellung, dass er nicht das Kind seines Vaters sei, sondern ein geraubter Königssohn, ein verlorenes Zigeunerkind. Am Ende seines Lebens aber ist er der Sohn seines Vaters, und ein heimlicher Prinz und Zigeuner zugleich. "Bei all unserer dänischen Phantasterei steckt in uns allen eine grundfeste Vorliebe für das Gewohnte, Erprobte. Wie hitzig wir auch in unseren jungen Tagen dem Ausserordentlichen und Abenteuerlichen entgegenstürmen mögen, in dem Augenblick, wo das Wunderland uns wirklich seine Pforten auftut und die Königstochter uns vom Altan herabwinkt, bekommen wir Anfechtungen und sehen uns nach der Ofenecke um," heisst es einmal im Buche. Die Macht des Blutes ist das Thema dieser Lebensgeschichte. Bis zu den Dreissigern stürmt der junge Mann als Individuum rücksichtslos durch die Welt, dann packt ihn von Jahr zu Jahr mit festerem Griff der Geist des Geschlechts, die Tradition der Familie; und nur um den Vorsprung wird dereinst sein Sohn weiter und höher steigen, den er ihm in jener Zeit als Kapital angelegt hat. In L'Étape hat Paul 184 Bourget, freilich in seiner femininen Art, dies Gesetz der Generationen geahnt, die man nicht ungestraft überspringt, wenn nicht ein Bankrott herauskommen soll. Wer will, mag auch das Ende des Hans Sidenius einen Bankrott nennen: das Flüchten eines am Leben Zerbrochenen in die Öde von Moor und Heide, das Sterben des Mannes, der in dem glänzendsten Salon Kopenhagens ein und aus gegangen war, in einem elenden Fischerweiler. Zugleich der Bankrott einer Lebensanschauung: das Draufgehertum des Nichts-als-Technikers zersplittert an dem Gefüge der Welt; der nur das Gegenwärtige und noch lieber das Zukünftige als bestimmende Mächte anerkennen wollte, wird von der Macht des Vergangenen gebeugt und zerbrochen; der sein Leben mit sich selber anfangen wollte, ahnenlos, götterlos, erfährt an Wenden und Kehren der Lebensstrasse die geheimnisvollen Schauer, die von Gräbern herwehen und alten Götterbildern, und fühlt, wie aller Trotz in seiner Seele vor dem Anhauch hinschmilzt wie Wachs, wie er genau der wird, dem zu entfliehen er das Elternhaus verlassen hatte.

Dies gesunde und robuste Werk ist, obgleich künstlerisch durch und durch, nicht für einseitig artistische Leser geschrieben, sondern für jeden, der dem Werden einer kühnen und tiefen Natur zu folgen imstande ist und mit Künstleraugen begleitet, wie die Atmosphärilien des Lebens eine Gestalt mit Edelrost überkleiden. Fast bei allen deutschen Autoren stört die geschmacklose 185 Aufdringlichkeit, mit der sie ihre Hänse interessant und liebenswert zu machen versuchen. Dieser Däne beleuchtet seinen Hans nie mit den bengalischen Streichhölzern der in ihr Geschöpf verliebten Verfasserparteilichkeit; er weiss, dass der Romancier als Schöpfer seine Sonne scheinen lässt über Gerechte und Ungerechte. Er verherrlicht seinen Hans nicht, verteidigt ihn nicht, verurteilt ihn nicht. Er lehrt nur ihn verstehen. Hans durchmisst Länder und Lebensanschauungen, aber der Verfasser tritt nicht dem Lebenseroberer noch dem Lebensentsager zustimmend zur Seite, so wenig er Rom gegen Berlin oder das Tiroler Alpendorf gegen Kopenhagen ausspielt.

