Wenn die Wildgänse vorüberziehen

Adolf hieß ein achtbarer Mann und Familienvater, der sein Brot als Bürovorsteher eines Ministeriums verdiente. Wie so viele andere rechtschaffene Ehemänner bevorzugte er ländliche Friedlichkeit und Einsamkeit gegenüber dem Trubel der Großstadt und lebte deshalb im Villenviertel Frederiksbergs in einem kleinen einstöckigen Haus hinter einem weißgestrichenen Lattentor und einem Garten, der groß genug für drei Menschen gleichzeitig war.

Die Villa hieß Mon Cœur und bestand aus – wie Adolf sich unveränderlich ausdrückte – fünf kleinen Herzensräumen, "richtig behaglichen". Sie lag etwas weit von Freunden und Bekannten entfernt, doch weder Adolf noch seine Frau waren von der Sorte, die ihre Zeit mit gesellschaftlichem Leben vergeudete. Sie verbrachten die Abende lieber zu Hause, wo sie einander aus dem ein oder anderen vernünftigen, bestenfalls lehrreichen Buch vorlasen, einem historischen Roman oder einem Reisebericht. Zuweilen spielten sie eine Partie Bézique, bevor sie zu Bett gingen – allerdings kam es nicht oft dazu, und in jedem Fall dauerte das Spiel nie besonders lange, da Leopoldine eine schlechte Verliererin war.

In Adolfs Augen war das aber auch fast ihr einziger Fehler. Er war ein glücklicher Mann.

Jeden Morgen war zu sehen, wie seine kleine, runde Gestalt auf dem Weg zum Büro über den Gammel Kongevej spazierte. An der Hand hielt er seine zehnjährige Tochter, die er jeden Tag zur Schule begleitete; und vor dem Schultor verabschiedeten sie sich mit einer kurzen, herzerweichenden Szene, die vorbeigehende alte Damen vor Freude die Köpfe nach ihnen umdrehen ließ. Dann ging er schnelleren Schrittes weiter in die Stadt, Ehrfurcht ausstrahlend mit seiner geheimnisvoll aussehenden Aktentasche, die sein bescheidenes Butterbrot, die Morgenausgabe der Berlingske1 und ein Paar kamingetrocknete Socken beinhaltete.

So war der achtbare Mann Adolf. –

Eines Tages, als er nach Hause kam, nachdem er die vorgeschriebene Stundenanzahl auf seinem Bürostuhl verbracht hatte, mit einem wohltuenden Gefühl, seinen Platz in der Welt auszufüllen, ein Vorzeigestück für seinen Stand, seinem Familiennamen eine Ehre und seinen Kindern ein nachahmenswertes Vorbild zu sein, fand er auf seinem Schreibtisch einen Brief von seinem Kindheitsfreund Feliks vor.

Der – ein Arzt – war auch Ehemann und hatte, trotz einer ziemlich unsteten Jugend, allmählich die Wertschätzung seiner Mitbürger wiedergewonnen und sich eine einträgliche Praxis erarbeitet. Dennoch versetzte der Anblick der Handschrift den achtbaren Adolf ein wenig in Unruhe, und erst, nachdem er sich vergewissert hatte, allein in der Stube zu sein, öffnete er den Brief und las ihn. Zu den – im Übrigen recht unschuldigen – Ausschweifungen, die er sich ab und zu insgeheim genehmigte, wurde er nämlich von diesem Freund verleitet, der aus seinen Junggesellentagen eine Vorliebe für kleine Abstecher in Restaurants und lange L'hombre-Abende mit hohen Einsätzen und starken Havannazigarren bewahrt hatte. Deshalb konnte Leopoldine ihn auch nicht leiden.

Diesmal war aber etwas anderes im Gange. Adolf las den Brief dreimal durch und sank dann leichenblass auf einen Stuhl.

Der Freund teilte ihm nämlich in ein paar – offenbar sehr hastig aufgeschriebenen – Zeilen mit, er habe seine Praxis veräußert, sich von seiner Frau scheiden lassen und würde noch am gleichen Abend mit einer "hochgeschätzten Freundin" ins Ausland reisen. Er fügte hinzu, falls Adolf sich von ihm verabschieden wolle, so könne er ihn bis sieben Uhr im Hotel X antreffen. Er selbst sehne sich danach, vor der Abreise noch einmal die Hand seines alten Freundes zu schütteln und ihm sich mündlich näher zu erklären.

