Dänische Nachtwache

Ich sitze am Strande und lese. Ich habe dabei ein echtes Stück Dänemark um mich herum – als Anschauungsmaterial zu meiner Lektüre. Vor meinen Füssen plätschert das Meer ein monotones, stilles Lied mit langen, flachen Wellen; und hinter dem Fleck, wo ich nach dem Bade liege mit den nackten Füssen im warmen Sand – über der steilen Thonwand, die in der Sonne leuchtet – steht der weichgewölbte, hellgrüne Buchenwald und rauscht. Weit drinnen ruft der Kukuk. Die Küste spannt sich um die grosse Bucht in einem weiten Bogen und verliert sich in blauem Sonnendunst in der weiten Ferne, wo "Møens Klint" sie mit seinen walddunklen Hügellinien über der gelben aufsteigenden Ebene abschliesst. Die Segelböte gleiten im frischen Winde über die weite Fläche; und alles ist still. Von den Menschen sehe und höre ich nichts, – im Hof droben ist es ganz still; und die Natur in diesem Lande, wo die leisesten Leute der ganzen Welt leben, steht, auch sie, diskret sympathisch da und plätschert und rauscht mit kleinen Wellen und weichen Wipfeln zu den menschlichen Träumen.

Das Buch, über dem ich lese, ist ebenfalls ein sehr echtes Stück Dänemark. Es kam nach der Insel am selben Tag wie ich. Es heisst "Nachtwache", der Verfasser Henrik Pontoppidan. Dieser Dichtername hat über ganz Dänemark und in den weitesten Kreisen einen starken Klang – in diesem Augenblick vielleicht einen stärkeren als irgend ein anderer. Und mit Recht: denn von allen Jüngeren hat Pontoppidan das weiteste Bild des gegenwärtigen Dänemarks gegeben, und von ihnen allen ist er der Einzige geblieben, welcher in seiner Produktion eine Zukunft verspricht. In den grossen Aufschwungsjahren mit der leidenschaftlichen und engen Für- und Wider-Litteratur ging er seinen stillen, aber sehr festen, eigenen Weg ausserhalb der feindlichen Lager; und so geht er noch heute, wo sich alles, inklusive die Parteien, verändert hat, wo aber der Kampf gegen eine neuere Generation mit veränderter Frontstellung fortdauert.

Es ist jetzt genau zehn Jahre her, dass ich Henrik Pontoppidan zum ersten Male traf. Er war damals ein sehr junger Mann, der drei Bücher hinter sich hatte. Mit dem letzten von ihnen, "Dorfbilder", war er durchgedrungen; und stand mit einem Male da als ein neues scharfgeschnittenes Temperament in der damals sehr figurenreiche modernen Litteratur Dänemarks. Er offenbarte sich darin als virtuosenmässiger Novellist, als Stilkünstler ersten Ranges, besonders aber als intimer Kenner des dänischen Bauernlebens, welches er schilderte mit der unromantischsten Nüchternheit und dem feinfühligsten Verständniss zugleich, mit zarter Stimmung und gereiftem Humor. Er lenkte mit diesem Werke die dänische Bauernnovelle in ganz neue Bahnen, in die Bahnen einer sehr individuellen und sehr tendenzlosen Realistik, die gegen die gemacht vierschrötigen Karrikaturen Schandorph's sowohl, wie gegen das gemachte Pathos der "Neunordländer" gleich stark abstach und die Hypertrivialität auf der einen Seite wie die Hyperidealisirung auf der anderen als gleich unwahr hervortreten liess. Er wohnte ganz allein, ganz abwärts, weit weg von der Hauptstadt, auf dem Lande. Ich musste lange fahren, von Kopenhagen nach dem Isefjord zu, erst mit der Eisenbahn, dann weiter mit dem Wagen. Ich kam zu einem kleinen Dorf in einer hügeligen, baumleeren Landschaft von dunkler Farbe; da lagen die Bauernhochschule, die sein Bruder leitete, und das Haus, wo er selbst wohnte. Pastorensohn aus einer der ältesten und berühmtesten Pastorenfamilien Dänemarks, hatte er sich als echter Sohn dieser ersten Tage des neuen Volksthums ein Bauernmädchen aus des Bruders Hochschule zur Frau genommen. Er stand noch fest mitten in einer erlebten Ueberzeugung, die für ein ganzes Menschenleben dauern sollte; er hatte seine Kinder, und er hatte seine Bücher, und damit hatte er genug; und er rieth mir, die parfümirten Salons Hermann Bang's zu verlassen, um, wie er, nach meiner eigenen ländlichen Heimath in Schonen zu gehen und Hasen und Enten zu schiessen.