Dies Werk von beinah tausend Seiten hat die Eigenschaften der bleibenden Kunstwerke: es ist robust, gleichmässig und durchgebildet. Es hat die Eigenschaften der bleibenden Erzählungen: Stoff, Spannung und Vortrag. Sein Vorwurf ist geistig: die Entwicklung des Pastorenkindes zum Weltkind, des Weltkindes zum Heiligen im buddhistischen Sinne. Seine Mittel sind gegenständlich: Menschen und Dinge wirken diese Entwicklung. Aus seinen tausend Seiten quillt die Lust am Erlebnis, die Freude am Wirklichen, das Behagen am Erzählen. Eine Fülle von gegeneinandergesetzten Welten: das ärmliche und düstere jütische Pastorenheim; die Kopenhagener Mansarde, in der ein junger Eroberer, faustischen Dranges voll, über riesenhaften Kanalplänen brütet; das glänzende Haus des israelitischen Kaufherrn, 186 in dem der zugreifende Eroberer die stolze Jakobe als Braut bezwingt; das Elternhaus, wiedergesehen mit den Augen des fast feindlich Entwachsenen; das spiessbürgerlich enge Heim, das der in seiner Kraft gebrochene Mann sich feige zimmert; die einsame Öde, in der er stirbt, nachdem er das blonde Weib einem glücklicheren Leben durch heldenhafte Flucht zurückgegeben hat. Denn aus dem Düstern ist dieser geboren und im Düstern ist ihm gegeben zu enden. Aber zwischen beiden Dunkeln leuchtet Sonne und flammen himmlische Blitze.

Warum verlässt Hans Jakobe? Ist es der unwillig aufgenommene, aber in der Seele geheimnisvoll wachsende Eindruck, da sein Vater starb, so wie ein echter Christ stirbt? Ist es die Wehrlosigkeit des Nichts-als-Naturwissenschaftlers gegenüber ererbter Neigung zum Grübeln? Ist es das ungeheure stumme Erlebnis, da er den Sarg der Mutter auf dem Frachtschiff in lautloser Nacht über den Sund begleitet und alle Geister der Vergangenheit um ihn wehen? Oder die Feigheit des Theologenabkömmlings vor der Realität des modernen Lebens, die endlich aus der draufgängerischen Hülle gelöste Angst vor der ewigen Sphinx? Oder ein unbewusster Widerstand seines germanischen und pastoralen Blutes gegen die Mischung mit der geistes- und willensstarken Jüdin? Heimweh nach der warmen Ofenecke und dem dumpfen Stubenglück? Oder ist dies alles zusammen sein innerstes Wesen, das die moderne Haut durchgescheuert hat und nun vor aller Augen blank darliegt? 187 Sein Dämon lässt ihn, da er eben auf das offene Meer hinauslenken will, die Hand vom Steuer tun und treibt sein Schiff an schlafenden Watten und bleichen Dünen vorbei in tote Wasser, an den stillsten Strand. Einmal, ja, da versucht er nochmal, nach Kopenhagen hineinzufahren und sein altes Kanalunternehmen gegen einen dreisten Dieb zu verteidigen, aber im Brausen der Grossstadt vernimmt er deutlicher denn je die Stimme des Dämons, der ihn in sein stilles, glückloses Familienleben zurücktreibt. Aber selbst aus diesem stillen Bezirk jagt ihn eine geheime Gier nach Schmähung und Schmerz: er geht auf den falschen Argwohn seines Weibes bereitwillig ein, lügt, er habe Jakoben wiedergesehen, scheidet sich von ihr, die sich einem glücklicheren Manne vermählen wird, und sein Leben verrinnt in Öde und Verlassenheit.

