Selbstgespräch

Donnerstag.

In diesen Tagen lese ich in den Zeitungen so viel über eine norwegische Dame1 – oder eine Prophetin muss man wohl sagen, da sie norwegisch ist – die nach Dänemark gekommen ist, um Widerstand zu leisten oder besser: in den Kampf zu ziehen – wie man sich wohl ausdrücken darf, wenn die Rede von Norwegern ist – gegen den Gebrauch des Korsetts. Es ist ja nicht das erste Mal, dass dieser Kampf aufgenommen wird, und beständig wurde die berühmte Venus von Milo als das würdige Vorbild hervorgehoben, deren Figur unsere Frauen versuchen sollen nachzuahmen. Ich habe die allergrößte Achtung vor der künstlerischen Vollkommenheit dieser Statue, aber diese geradezu zum Modell für unsere eigenen Damen zu machen, scheint mir bedenklich, insbesondere wenn ich ihre ehrfurchtsvolle Taille betrachte, die mich immer an einen dieser umfangreichen Waldbäume erinnert hat, für den es allermindestens zwei handfeste Kerle zum Umarmen braucht. Was für eine Göttin angemessen ist, kleidet doch nicht jedes Flittchen. In jedem Fall kommt es mir so vor, als ob man den Krieg vom falschen Ende aus beginnt.

Es wird oft auf die Frauen aus Kampanien bei Rom hingewiesen; und ganz bestimmt findet man wohl nicht viele Orte mit so harmonisch gebauten Frauengestalten wie dort; und ganz bestimmt tragen diese kein inwendiges Korsett, sondern nur ein Band, das die schweren Brüste hebt. Aber diese Frauen wandern den halben Tag mit großen Bürden auf ihren Köpfen ruhend; dadurch werden ihre Körper in eine Stellung gezwungen, die ihnen durchaus diese unvergleichlich schlanke, schöne und beneidenswerte Haltung gibt. Die Frauen dagegen, die den ganzen Tag unnatürlich gebeugt über dem Häkelzeug, einer Nähmaschine, einem Schreibtisch sitzen, können kaum auf etwas verzichten, um den Körper aufrechtzuhalten, damit er nicht zusammensinkt und auf Teile drückt, die nicht für Druck bestimmt sind.

Auf ärztliche Aussagen sei verwiesen. Aber das medizinische Orakel ist ein tausendzüngiges Wesen, für welches das Wort gilt, dass "derjenige ziemlich verrückt sein muss, der daran klug werden könne". Ich hatte einst einen älteren, einfältigen Freund, der an alles zwischen Himmel und Erde glaubte, unter anderem auch an die Ärzte, den Fortschritt und die Frauenemanzipation. In seinen jungen Jahren hatte er geheiratet und eine Tochter bekommen; und diese Tochter sollte natürlich nicht wie andere Evastöchter sein; sie sollte ein Prachtexemplar werden, ein Vorbild für das neue, kommende Menschengeschlecht. Also wurde sie von Kindesbeinen an nach Arztrezept gefüttert, erzogen nach der Pædagogisk Tidsskrift2 und angekleidet nach einem populären medizinischen Buch über Mädchen im Wachstumsalter, worin sich auch ein Bild von der breitbauchigen Venus von Milo fand und außerdem zum Schreck oder zur Warnung eine Reihe stundenglasgeformter Skelette von Weibern, die ein Korsett getragen hatten. Seltsamerweise wurde nun dieses Mädchen nicht annähernd zu einer Venus. Sie erblasste, bekam einen schiefen Rücken und wurde hohl wie ein Teigtrog. Von dem "Trageband", das in gewisser Hinsicht das Korsett ersetzen sollte, machte sie niemals Gebrauch. Als sie älter wurde, bekam sie auch noch eine Unterleibserkrankung und der verängstigte Vater ging daher direkt mit ihr zu einem bekannten, mittlerweile verstorbenen Spezialisten für Frauenerkrankungen und bat ihn, sie zu untersuchen. Das erste, das dieser nach der Untersuchung verschrieb – war – ein Korsett.

Mein ehrbarer Freund verzweifelte völlig. Er selbst hat mir erzählt, wie lange er protestierte, indem er sogar das Bild der Venus von Milo neben den stundenglasförmigen Gespenstern vorzeigte. Aber der Arzt sagte hierzu bloß:

"Sagen Sie mal, diese Dame von Milo … war sie nicht eine Göttin?"

"Doch, schon."

"Und Ihre Tochter – ?"

"Sie ist Volksschullehrerin", fiel es ihm aus dem Mund.

Im selben Augenblick kam es selbst meinem einfältigen Freund in den Sinn, dass da ein Unterschied ist. Solange wir unseren Frauen nicht die Lebensverhältnisse von Göttinnen bieten können, lohnt es sich gewiss auch nicht, sie auf die majestätischen Gewänder hinzuweisen.

H. P.

 
[1] eine norwegische Dame: Kristine Dahl aus Kristiana hielt am 18.03. und 24.03.1897 Vorträge über die hygienische und ästhetische Bedeutung der Frauenbekleidung. Zu dem letzten Vortrag hatten nur Frauen Zugang, da dort eine Auswahl an Modellen für Kleider und Unterwäsche vorgestellt wurde. tilbage
[2] Pædagogisk Tidsskrift (dt. Pädagogische Zeitschrift): vermutlich Vor Ungdom, Tidsskrift for Opdragelse og Undervisning (dt. "Unsere Jugend, Zeitschrift für Erziehung und Unterricht"), seit 1879 von der Pædagogisk Selskab (Pädagogische Gesellschaft) herausgegeben. tilbage