Nachdem sich die erste Bestürzung gelegt hatte, tauchte folgende halbvergessene Begebenheit in Adolfs Erinnerung auf:

Vor ein paar Wochen waren er und Feliks durch die Løvstræde geschlendert. Im Schaufenster eines Trödelladens, über dem ein Schild mit dem Namen Isac Cohn hing, war Feliks ein altes Silberschmuckstück ins Auge gesprungen, in das er sich sofort verliebte; deshalb waren sie hineingegangen, um sich nach dem Preis zu erkundigen. Das Geschäft war ein dusterer, faulig riechender Raum, vollgestopft mit allerlei Gerümpel, von Violinen bis zu verschimmelten Stiefeln. Ferner wurde das Unbehagen durch die seltsame, beinahe feierliche Stille gesteigert, die dort herrschte. Noch nach mehreren Minuten war niemand aufgetaucht, weshalb sie beschlossen, zu gehen. Im gleichen Augenblick – fast so, als hätte man nur darauf gewartet – bewegte sich aber eine verblichene, dunkelrote Portiere im dunklen Hintergrund, und ein junges, schwarzäugiges und schwarzhaariges Mädchen, augenscheinlich die Tochter des Hauses, kam in der Türöffnung zum Vorschein. Dort blieb sie halbabgewandt stehen und fragte recht unfreundlich, was sie wünschten.

Adolf hatte sich kein besonders lebhaftes Bild dieses jungen Mädchens eingeprägt. Er erinnerte sich gerade so an einen sehr roten Mund und eine äußerst wohlgeformte Brust in einem schwarzen, enganliegenden und nicht ganz fleckenfreien Leibchen. Stattdessen wusste er noch genau, wie Feliks, als sie wieder auf der Straße waren, ihre Schönheit in den höchsten Tönen gelobt hatte. Er hatte von ihrer "wilden Scheuheit" gesprochen, sie als shakespearesk bezeichnet, als eine Wiedergeburt der Jessica, und so weiter. Jetzt fragte Adolf sich mit Entsetzen, ob diese schmutzige Judengöre2 die besagte "hochgeschätzte Freundin" sein könnte.

"Wer hat dir geschrieben?", fragte Leopoldine, die aus der Küche gekommen war und nun mit einer großen Latzschürze, dem Schmuck einer jeden guten Hausfrau, in der Tür stand.

Adolf schreckte auf und fing an, durch die Stube zu laufen. Ganz verwirrt – mit dem Brief in der geballten Faust – teilte er seiner Frau die empörende Botschaft mit.

Leopoldine gehörte zu der Sorte seelenstarker Frauen, die – wenn es nicht gerade um Niederlagen beim Kartenspiel oder einen zerbrochenen Teller geht – in allen Lebenslagen wohltuenden Gleichmut bewahren. Sie erklärte, das überrasche sie ganz und gar nicht, und fügte hinzu, dass sie Feliks schon immer für einen Schurken gehalten habe.

"Aber das ist doch vollkommen schwachsinnig", regte sich Adolf weiter auf. "Seine Frau und vier Kinder zu verlassen … und das in seinem Alter … ausgerechnet jetzt, wo er endlich zu seiner Spezialisierung auf Bandwürmer gefunden hat … er hat sich langsam einen Namen, Karriere gemacht! Aber es wird auch nicht dazu kommen. Klein-Dina, stell die Fruchtsuppe auf den Tisch! Ich will mit ihm sprechen. Dieses Verbrechen darf nicht begangen werden. Gleich nach dem Essen gehe ich zu ihm!"

Adolf fand seinen Freund in dem im Brief angegebenen Hotelzimmer vor, schwer damit beschäftigt, seine letzten Sachen zu packen.

"Dann ist es also wirklich wahr!", rief Adolf beim Anblick der offenen Koffer und der übrigen bunten Reiseausrüstung, die im Zimmer verteilt lag.