Aber es steckt Hochmut selbst noch in seinem Entsagen, kraftvolle Bejahung des eigenen Wesens selbst noch in seiner Flucht. Damit ist er der Gegensatz zu Ibsens Peer Gynt, dem er in manch anderm verwandt ist, wie denn oft eine deutliche Blutsverwandtschaft die Gestalten verbindet, in denen sich das Letzte und Tiefste eines Stammes verkörpert hat. Hans ist immer er selbst; der grosse Knopfgiesser braucht den nicht umzugiessen, der am Ende bereit ist wie Hamlet. Aber sein Bejahen des eigenen Wesens offenbart sich als Verneinen der ihn jeweils umgebenden Wirklichkeit. So lehnt er sich trotzig gegen den asketischen 188 Pfarrhausfrieden seiner Kindheit auf, so bäumt sich seine mutige Jugend gegen den Mangel an Initiative einer technischen Bureaukratie, so stösst er, kulturlos und ohne Ehrerbietung, in dem vornehmen jüdischen Hause alle vor den Kopf, revoltiert gegen das sanfte Einerlei der Ehe, um erst am Gestade des unaufhörlich anstürmenden Meeres Ruhe zu finden, erst auf unwirtlicher Sanddüne Harmonie mit sich selbst und dem Unendlichen. Mag der Hans des Märchens den Goldklumpen oder den Mühlstein schleppen, er ist glücklich und preist seinen Tausch. Bene navigavi, cum naufragium feci ist eines der tiefsten Worte, die gesagt worden sind. Es ist die Formel für Pontoppidans Roman.

Zwei Welten schildert Pontoppidan, so gegensätzlich sie scheinen, gleich trefflich: die Welt der Gesellschaft und die der Natur. "Die Natur ist reich, die Natur ist weise und barmherzig." Dies ist das letzte Wort des Wegbauassistenten Johann Sidenius, der im letzten der vier Einödhauser am Krebs starb: "mit einem Ausdruck im Gesicht wie jemand, der einen reichen und tiefen Genuss gehabt hatte".

Es ist so bezeichnend, dass dies Buch den Leser zwingt im Erleben nachzudenken, dass vor dem künstlerischen der gedankliche Reiz ihn bezwingt. Aber es wäre Blindheit an diesen künstlerischen Reizen vorbeizugehen. Die Güte der Mache – ich wähle mit Vorbedacht den bescheidenen Ausdruck –, die Gediegenheit des Baues, die Sorgfalt des Vortrages sind 189 erstaunlich. Pontoppidan hat zwanzig Jahre gebraucht, um Hans im Glück zu schreiben. Seine Geduld und sein Fleiss standen auf der Höhe seiner Aufgabe und seiner Begabung. Deutsche Autoren sind flinker; sie sehen mehr auf Raschheit des Umsatzes als auf Höhe des Kapitals. Der Zoologe weiss, dass die Länge der Trächtigkeitsperiode mit dem Werte der Gattung wächst: Kaninchen und Heringe vermehren sich rascher als Pferde und Löwen.

"Det forjaettede Land" verhält sich zu Lykke-Per wie ein ernster und schwermütiger Bruder zum jüngeren. Aber Pontoppidan nimmt darin zugleich den Kampf wieder auf, den er in Sandinge Menighed gegen den Grundtvigianismus begonnen hatte. Der Einfluss, den der Dichtertheologe Grundtvig auf das nordische Geistesleben ausgeübt hat und noch ausübt, ist ungeheuer. Grundtvig bedeutete die siegreiche Revolte der naiven Heilsgewissheit gegen das Schriftprinzip, den zuversichtlichen Protest des einfachen Christen gegen den gelehrten Theologen; die Erhebung der bäuerlichen Volkshochschulen gegen die durch das staatliche höhere Schulwesen verursachte Scheidung der sogenannten Gebildeten von den niederen Schichten. Alle Bildung sollte christlich-erbaulich und patriotisch-national sein. Ungefähr 75 solcher Volkshochschulen sind über ganz Danemark zerstreut; 125000 junge Männer und Frauen haben 1844 bis 1896 diese Volkshochschulen besucht. "Was hierdurch zur Hebung der 190 allgemeinen Lage des dänischen Bauers gewirkt worden ist, lässt sich nicht mit Zahlen berechnen."2 Als am 2. September 1872 der neunzigjährige Grundtvig begraben ward wie ein Prophet, sass der Pastorensohn Pontoppidan noch auf der Schule. In vierjähriger Arbeit (1891 bis 1895) entstand die endgültige Auseinandersetzung mit Grundtvigs Werk und Saat, "Das gelobte Land".