Seitdem ist die Produktion Henrik Pontoppidan's sehr umfangsreich gewesen. Die lange Reihe seiner Romane und Novellen geben Zeugniss von einer intimen persönlichen Entwicklung, die ihn durch private und öffentliche Konflikte von seinem ersten Standpunkt weit weg geführt hat. Er war einmal ein Gläubiger, der sein Leben aus seinem Glauben hervorwachsen sehen wollte; und er ist ein intelligenter Skeptiker geworden, der seine frühere Zusammengewachsenheit mit den verschiedensten sozialen und kulturellen Schichten dazu benutzt, um sie alle in ihrer Zeitbedingtheit dichterisch zu durchleuchten. Und deswegen ist die rein persönliche Entwicklung, die sich in seiner Dichtung Ausdruck gibt, zugleich eine allgemeinere zeitgenössische: sie ist ein ganzes Stück dänischer Kulturgeschichte in ihren typischen Phasen und Gebilden während der letzen zehn Jahre.

Ausser einigen "Kleinen Romanen", die rein künstlerisch gesehen, das stärkste und ausgesuchteste bezeichnen, was das junge Dänemark in den letzten Jahren hervorgebracht, har Pontoppidan drei in der obigen Hinsicht bemerkenswerthe Bücher geschrieben: "Aus den Hütten. Neue Dorfbilder" (1887), "Das gelobte Land" (1892) und "Humus" (1892).

In dem erstgenannten Werke har er – um sein eigenes Bild in einer dieser Novellen zu gebrauchen – die grossen, schöngebauten Höfe verlassen, die mit ihren Gartenanlagen und in der Sonne glänzenden Spahndächern rund herum auf den Hügeln protzen, und sich zu den kleinen, verfallenen Häusern begeben, die sich drunten längs der Landstrasse oder weit draussen auf Sumpfstrecken aneinander reihen, sich aneinander stützend wie eine Schaar zerlumpter und gichtbrüchiger Bettler. Er ist in diesem zweiten Band "Dorfbilder" der Schilderer der dänischen Häusler geworden, wie er in dem ersten Band der Schilderer der dänischen Bauern gewesen. Und es war dort wie hier ein immer prägnanterer Zug in der sich entwickelnden heimathlichen Zeitgeschichte, den er als der erste unter den gestaltenden Geistern Dänemarks wahrnahm: das dumpfe Brüten des ländlichen Proletariats, welches sich steigerte und abklärte, bis es in einzelnen Individuen zum Klassenbewusstsein wurde und endlich auch nach aussen in die Erscheinung trat – nämlich in jener Häuslerbewegung, die jetzt schon eine organisirte und ein Faktor im politischen Leben geworden ist.