Feliks war ein großer, rotbackiger und kräftig gebauter Mann, der mehr einem Vendsysseler3 Gutsherrn als einem Kopenhagener Bandwurmspezialisten ähnelte. Wenn Leopoldine und andere rechtschaffene Hausfrauen ihn nie hatten leiden können, lag das zum Teil daran, dass sie instinktiv Angst vor ihm hatten. Besonders seine Augen gefielen ihnen nicht – ein Paar kleine, unruhige Rattenaugen, funkelnd vor Lebenslust und Mannesmut.

"Danke fürs Kommen", sagte er und drückte warm die Hand seines Freundes. "Bitte – setz dich doch und lass uns reden, ich habe noch eine Viertelstunde. Du warst bestimmt überrascht, kann ich mir denken!"

"Du meinst es also wirklich ernst, Feliks! Du verlässt deine – –"

"Und wie! Noch zehn Mal mehr, wenn es sein müsste", unterbrach er ihn sofort und legte ihm den Arm um die Schultern. "Verurteile mich nicht! Du stehst hier vor dem glücklichsten Menschen auf der Erde."

Adolf ließ sich auf einen Stuhl fallen, den Regenschirm zwischen den Knien.

"Ich verstehe dich nicht, Feliks! Von deinem Leichtsinn wusste ich ja, … aber das! Noch vor vierzehn Tagen hast du deine Frau geliebt, deine Kinder vergöttert … und jetzt! Gott im Himmel! Wie ist das denn passiert?"

"Ja, erklär du’s mir! Wie geschehen Wunder? … Dass ich alter Mann noch so viel Glück vor mir habe! Ich verstehe es selbst nicht! … Nein, sag nichts, Adolf! Es nützt nichts, dass du mich zur Vernunft bringen willst!"

"Gestattest du mir bloß eine Frage, Feliks? Die Dame, die dich … so ganz unvoreingenommen … auf deiner Reise begleitet, das ist doch um Gottes Willen nicht –"

"Jessica aus der Løvstræde. Richtig geraten!"

Adolf sprang auf.

"Das ist doch Schwachsinn, Feliks! Die Tochter eines Trödelhändlers! Eine Jüdin!"

"Ein Kind der Sonne – ja. Eine Herumtreiberin, ganz wie ich. Ein stolzer Wildvogel – du! – und mir wurde das Glück zuteil, sie aus ihrem schimmligen Käfig zu befreien! Deshalb liebt sie mich! Wie soll ich das sonst erklären? Nein … schweig! Frag nicht weiter! Wir sind hier auf heiligem Boden! … Und ich weiß ja selbst auch nichts!"

Adolf hatte sich wieder gesetzt.

"Und jetzt gehst du also", sagte er nach einer langen Minute Stille. "Für immer?"

"Ja! Der Boden brennt mir unter den Füßen … ich muss fort! Wie du dir vorstellen kannst, habe ich einige schlimme Tage hinter mir … und fürchterliche Nächte … besonders wegen der Kinder. Doch das ist jetzt vorbei. Auch wer Kinder hat, hat doch ein Recht auf Glück, nicht wahr? Und – wie gesagt – jetzt ist es vorbei! … Fast!"

Das letzte Wort fügte er mit halblauter Stimme hinzu, während er sich über die Stirn strich und eine Sekunde die Augen schloss.

"Für meine Frau und die Kinder habe ich gesorgt", fuhr er daraufhin fort. "Ich besitze jetzt auf der ganzen Welt nicht mehr als das, was du hier siehst – und ein bisschen Reisegeld. Das wird wahrlich nicht nur eitel Sonnenschein für sie, die Arme! Aber sie ist zu allem bereit, – hat sie gesagt. Und zum Glück gibt es für einen Arzt ja überall Arbeit."

"Und wohin … zieht es dich … euch?"

"Ich weiß nicht so recht. Vorläufig nach Amerika, – schließlich war ich da schon mal. Von dort vermutlich in die weite Welt … auf irgendeine kleine Insel im Stillen Ozean vielleicht … was weiß ich!"

"Guter Gott, Feliks! Mitten unter Barbaren!"

"Sicher, das ist Wahnsinn! Das weiß ich doch! Ich bin aber nun mal verrückt. Und doch beneide ich euch andere nicht! … Lass mich in Frieden fahren!"