Es ist zu begrüssen, dass ein Dichter vom hohen Range Pontoppidans durch gute Übersetzungen uns zugänglich gemacht wird. Die geistigen Werte, die uns von unseren germanischen Brüdern im Norden kommen, sind so stark und so eigenartig, dass unser Bemühen sich auch dann lohnt, wenn der Gegenstand eines Werkes von nordischer Besonderheit ist. Einer dieser Nordländer erhellt den andern. Je mehr man sich mit ihnen abgibt, desto deutlicher empfindet man zum Beispiel, wie fremd der deutsche Durchschnittshörer den seelischen Grundtatsachen und Voraussetzungen der Dramen Henrik Ibsens ist. Wie weitgespannt sind die zwei grossen Werke von Pontoppidan! Welcher unserer deutschen Zeitgenossen schreibt Romane von diesem inneren Umfang, diesem Reichtum an tatsächlichem, an seelischem, an künstlerischem Inhalt?

Der Hintergrund des Werkes ist, auf eine Formel gebracht: Der bäuerlich-pietistische Modernismus, Grundtvigs 191 entartende Saat. Denn es gab nur einen einzigen Grundtvigianer: der hiess Grundtvig. Das Thema der Erzählung ist die Missehe des Pastors Emanuel Hansted mit einem Bauernmädchen. Die deductio ad absurdum. Das Experiment, aber nicht in corpore vili. Emanuel versucht, gleich Søren Kierkegaard, "mit dem Christentum Ernst zu machen", und zerbricht an dem Versuch. Er will sich sein Leben als bäuerlicher Priester gestalten, abseits von den "armen Menschenkarikaturen, die in dem Fieber der grossen Städte gezeugt, zwischen Schornsteinen, Telegraphendrähten, Eisenbahnen und Strassenbahnen geboren sind", und vermag es nicht. Will ein Seelsorger werden dem armen Häusler, "der fröhlich und ohne zu klagen wochenlang Sklavenarbeit verrichtet, sein trockenes Brot isst und auf altem Stroh süss schläft". Nur auf dem Lande ist noch Heil. Die Kleinstadt ist nichts als eine Fratze der Grossstadt: "Dieselbe Leichtfertigkeit, derselbe Hochmut, dieselbe Heuchelei." In solcher Stimmung verlobt er sich an einem schönen Sommerabend, die Seele noch stürmisch froh von ländlich schlichter Freude an Geselligkeit und Natur, mit Hansine, die eine ihm gegensätzliche Natur ist: ursprünglich, unkompliziert, stark. Er will ein Bauer unter Bauern sein: "als er seinen ersten Schlag zur Zufriedenheit des Schwiegervaters gemäht hatte, war er stolzer, als da er seinerzeit die Auszeichnung vom Examen heimbrachte". Aber der dänische Bauer hat geistige Interessen. Die Milch schickt er in 192 die Molkereigenossenschaft, die Schweine in die Metzgereigenossenschaft, Acker und Stall werden ein wenig vernachlässigt; dafür politisiert er und diskutiert Glaubenssatze. Es sind Volkshochschulbauern, die Emanuel pastorieren will. Ganz langsam verkommt er dabei. Sein Junge klagt über Schmerzen im Ohr: "Haben wir nichts mehr von dem Öl," sagt Emanuel zu seiner Frau, "das Maren Nilsen von der alten Grete drüben auf Strynø bekommen hatte?" Denn der Bauernpastor hat bereits die Bauernidiosynkrasie vor dem Arzte. Sein Knecht Niels hat sich eine Studierstube eingerichtet und schreibt Artikel. "Wo steht es? Ach, hier! Über die Hochschulen und die sittlichen Forderungen! Ei, ei! Nun, der Anfang ist wirklich nicht übel. Sehr gut. Ja wahrhaftig, darin hast du völlig recht, Niels!" Er ist schon so tief gesunken, dass er den faulen Knecht nicht in den Stall schickt und ihm das Schmieren unverschämten Blödsinns über Dinge, von denen er nichts versteht, ein für allemal austreibt. Denn Niels ist ein Erweckter und hat Anhang in der Gemeinde. Am Ende ist er gar ein Schützling des sektiererischen Webers, der scheinheilig schielend die Titel der gehaltenen Zeitungen und die Firmen der Kaufleute auf den Papierdüten abliest, um sich dann bieder in die Finger zu schneuzen.