In den übrigen zwei genannten Werken, von denen das eine die Fortsetzung des anderen ist, nahm Pontoppidan zum Gegenstand seiner Schilderung die volksthümliche Bewegung, welche wohl die eigenthümlichste Erscheinung in dem heutigen dänischen Leben ausmacht und tiefe Spuren hinterlassen hat, kulturell wie politisch, in den Bauernhochschulen und in dem langen, erst in diesen Tagen beendeten Kampf der Linken gegen das Ministerium Estrup. Die Hauptperson ist ein junger Pastor, der – ganz wie der Dichter selbst – aus einer alten und vornehmen Familie stammt, von der altnordisch-christlich-demokratischen Bewegung aus allen traditionellen Klassen- und Familienbanden gerissen wird, ein Bauernmädchen von der Hochschule heirathet, als Pastor auf dem Lande nach fleischgewordenen Prinzipien sich völlig verbauert, seinen Acker selbst pflügt, den Pfarrhof, wo sein Vorgänger nach alten guten südskandinavischen Pfarrertraditionen hoch und gastfrei gelebt, in eine Bauernstube verwandelt, wo die ganze Gemeinde ein- und ausgeht, und seine Zeit gewissenhaft zwischen der Arbeit auf den Feldern, den religiösen Konventikeln zu Hause und den aufgeregten politischen Versammlungen in diesen ersten Tagen des Provisoriums theilt. Er ist ein idealistischer Schwärmer, und er ist ein Bürgersohn; und sein Leben, in dem er sich selbst erst so ganz eingesetzt hatte, zerspringt unentrinnbar wie ein Glas mit einem Fehler im Guss. Er steht, in dieses fremde Milieu eingekeilt, mitten in einem Organismus, mit dem er nicht organisch zusammenwachsen kann; und trotz Frau und Kindern und Ueberzeugung wird er unwiderstehlich von ihm ausgeschieden, wie durch einen ganz organischen Prozess. Es ist nicht nur das viele Schiefe und Uebertriebene in der ganzen Bewegung, was dies bewirkt, 617 und das von der feinen Satire des Dichters sehr übel mitgenommen wird; es ist auch nicht nur das Desillusionirende und Abstossende, sich selbst, den gebildeten und ehrlichen Mann, vom "Demagogen" niedrigster Art angeführt und übertrumpft zu sehen; der Gegensatz, der die grosse Tragik der Schilderung bildet, steckt tiefer, nämlich in der wesensbedingten Verschiedenheit der bürgerlichen und bäuerlichen Eigenart. Und hier liegt in der That der Grund, warum – durch ein unvermeidliches und schicksalsschweres Wechselspiel von boshaftem Misstrauen und bitterer Täuschung – der schöne Entwurf der neunordischen Renaissance und Bauernkultur in der Ausführung ein Torso geblieben ist. Das Bürgerliche wollte das Bäuerliche kneten – nach Idealen, die sich das Bürgerliche über das Bäuerliche gemacht hatte –, und das Bäuerliche, das in Skandinavien seit uralten Zeiten sehr selbstbewusst gewesen, empfand auf die Länge die Unzulänglichkeit in diesen Bestrebungen stärker als den guten Willen, die Unzusammengehörigkeit intimer als die Verwandtheit; und der Drang des Klasseninstinkts, sich aus sich selbst heraus zu formen, wurde übermächtig. Ob derselbe doch nicht dabei auch Geschichte machen wird? Mir scheint es wahrscheinlich. Dem Dichter "des gelobten Landes" freilich nicht; aber er ist selbst zu viel von jenem Pastor Ephraim, den er geschildert hat; er hat selbst die bitteren Täuschungen des bürgerlichen Bauernschwärmers durchgemacht, und der bittere Geschmack ist ihm auf der Zunge geblieben.

Pontoppidan's Bücher sind, wie man sieht, in einem ganz besonderen Sinne Schilderungen des dänischen Lebens. Sie sind es nicht nur psychologisch gesehen, im Temperament des Dichters wie in den geschilderten Personen und Milieus; es sind die ganz allgemeinen Interessen und Strömungen, die die Nation als Gesammtheit in unseren Tagen beherrscht haben, welche sich in diesen Büchern in individuellen Schicksalen typisch brechen. Darin unterscheidet sich seine Produktion von den meisten Leistungen des jüngsten Dänemarks, – von sonstigen Vorzügen und Nachtheilen abgesehen: denn ist bei ihm die ganze Fläche immer da, so kommt es doch vor, dass die Tiefe beim Messen zuweilen nicht Stich hält.

Auch die "Nachtwache" ist so ein echtes Stück dänischen Lebens. In Dänemark spielt die Novelle freilich nicht; sie spielt – wie es übrigens in diesen Tagen des Neukatholizismus Mode zu werden scheint – in Rom, der heiligen Stadt. Aber sie spielt in der dänischen Kolonie zu Rom; und diese dänische Kolonie ist selbst ein echtes Stück Dänemark. Sie ist mit ihren Typen und Konflikten das ganze Dänemark, wie es gegenwärtig lebt und webt, nur en miniature, – oder, wenn auch nicht ganz Dänemark, so jedenfalls ganz Kopenhagen.