Adolf ging gedankenversunken nach Hause. Obwohl es ein dunkler, nebliger Abend war, nahm er einen Umweg über mehrere Seitenstraßen, da er den Drang nach Abkühlung verspürte. Feliksʼ glühende Leidenschaft hatte die Luft um ihn herum erhitzt, seine Wangen brannten.

Als er endlich wieder bei Mon Cœur angelangt war und vor dem weißen Lattentor stand, empfand er den Platz vor dem Garten zum ersten Mal etwas eingeschränkt. Außerdem störte ihn an diesem Abend, dass er den Mantel in der Diele nie ausziehen konnte, ohne mit den Handknöcheln an die Wand zu stoßen.

In der vom Kachelofen gewärmten innersten Herzkammer des Hauses saß Leopoldine und nähte an einem ausgetretenen Hausschuh, und obwohl dies ein keineswegs ungewohnter Anblick war, setzte er ihm zu, auch fühlte er sich ein wenig angegriffen von der recht unsanften Art und Weise, mit der sie ihrer Unzufriedenheit über seine lange Abwesenheit Ausdruck verlieh.

"Liebe Dina", sagte er mit einer für ihn ungewohnten Bestimmtheit. "Du musst mir verzeihen, dass ich in einer so ernsten Angelegenheit nicht auf die Zeit achten konnte. Alles in allem … hat es etwas Unangenehmes … etwas Belastendes …, sich immer so kontrolliert zu wissen. Du würdest mir einen Gefallen tun, liebe Dina, diese Angewohnheit abzulegen."

Daraufhin begann er, ohne den verblüfften Blick zu beachten, mit dem seine Frau ihn angesichts dieses Redeergusses angesehen hatte, von dem Ergebnis seines Besuchs zu berichten.

"Da war leider nichts zu machen", sagte er mit einem verhältnismäßig mild bedauerndem Schulterzucken. "Es ist ja auch immer so eine Sache, sich in solche Angelegenheiten einzumischen. Man kann schließlich – so als Außenstehender – schwerlich den Wert solcher Beweggründe beurteilen – –"

"Du verteidigst doch nicht etwa –"

"Keineswegs, liebe Dina!", unterbrach er sie, indem er mitten im Zimmer stehenblieb und mit einer abwehrenden Bewegung die Hand hob. "Ich meine bloß, dass man – zu einem gewissen Grad – doch das Recht der Leidenschaft und großen Gefühle anerkennen muss."

"Das Recht?", wiederholte Dina mit ihrem groben Tonfall. "Von Frau und Kindern wegzurennen, … und obendrein wegen eines solchen Frauenzimmers!"

"Ja, Liebes – man ist wohl zu anfällig dafür, die Bedeutung des Standesunterschieds in solchen Sachen überzubewerten. In Liebesangelegenheiten, meine Gute, gelten Jugend und Schönheit nun mal mehr als Gräfinnentitel."

Er hatte das mit dem Anflug eines leichtsinnigen Lächelns gesagt und setzte seinen Gang durch das Zimmer fort, indem er beide Hände in die Hosentaschen steckte und mit seinen Schlüsseln rasselte.

Dina antwortete nicht, und alles in allem wurde nicht mehr über die Sache gesprochen. Adolf setzte sich mit einer Zeitung an den Tisch, und zum ersten Mal seit elf Jahren war es, als weilte eine Gewitterwolke über den fünf kleinen Herzensräumen.

Adolf war nicht weit davon entfernt, in der ungewohnten Situation ein Gefühl der Zufriedenheit zu empfinden. Diese Elektrizität in der Luft behagte seinem Selbstgefühl. Er sagte sich, dass er im Grunde überhaupt nicht für ein so wohlreguliertes Büromannsdasein wie dieses geschaffen war. Auch in ihm schlummerten mächtige Leidenschaften, wilde Triebe, die er vielleicht in etwas zu hohem Grad zu unterdrücken versucht hatte. Feliks hatte nicht ganz Unrecht. Auch diejenigen, die Kinder hatten und verheiratet waren, hatten Anspruch auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit.