Das Eheleben Emanuels und Hansinens ist um vieles irdischer, platter, nüchterner geworden, als die beiden es in hochsommerlicher Brautzeit sich ausgemalt hatten. 193 Keine unglückliche Ehe. Aber ertappt nicht Emanuel sich "über einer langsam erwachenden Sehnsucht nach dem Leben und den Menschen, die er um ihretwillen verlassen hatte"? Und wenn Fräulein Ragnhild, des Propstes Tochter – er hätte sie haben können, wenn er gewollt hätte –, wenn besagte junge, elegante und verfürerische Dame Chopin spielt, ist es dann eigentlich Chopin, was ihn gefährlich träumen macht? Ist es nicht vielmehr ein gewisser eichkätzchenrötlicher Haarwisch über einem Nacken von mattem Perlmutter? ein gewisser rosiger Ohrknorpel, durch den der Schimmer der Klavierkerze glüht? Am anderen Morgen aber betet Emanuel reuevoll: "Vater, bist du erzürnt auf mich? Du wirst mich nicht verstossen," und frisst geduldig den muffigen Konventikeljargon des schleicherischen Webers: "Und dann soll da im Haus ja woll so recht die Sprache der Leichtfertigkeit geführt werden." Als er aber – sein Kind ist inzwischen, weil Arzt und Operation zu spät kamen, gestorben – als er, angeekelt von all den gottesfürchtigen Gaunern und biederen Himmelreichsgüterzertrümmerern, aufbraust, "Hochmut und Unverträglichkeit, Lüge und Verstellung treiben ihr Wesen hier, unter uns, ganz wie in der Gesellschaft, zu deren Umsturz wir des Himmels Hilfe anrufen," da bockt die fromme Gemeinde. Denn Sekten haben von jeher lieber anderen die Wahrheit gepredigt, als selbst die Wahrheit gehört. Der Weber ist der erste den Stein auf ihn zu werfen. Er ist von 194 da an im Dorf unmöglich geworden. Aber es ist für Ersatz gesorgt: "Niels hatte jetzt die erste Stufe zu dem hohen Ziel seiner Träume erklommen; er war wandernder Missionsprädikant geworden, in welcher Eigenschaft er sich einen Vollbart zugelegt hatte und ausserhalb der Heimatgemeinde mit einer Brille und mit auf die Seite gelegtem Kopf auftrat."

Emanuel geht allein mit den Kindern nach Kopenhagen. In Hansinens beschränktem Kopf hat ein heroischer Gedanke, der Entschluss einer ländlichen Nora, Gestalt gewonnen. Sie erkennt deutlich, dass das eheliche Experiment völlig missglückt ist und zögert nicht, die Konsequenzen daraus zu ziehen. Sie stellt sich, als ob sie später nachkommen wolle. "Niemand sollte in ihrem Gesicht lesen, wie fest sie überzeugt war, dass sie ihren Mann und ihre Kinder heute zum letzten Male sah. Sie wusste nur zu gut, dass die Kinder sie bald vergessen würden da drinnen zwischen den vielen fremden Menschen und allen den neuen Sachen, und wenn sie älter geworden wären, würden sie es als ein Hindernis und eine Schande empfinden, eine Mutter zu haben, die mit einer Bauernmütze ging und bäuerisch sprach. Aber sie hatte sich selbst gelobt, dass sie nicht unter dem leiden sollten, was andere verbrochen hatten. Unumschränkt sollten sie teilhaben an dem leichteren Glück des Lebens, von dem sie einmal geträumt hatte, dass auch sie es für sich würde erringen können." Es ist dieselbe heroische Flucht 195 wie in "Hans im Glück"; nur dass hier die Frau den Gatten freigibt, dort der Gatte die Frau.

