Erinnerung an Pontoppidan

Der große dänische Dichter Henrik Pontoppidan ist im Alter von 86 Jahren in Kopenhagen gestorben.

Die sich überstürzenden politischen und militärischen Ereignisse der letzten Wochen mochten schuld daran gewesen sein, daß die Nachricht vom Tode Henrik Pontoppldans vielfach unbeachtet blieb. Und außerdem war ja der Nestor der dänischen Dichtung infolge seines biblischen Alters und seines langen Schweigens dem Bewußtsein der Gegenwart schon fast entrückt. Der Tod selber war also gewissermaßen nur noch ein privates Ereignis. Und trotzdem oder vielleicht gerade deshalb weckte er auch um so stärker die privaten Erinnerungen.

Es war zu Beginn dieses Krieges. Die Vorstudien zu einer größeren dänischen Literaturgeschichte hatten mich kreuz und quer durch das noch in tiefem Frieden schlummernde Land droben im Norden geführt, zu Dichtern und Gelehrten, zu Verlegern und Buchhändlern. Und so war ich eines Tages auch nach Ordrup hinausgefahren, um Henrik Pontoppidan einen Besuch abzustatten, dem wohl größten Dichter und Richter seiner Zeit, der hier draußen am Rande der Großstadt in selbstgewählter Einsamkeit sein Domizil aufgeschlagen hatte. Eine warmherzige Empfehlung Harry Söibergs, des Präsidenten des dänischen Schriftstellerverbandes, sollte mir die verschlossene Pforte öffnen. Und sie öffnete sie auch…1

Das freundliche Mietbaus am Holmegaardsweg war schnell gefunden, und noch schneller hatte die Empfehlung ihre Wirkung getan. Nach wenigen Minuten schon stand Henrik Pontoppidan vor mir. Nie werde ich den Anblick vergessen. Da stand ein alter Mann im samtblauen Schlafrock, aufrecht, mit wirrem Haar, schwerhörig, aber mit unheimlich wachen Augen. Und diese Augen, die trotz der Flackrigkeit des Alters etwas Bohrendes, etwas Forschendes und zugleich Faszinierendes an sich hatten, haben mich seither in allen den Jahren nicht mehr verlassen, stehen heute noch vor mir, lebendig wie beim ersten Anblick. Und das wohl weniger, weil sie den denkbar krassesten Gegensatz zu dem alten Manne im Schlafrock bildeten, sondern geradezu, weil sie das beste Charakteristikum des Dänen und Dichters sind, weil sie das innerste Wesen des Menschen ausstrahlen, der wie kein Zweiter sein Volk und seine Zeit zur Besinnung aufgerufen hatte.

Pontoppidan erzählte. Er sprach weniger von seiner Dichtung als vielmehr von seinem Leben, seinem Wollen, seinem Kämpfen. Er beschwor noch einmal den Riesenschatten des Juden Georg Brandes, dem auch er in seiner Jugend verfallen war und den er dank seiner Wachsamkelt zuletzt doch noch bezwungen hatte. Er zeigte noch einmal die Zeit, deren Spiegelbild sein dichterisches Lebenswerk geworden war, und berichtete noch einmal von seinem Einsatz, der im Grunde nichts anderes war als die Besinnung auf das eigene Ich als den Ursprung jeder völkischen Gemeinschaft. Es waren die Gedanken und Empfindungen, die er in seinen Monumentalwerken "Das gelobte Land", "Hans im Glück" und "Totenreich", und vor allem in seinen herrlichen Erinnerungen "Unterwegs zu mir selbst" schon ausgesprochen hatte, Gedanken und Empfindungen, die einmalig sind und heute noch Wert und Wirkung besitzen. Und noch einmal grüßte der greise Dichter Deutschland, das Land, das ihm in seiner Jugend so viel gegeben hatte und das er darum liebte, heiß, innig. …

Es waren Gefühle ganz wunderlicher Art, als ich spätabends nach Kopenhagen zurückfuhr, Gefühle, einem großen Menschen begegnet zu sein, der ein großer Dichter war und vielleicht ein noch größerer Richter. Diese Gefühle haben mich seitdem nicht verlassen, wie die Augen, die brennenden, suchenden Augen des alten Mannes im Schlafrock, die durch das Dunkel leuchten, mahnend, warnend, rufend. Pontoppidan ist tot; aber sein Geist lebt, heute noch, immer. Und auch für uns. …

 
[1] besøget har således fundet sted mellem 1.9.1939 og 9.4.1940. Søiberg blev formand for Forfatterforeningen i efteråret 1939. tilbage