Die dänische Presse ist augenblicklich voll von diesem Buche. Alle Parteien reklamiren den Mann für sich; hier wird noch Alles, wenn einigermassen möglich, für "die Rechte" oder "die Linke" ausgelegt. Die Radikalen, die in diesem Falle sicherlich am schlimmsten daran sind, haben mit bitter-süssem Lächeln im neuesten Fall Pontoppidan die bekannte "grosse Mystifikation" entdeckt. Ein bischen deutlicher in seinen Sym- und Antipathien könnte der Dichter ja gewesen sein; man wird doch schliesslich nicht dadurch der grosse Dichter, dass man die eigene Meinung under den Tisch steckt. Die eigene Meinung kann zuweilen eins mit der eigenen Person sein. Aber der Held des kleinen Romans ist ein sogenannter Radikaler im Reich des modernen Geistes; und der Mann ist unleugbar ein selten widerwärtiger Kerl.

Jørgen Hallager ist von Profession Maler; aber dabei ist er zugleich ein grosser sozialer Hasser von der Sorte fin-de-siècle unseres Jahrhunderts. Seine Kunst stellt eine Mischung von hochgradigem Naturalismus und revolutionärer Tendenzlerei dar; und er erzielt seine Wirkungen durch die bekannten billigen schreienden Kontraste. Eins seiner Bilder, "Ein Märtyrer", ist folgendermassen komponirt: auf einem nassen, nackten Ackerfelde liegt unter dem eingestürzten Rand einer Mergelgrube ein abgearbeiteter Tagelöhner und schreit vergebens nach Hilfe mit seinem blutgefüllten Munde, während draussen am Horizont ein eleganter Wagen mit livreegekleidetem Kutscher und Diener vorüberfährt. Es ist ihm eine besondere Delice, an grauen und nebeligen Wintermorgen bei dem ersten Pfeifen der Fabriken aufzustehen und durch die Strassen Kopenhagens zu streifen, wo die Arbeiter zu ihren Werkstätten eilen, mit dem Brotlaib unter dem Arm und der Branntweinflasche in der Tasche, und wo sich die kleinen rothnasigen Kinder, noch halb schlafend und zitternd vor Kälte, mit den grossen Körben zum Kohlenhändler schleppen. Das einzige "wirklich lehrreiche", was Rom ihm bietet, sind die Armenquartiere, wo die "rothe Bacille" gedeiht und "das zwanzigste Jahrhundert gebraut wird"; er ist eines Tages zufälligerweise dahingerathen und erzählt dann später seiner Frau, wie er da Menschen gesehen hat, die alle zusammen nicht so viel Fleisch auf den Knochen haben wie ein gewöhnlicher Kopenhagener Kaufmann, besonders aber interessirte ihn ein nasenloses Frauenzimmer, das mit fünf Kerlen Karten spielte, – "das sind die Prachttypen, die einem noch ein bischen Vertrauen in die Zukunft geben können". Die ganze Kunst ist ihm nichts, ausser derjenigen der ersten christlichen Maler, die – wie die jetzigen "sociale Künstler" – sie bewusst agitatorisch anwandten. Er schwärmt platonisch für die Anarchisten. "Lyrik" ist in seinem Jargon ein Schimpwort – "ein Lyriker ist ein Mann mit einem schlechten Magen".

In allem diesem finde ich Pontoppidan's dänischen Maler international zeittypisch. Der Mann, welcher dahinter steckt, ist der brutale, boshafte Plebejer.