Die ferneren Geschicke Emanuels wachsen erschütternd ins Symbolische. Zug um Zug wird unmerklich seine Entwicklung krankhaft verstiegen, seine religiöse Exaltation pathologisch. Je näher er dem Irrsinn kommt, desto faszinierender wirkt er auf seine Mitmenschen. Es ist von tragischer Wucht, wenn der Irrre, vom Hosanna seiner Anhänger bejubelt, in die grosse Versammlung tritt, in der über die Göttlichkeit Christi abgestimmt werden soll, und, da die himmlische Stimme in ihm plötzlich schweigt, zusammenbricht: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" Die Geschichte dieses religiösen Wahnes ist so fein geschrieben, dass der Leser selbst mit Emanuels Umgebung ihn als Propheten, als Heiligen sieht, und dennoch die schauerliche Lösung ihm natürlich und einleuchtend scheint.

Es ist der Bankrott des einzig auf das religiöse Erlebnis des Einzelnen fundierten Christentums, der dogmenlosen und traditionsbaren Glaubensinbrunst, des Sektierertums, ein Bankrott, dessen Symptome auch bei uns in Deutschland sich zu zeigen beginnen. Man erinnere sich der Berichte über Massenpsychosen jüngster Zeit, der fieberhaften Agitation, die von rheinischen und norddeutschen Zentren ausgeht, und man wird die Sorge nicht übertrieben nennen können, dass fanatische und zugleich pathologische religiöse Massenbewegungen auch im 20. Jahrhundert nicht ausgeschlossen 196 sind. Kennen nicht auch wir jene "modernen geistlichen Redner, die einen leichten Konversationston anschlagen und Worte wie "Christus" und "der Heilige Geist" mit derselben kameradschaftlichen Ungeniertheit aussprechen, mit der man von seinem guten Freunde spricht"? Wird nicht auch in nord- und mitteldeutschen Konventikeln "förmlich gewetteifert, neue, lebenserweckende Wahrheiten vorzubringen"? "Es scheint mir," sagt der besonnene und daher als lau geltende Pastor Petersen, "als ob die guten Leute etwas zu sehr den Eindruck ausgebrochener Zuchthäusler hervorrufen, die das Freiheitsgefühl ganz kannibalisch gemacht hat. Nicht genug damit, dass sie die Christusgestalt selbst aller Göttlichkeit entkleidet, den Erlöser schlecht und recht zu einem aufrührerischen Zimmermannssohn, zu einem Sozialisten mit Halluzinationen und anderen menschlichen Schwächen gemacht haben. Selbst die unschuldigen kleinen Gottesengel wurden schonungslos abgeschlachtet und unter vielem Geschrei in das gemeinsame Grab der Phantasiegebilde geworfen."

Es ist lehrreich, mit dem Chorus der verschiedenen modernen Apostel und Propheten bei Pontoppidan ähnliche Strömungen und Persönlichkeiten des heutigen Deutschland zu vergleichen. Denn der dänische Autor ist objektiv. Er lässt das Problem von allen Seiten beleuchten, lässt alle Richtungen zu Worte kommen, jedem Standpunkt rein Recht widerfahren. Wie in der Vision des Apostels, sehen wir auch auf seinem epischen 197 Tuche reine und unreine Tiere gemischt, ein Gewimmel von sich bestreitenden Ansichten und Persönlichkeiten, Heilige und Hallunken, Narren und Kinder der Klugheit. Ausserordentlich erscheint mir eine Eigenschaft Pontoppidans, die für wenige Autoren so kennzeichnend ist wie für ihn: seine überall verborgene Ironie, die nur die Kehrseite seines Ernstes, selbst seines Pathos ist. An manchen Stellen weiss man buchstäblich nicht, ob sie ernst oder sarkastisch aufzufassen sind, oder ob etwas anderes dahinter steckt, nämlich ein schonungsloser Blick für das Wirkliche der Dinge, der sich nichts vormachen lässt. Daher mag es kommen, dass dieser zugleich so ruhige und so bittere Betrachter "all die Vorkämpfer der Richtung, vom grossen Grundtvig an bis zu den Propheten der letzten Tage als eine Art von Geschäftsleuten ansieht, die in Gott "machten", als protestantische Ablasskrämer, die mit den himmlischen Dingen handelten und feilschten und beständig darauf aus waren, einander in bezug auf den Preis zu unterbieten, für den sie die Freuden der Seligkeit in ihrem Laden feilboten."