Ihm kam eine Dame in den Sinn, ein junges Fräulein, das einem Konditoreiverkauf in Vesterbro vorstand, wo er auf dem Rückweg vom Büro ab und zu vorbeikam, um ein bisschen Konfekt für die Kinder mit nach Hause zu bringen. Er glaubte, durchaus sagen zu können, dass er einen gewissen Eindruck bei dieser jungen Dame hinterlassen hatte. Wahrlich hatte er in seinen kleinen Annäherungen ihr gegenüber niemals vergessen, was er Dina schuldig war; doch manchmal, wenn sie allein im Geschäft waren, hatte er sich dennoch einen etwas dreisten Scherz mit ihrer Hand erlaubt, ja, bei einer einzigen Gelegenheit ihr sogar über den runden Arm gestrichen, ohne dass sie ihm das in irgendeiner Form übelgenommen hätte. – –

Es klingelte in der Diele. Das Hausmädchen kam herein und überbrachte der Frau die abendliche Post, die aus einem hausmütterlichen Wochenblatt und einem Brief bestand. Beim Anblick von Letzterem errötete Dina leicht. Mit einer schnellen Fingerbewegung ließ sie ihn unter einem der Bücher auf dem Tisch verschwinden, woraufhin sie – etwas nervös – sich dem Mädchen widmete und ein Gespräch über Haushaltsangelegenheiten begann.

Sobald das Mädchen gegangen war, hob Adolf den Blick von seiner Zeitung und sagte:

"Liebe Dina, könntest du dir bitte angewöhnen, deine Küchengeschäfte woanders als ausgerechnet im Wohnzimmer zu erledigen? Das wirkt so … so einengend. Ein Zuhause ist doch mehr als ein Speiseschrank und eine Schlafkammer."

"Gerne doch", antwortete seine Frau mit der ihr eigenen, ausgeprägten Sinnesruhe. "Wobei es dir ja sonst an Interesse für Küchenangelegenheiten nicht mangelt, Adolf … im Gegenteil."

"Was meinst du?"

"Erst gestern hast du doch um Erlaubnis gebeten, die Frikadellen zu braten, … und das Haushaltsbuch würdest du ja auch am liebsten selbst führen."

"Ach ja", antwortete er, immer röter werdend. "Ich möchte dich ja ungern überlasten. Ich tue diese Dinge wirklich nicht zum Vergnügen, und es ist nicht gerade nett von dir, meine Aufmerksamkeit mit spitzen Bemerkungen zu entlohnen. Und überhaupt, Dina – inzwischen redest du mit mir in einer Art, mit der ich mich nicht abfinden kann. Ich muss nun ausdrücklich – –"

Nun aber war Dinas Geduld am Ende.

"Jetzt hältst du den Mund", sagte sie auf ihre ehrliche Art. "Wenn du nur Stunk machen willst, dann geh auf dein Zimmer."

Wenn sie in diesem Ton sprach, wurde Adolf für gewöhnlich schnell überzeugt und beendete die Diskussion. Heute jedoch sprang er auf und sagte mit vor Zorn zitternder Stimme:

"Verweist du mich etwa aus meinem eigenen Wohnzimmer! Davor solltest du dich hüten, Dina! Ich könnte Ernst machen und dann – dann wirst du dich noch wundern!"

Obwohl er die letzten Worte nach einer Kunstpause und mit geheimnisvoller Betonung sagte, entgegnete Dina wieder vollkommen ruhig, sogar mit einem Lächeln:

"Da jagst du mir ja richtig Angst ein, Adolf!"

"Mach dich nur lustig. Vielleicht beruhigt dich der Gedanke, dass ich es nie übers Herz bringen würde, irgendeinen … entscheidenden Schritt zu tun. Aber da kennst du mich schlecht, Dina! Ich sage dir, – ich werde fürchterlich, wenn man mich reizt. Da kenne ich keine Rücksicht mehr, keine Schranken – –"

Er war einen halben Schritt auf sie zugekommen, und um seinen Worten noch mehr Gewicht zu verleihen, nahm er ein Buch vom Tisch und hob es über seinen Kopf. Hierdurch wurde jedoch der Brief offenbart, den Frau Dina so behände dort versteckt hatte, und dessen rosenfarbener Umschlag Adolf jetzt stutzen ließ.

"Was ist das für ein Brief?", fragte er.

"Das ist meiner … um den brauchst du dich nicht zu kümmern."