Er hatte eine junge Dame aus der besten Kopenhagener Gesellschaft in sich verliebt gemacht und sich mit ihr in Rom verheirathet. Auf seiner Seite war keine Liebe mit im Spiel, – "Liebe" ist ihm ein Wort wie Lyrik; die junge, feine, reiche Dame ist für ihn eine Befriedigung seiner Eitelkeit und eine seinen Feinden abgejagte Beute. Er behandelt ihren Vater – den alten zierlichen Büreaukraten, der ihm eine Verkörperung der ganzen verhassten Gesellschaft ist – wie ein böser Bube seine Eltern, und seine Frau wie ein roher Mann eine Dirne. Er ist in seinem Haus und seinem ganzen Umgang der echte schlechte Tyrann, – so wie nur der Paria Tyrann sein kann. Es gelingt ihm, sich im Laufe eines Winters in der kleinen Kolonie zu Rom genau so verhasst zu machen wie früher im grossen Publikum zu Hause. Er ist so unerträglich, wie nur der Plebejer als Protze; nichts kann in seiner Atmosphäre gedeihen; alles wird von diesem rohen Selbstgefühl entweder auf sich selbst zurückgedrückt oder verschlungen. Sein Freund und Lehrling sagt sich von ihm los und findet sich selbst in einer neuen Kunst. Aber seine Frau, das zarte Geschöpf, das sich nicht von ihm losreissen kann, wird zu Grunde gerichtet. Sie stirbt plötzlich, – nach einer brutalen Scene. "Er verstand nichts", heisst es dabei von Jørgen. "Seine Gedanken standen still. Betäubt, versuchte er vergebens das Räthsel zu lösen, das dies Alles ihm war."

Das ist alles eigentlich nur eine Vorgeschichte zur "Nachtwache". Einige Jahre sind vergangen. Das alte Königspaar feiert die goldene Hochzeit; und dies private Familienfest wird zu einem nationalen. Der lange Parteikampf nähert sich seinem Abschluss; und man geniesst in diesem Fest einen Vorgeschmack des anderen, grösseren Versöhnungsfestes, nach dem sich Alle sehnen. Man fühlt sich wieder als ein ganzes Volk, als Nation. Mit einer Ausnahme – "die Nachtwache". Die Nachtwache ist eine "geheime Gesellschaft", die in einer kleinen Kellerkneipe einer abgelegenen Strasse Kopenhagens ihr sehr ungefährliches Treiben jeden Abend in geschlossenem Raum beim Carlsbergsbier führt. Die Mitglieder sind heruntergekommene Leute verschiedener Profession: ein humoristischer Zeichner, ein versoffener Journalist, ein paar Handwerker, einige anarchistisch gestimmte Arbeiter und drei, vier Frauenzimmer unzweifelhafter Art. Der Hauptmann aber ist unser Jørgen Hallager. Sein Schicksal wie seine Person haben sich in diesen Jahren sehr verändert. Als Künstler wie als Mensch ist es mit ihm abwärts gegangen. Sein letzes Bild "Streikende Arbeiter" erregte nicht einmal Aerger; seine ganze Kunstrichtung wird überhaupt als veraltet betrachtet. Für seine 618 verstorbene Frau Ursula hat er sich freilich Ersatz geschafft, – in seinem früheren Verhältniss, einem Nadlermädchen aus einer Schlupgasse, deren konstantes Gähnen bescheidene Zahnüberbleibsel entblösst und mit der er eine vom Gesichtspunkt der Nachtwache ideale Ehe geschlossen hat. Er hat mit ihr einen Buben von drei Monaten, den in der beständigen Abwesenheit der strassenliebenden Mutter die Nachbarfrau wartet, – eine ältliche, giftige Person, die Jørgen Hallager eigentlich noch lieber geheirathet hätte, denn sie hat in noch höheren Grade als sein Nadlermädchen "keine Spur von Lyrik". Das Kind wird vom Vater immer nur "der Rekrut" genannt, der kleine Niels Peter soll sein Nachfolger werden, wenn er zu alt oder zu versoffen wird, – ganz wie er selbst seinen Vater auf der Wache bei dem heiligen Feuer der Wahrheit einst ablöste; – denn der Bube hat das rechte "gesegnete Gaunergesicht" und absolut keine Veranlagung zum Lyriker. Seine Philosophie ist jetzt diese: "es ist nicht die Freiheit, die uns helfen kann; es ist nicht die Gesellschaft, mit der es verkehrt steht. Es sind wir selbst … es ist der Mensch, in den Lyrik gefahren ist, und das heisst soviel wie wenn der Schwamm in ein Haus kommt. Um was es sich handelt, das ist das neue Amerika im Menschen selbst zu entdecken, einen unkultivirten Punkt ohne Vorzeit, ohne Erinnerung, ohne Renaissance oder andere Hinterlassenschaft alter Zeiten, die dem Schwamm Nahrung zuführen könnten". Und so ein Stück vom neuen Amerika soll der kleine Niels Peter Hallager werden. Vorläufig gäbe es für ihn selbst "nichts zu thun als geduldig und standhaft auf dem Wachtposten zu verbleiben, wohin das Schicksal ihn in dieser dunklen, schweren, dunstigen Nacht gestellt hatte, die jetzt auf die Menschheit eindringt". "Das Pulver trocken halten", lautet die Losung der "Nachtwache": "die Galle flüssig halten", sind die Schlussworte Jørgen Hallager's an die Wärterin seines Kindes.