Als Weltbild ist "Hans im Glück" reicher. Das seelische Porträt des Pastorensprossen Sidenius ist, weil komplizierter, von grösserem Interesse als das Krankheitsbild des Inselpastors, der wie mit Scheuklappen seinen Weg geht, aufwärts keuchend, bis er an einer jähen Biegung unentwegt geradeaus ins Leere hinaustritt und sich totfällt. Doch möchte, wer einmal 198 dem dänischen Dichter nähergetreten ist, dies düstere Buch mit all seiner bäuerlich stumpfen Umwelt, seinem bleiernen Himmel, dem gespenstischen Eigensinn seines Helden nicht missen neben dem rembrandtisch helldunklen Hans Sidenius, dem vielfach Umhergeschleuderten.

Die Helden beider Bücher sind Erben: Erbe einer übermässigen, zarten, seelischen Konstitution der in Heilandswahn endende Inselpfarrer, Erbe einer überlangen theologischen Tradition der trotzig wider den geheimen Stachel seines Bluts lökende Traditionshasser. Rembrandtische Gestalten beide. Gesichter, an denen Leben und Leiden mitgeholfen haben bis sie diesen grossen und in der Resignation noch stolzen Ausdruck erhielten: ein bleiches Schmerzenshaupt Emanuel, ein trotziger Lebensüberwinder der einsam wie ein Hund verendende Hans im Glück. Unter aller Ironie ein gedämpftes Schimmern verstehender Güte; hinter all dem bittern Wahrheitsernst die Menschenliebe eines über Menschenwahn Trauernden. Die Spannung, mit der diese schweren Bücher den Leser festhalten, kommt aus strenger Sachlichkeit. "Das gelobte Land" ist nur der letzte Akt und die Katastrophe eines ungewöhnlichen Lebenslaufs, "Hans im Glück" ist dieser Lebenslauf selbst, eine Entwicklungsgeschichte von der inneren Bedeutung, wenn auch nicht der dichterischen Wärme und südlicheren Schönheit des Grünen Heinrich. Die Umwelt des Helden tritt gegenständlich hervor: die 199 verlorene Inselpfarre unter bedecktem Himmel ist künstlerisch gleich fein und den Leser gleich fesselnd gemalt wie das kleinpariserische Gesellschaftstreiben der dänischen Hauptstadt. Den geistigen Hintergrund des einen Buches bildet der reaktionäre Grundtvigianismus der konservativen, den des andern der Brandesianismus der radikalen Kreise des kleinen Landes, in dem sich geistige Bewegungen mit starker Energie ausleben.

Man schämt sich, wenn man den neuesten Sudermann oder Frenssen neben die beiden grossen Werke Pontoppidans legt, an denen alles bedeutend ist: Gegenstand, Vortrag, Seelen- wie Naturschilderung, der durchdringende Verstand, der gleichmässige, geduldige künstlerische Wille, der Blick für das Wesentliche, die scharfe Beobachtung dieses Wesentlichen ohne mikroskopierende Loslösung von dessen natürlichen Bedingungen. Ein Deutschland, in dem der Roman als Welt- und Zeitbild, wie ihn noch die Bleibtreu, Conrad, Kretzer postuliert hatten, mehr und mehr zugunsten eines novellistisch beschränkten und "stimmungsvoll" geschilderten Bildausschnitts verlassen worden ist, kann an solchen Werken überlegen, was ein Roman sei.

 
[1] struggleforlifer: en person der praktiserer Darwins teori struggle for life om at de stærke fortrænger de svage. Ordet blev indført af Alphonse Daudet i 1888 (struggleforlifeur), derefter anvendt af Paul Bourget i 1889. tilbage
[2] Johannes Jørgensen: Geschichte der dänischen Literatur S. 89-94. (Hofmillers note). tilbage