Die Eile, mit der Frau Dina ihre Hand über den Brief legte, damit er die Aufschrift nicht lesen konnte, und ihn danach in die Tasche ihres Kleides steckte, machten ihn jedoch misstrauisch.

"Es kommt mir so vor, als würdest du in letzter Zeit recht viele Briefe erhalten, Dina?"

Und als sie nicht antwortete, fuhr er fort:

"Ich will mal nicht hoffen, dass du ein Geheimnis vor mir hast. Von wem ist der Brief?"

"Das sage ich dir nicht."

"Sieh an, sieh an! Und wenn ich darauf bestehe? Ich bin doch schließlich dein Mann und Herr des Hauses. Hörst du? Ich verlange, diesen Brief zu sehen."

"Du verlangst –!"

"Ja, das steht mir zu. Du wolltest wohl gerne die Alleinherrscherin in diesem Haus sein, Dina, aber von heute an wird sich hier etwas ändern! Und als Erstes verlange ich, dass du mir den Brief zeigst!"

"Ja, ja – wenn es dir zusteht – na dann bitte sehr! Hier ist er. Es ist im Übrigen bloß eine Fotografie von mir und der Kleinen. Schließlich hast du dir schon lange ein Bild von uns gewünscht. Du hättest es erst am Donnerstag zu deinem Geburtstag bekommen sollen – aber nun hast du eben einmal deinen Willen bekommen."

"Was ist – warum nimmst du ihn nicht?", fuhr sie fort, als Adolf vor ihr stehenblieb, ohne den Brief entgegenzunehmen.

"Dina!", stammelte er; seine Lippen bebten, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Plötzlich ergriff er reumütig ihre Hand und bedeckte sie mit Küssen: "Dina, – kannst du mir verzeihen?"

Am folgenden Morgen spazierte Adolfs kleine, runde Gestalt wieder glücklich lächelnd über den Gammel Kongevej, die ehrfurchteinflößende Aktentasche unter dem Arm und das kleine Schulmädchen an der Hand. Am Nachmittag ging er auf dem Heimweg vom Büro in die Konditorei in Vesterbro. Da die Jungfrau ganz allein im Geschäft war, setzte er sich einen Augenblick an die Theke, um ein wenig mit ihr zu plaudern, und als er wieder ging, tätschelte er ihr väterlich den Arm.

Beim Abendessen sagte Dina, die den Vormittag am Schreibtisch mit einem langen, mütterlich sanften Ermahnungsbrief an einen jungen Theologiestudenten verbracht hatte, der einmal wöchentlich kostenlos bei ihnen zu Abend aß, und dessen Leidenschaft bei Frau Dinas ansehnlicher Person aufgeflammt war:

"Ich habe mir gedacht, Adolf, dass du deinem ehemaligen Freund Feliks, wenn er dir schreibt, – was er vermutlich tun wird – nicht antworten solltest. Es wäre sicher auch am besten, wenn du überall – bei Bekannten und im Ministerium – zu verstehen gibst, jeglichen Kontakt zu ihm abgebrochen zu haben. Es könnte sonst deiner Karriere schaden."

"Sehr richtig, kleine Dina! Genau das habe ich mir auch gedacht. Menschen wie Feliks sind wahrhaftig gefährlich. Solche Leute ohne jegliche Selbstbeherrschung zerstören die Gesellschaft im Grunde mehr als die eigentlichen Verbrecher. Ihre wahre Heimat ist wirklich bei den Barbaren.”

Und Adolf hielt Wort. Obwohl Feliks aus der Ferne einen Brief nach dem anderen schickte, beantwortete er keinen davon. Er war ein redlicher Mann. Neulich wurde er auch befördert, und er hofft, in naher Zukunft Dina mit der langersehnten kleinen Rosette im Knopfloch überraschen zu können.

So war, ist und bleibt der achtbare Mann Adolf bis in alle Ewigkeit.

 
[1] Berlingske. Dänische Tageszeitung, bürgerlich-konservativ. tilbage
[2] Adolf äußert und verhält sich in der Erzählung antisemitisch. Das Beibehalten des im Original identischen Ausdrucks spiegelt nicht die Haltung der Übersetzerin wider. tilbage
[3] Vendsyssel. Ländliche Region im Norden Jütlands. tilbage