Wie die im Buche geschilderte dänische Kolonie in Rom mit ihren Menschen und Konflikten einen Mikrokosmos der nordischen Heimath darstellt, so wirkt auch die Person und das Schicksal Jørgen Hallager's fast symbolisch. Es sollte mich sehr wundern, wenn der Verfasser sich dessen selbst nicht bewusst war, als er das Buch formte. "Nachtwache" gibt in seinem engen Rahmen – ganz wie Pontoppidan's frühere Bücher – ein Stück Entwicklungsgeschichte der dänischen Kultur. Es ist in Jørgen Hallager etwas mehr als das Individium allein; hinter ihm steht eine weit grössere Gestalt, mit der er ganz zusammenfliesst: die Zeitepoche.

Als Hallager seinen "Märtyrer" schuf, malte sein Freund und Schüler Drehling ein ganz ähnliches Bild – eine Frau, die unter der Last eines Holzbündels zusammenbricht; der Unterschied bestand nur darin, dass draussen am Horizont statt der eleganten Equipage Hallager's eine undeutliche Nebelfigur, der Tod mit dem Sarge under dem Arm, sichtbar wurde. In dieser kleinen Divergens der schaffenden Phantasie der beiden Maler lagen zwei wesensverschiedene Kunstrichtungen in nuce; – man könnte vielleicht sagen: zwei Lebensanschauungen. Jørgen Hallager wurde ein Verschollener, Thorkild Drehling ein Mann der Zukunft – alles in einigen Jahren. Die naturalistische Tendenzkunst ist in Dänemark todt, in der Malerei wie in der Litteratur; und eine neue möchte sich mit Phönixflügeln aus ihrer Asche erheben. Möchte – denn sie hat es noch nicht gethan. Theoretisch vielleicht; aber die jungen Leute, die sich um die Zeitschrift "Der Thurm" schaaren, haben erst nur die Einsicht davon, dass Kunst etwas anderes und etwas mehr als Sittengeschichte bedeutet. Ob sie auch die produktive Kraft besitzen, muss die Zukunft zeigen.

Der symbolische Sinn des Buches erstreckt sich indessen weiter. Jørgen Hallager ist nicht allein Maler; er ist zugleich ein Mann des sozialen Ingrimms unserer Jahrhundertwende. Der Radikalismus in der dänischen Kunst war immer mit dem politischen sehr eng verknüpft; Jørgen Hallager stellte ja in seinen Gemälden die sozialen Probleme gewaltig unter Debatte. Der Künstler in ihm war aus seinen eigenen Rippen geschaffen; seine Kunst war keine erworbene Ueberzeugung; sie war nur sein Instinkt: er war Sohn eines armen Schullehrers, den die lokalen Machtinhaber schändlich behandelt hatten; das Rachegefühl war ihm ins Blut übergegangen, er fühlte in ihm sich selbst am stärksten, mit der ganzen Süssigkeit des vitalen Empfindens. Ob der Verfasser in ihm eine typische Persönlichkeit und ein typisches Schicksal hingestellt haben will? So viel ist jedenfalls sicher, das eine ganze Kulturpartei – wenn dies Wort hier erlaubt ist – sich Tag für Tag mehr eingeengt fühlt (die abgelegene Kellerkneipe wie die ganze äusserliche Verfallenheit ist ja natürlicherweise nur ganz symbolisch aufzufassen) und sich allmählich auf die Schlussworte des ausrangirten Hallager's beschränken muss: "die Galle flüssig halten!"

Stege. Ola Hansson.