Das Lied der Meerjungfrau

An einem stillen, hellen Sommerabend hatte sich eine Gesellschaft von Damen und Herren nach einem lebhaften Abendmahl im Grünen hinaus aufs Meer rudern lassen, um der Sonne beim Untergehen zuzusehen.

Für über eine Stunde trieben sie auf der Strömung umher, während sie hingerissen das lodernde Farbspiel auf der Wasseroberfläche betrachteten, das noch lange hin- und herwechselte, nachdem die glühende Kugel in die Tiefe gesunken war. Zuerst wurde das Wasser tief weinrot, dann pflaumenfarben, ja für einen Augenblick sogar völlig braun, so als ob es mit Borke bestreut worden sei. Danach wechselte es eine Zeit lang zwischen Violett, Orange, Gelbgold und sehr hellem Kupfergrün, bis alle Farben schließlich verblichen, und das Meer wie eine matte Fläche aus phosphoreszierendem Glas dalag.

In der Zwischenzeit war es spät geworden, und das Gespräch war nach und nach ganz zum Erliegen gekommen.

Manche aus der Gesellschaft lehnten sich an die Reling und starrten über die Meeresoberfläche, so als ob sie noch auf eine Fortsetzung des prachtvollen Schauspiels warteten. Im Bug saßen zwei junge, sommerlich gekleidete Frauen umschlungen zusammen und sahen verträumt zu der krummen Mondsichel hoch, die sich fast beschämt mit ihrem bleichen, kränklichen Schein in dem hellen Dunst der Sommernacht über den Himmel schlich. Alleine auf einer Bank schwärmte ein junges Ehepaar, Wange an Wange und eingehüllt in dasselbe Umhängetuch, während sie sich treu an den Händen hielten.

In der Mitte des Bootes saß ein alter Lotse mit einem langen, zotteligen Bart und ließ seine Arme auf einem Paar schwerer Riemen ruhen.

Obwohl die Strömung sie bereits ein gutes Stück vom Festland abgetrieben hatte, sprach keiner von ihnen davon umzukehren. Sie alle waren so sehr in Träumereien vertieft, dass sie fast keine Macht dazu hatten, sich loszureißen.

Allmählich war es um sie herum still geworden. Auch eine Schar Strandvögel, die eine Zeit lang in ihrer Nähe geschrien hatten, waren zuletzt still geworden. Entlang des Himmelsrands lag zu allen Seiten ein rötlicher Dunst, unter dem sich die mattweiße Fläche des Meeres wie ein ungeheuerlicher Zauberspiegel ausstreckte, in dem sich hier und dort mal ein funkelnder Stern spiegelte.

Plötzlich erklang weit vom Meer her ein sonderlicher Laut, ein sanfter, melodischer Klang.

Alle erhoben ihre Köpfe, und fast zeitgleich riefen sie lächelnd:

"Was ist das? … Musik!"

Sofort verstummte der Klang. Aber die ganze Gesellschaft blieb mit gespitzten Ohren sitzen, als ob sie darauf warteten, dass der Laut wieder ertönte.

Das tat er dann auch – leise, klagend, so wie ein entferntes Harfenspiel.

"Das war ja sonderbar!", sagte einer. Und alle sahen einander verblüfft an.

Denn weit und breit war nirgends ein Boot oder sonst irgendein Zeichen menschlichen Lebens zu finden, und von der Küste waren sie viel zu weit entfernt, als dass der Laut von dort herandringen könnte.

"Was in aller Welt kann das denn sein?", fragten mehrere, einer nach dem anderen.

Aber das Geräusch hielt an. Und es erschien auch zwischenzeitlich, als ob es sich näherte und sich plötzlich verstärkte – da rückten die Damen unwillkürlich zusammen und nahmen einander an den Händen.

Zuletzt wurde der gesamten Gesellschaft von dieser nächtlichen Musik, die man sich nicht erklären konnte, ganz wunderlich zu Mute. Einer der Herren weckte den Lotsen, der eingeschlafen war, und fragte ihn, was es sein könnte. Aber der Alte, der taub war, und den die Teilnahme an dem lebhaften Abendmahl verdrießlich gemacht hatte, hob nur für einen Augenblick schlaftrunken seinen Kopf und murmelte etwas über Reiher – wonach er wieder sanft auf seine Riemen niedersank und weiterschlief.

"Psst!", zischte kurz darauf einer der Herren, ein junger Arzt, und erhob sich. "Lasst uns jetzt alle zusammen auf einmal richtig gut hinhören, dann finden wir heraus, was das ist."

Darüber wurden sie sich einig.

Und als sich das Geräusch zum nächsten Mal vernehmen ließ, saßen sie alle mehrere Minuten lang atemlos da und lauschten.

"Verdammt! Es muss doch irgendwo ein Boot in der Nähe sein", unterbrach schließlich der Arzt die lange Stille und stieg ungeduldig auf eine Bank. Dann legte er die Hände an den Mund, und in der Totenstille rief er nun über das Wasser:

"Hallo! … Ist da jemand? … Hallo!"

Keine Antwort; kein Zeichen. So weit das Auge reichte, nichts außer die selbstleuchtende Meeresoberfläche. Unter dem ganzen stillen, blauweißen Himmelsgewölbe kein anderer Laut als dieses rätselhafte Harfenspiel.

Auf einmal durchfuhr sie alle ein Schaudern. Einige der Damen begannen zu jammern und zuletzt mit Bestimmtheit zu fordern, dass man umkehren solle.

"Weckt den Lotsen und lasst uns heimkehren!", erklang es von verschiedenen Seiten; und als der junge Ehemann in dem Moment aufstehen wollte, um sich noch einmal zu vergewissern, dass sie sich wirklich alleine auf dem Meer befanden, packte ihn seine Ehefrau plötzlich fest am Arm und rief bleich und verängstigt:

"Tu das nicht, Anton! Tu das nicht! … Oh Gott, was ist das denn!"

Nur der junge Arzt bewahrte noch ruhig Blut und sagte streng: "Herr Gott! Wir sind doch keine Kinder! Es ist ja wohl offensichtlich, dass das Ganze eine völlig natürliche Ursache hat. Lassen wir uns doch nicht verwirren. Es glaubt ja niemand von uns tatsächlich an Meerjungfrauen und solchen Spuk. Lasst uns also einfach ruhig bleiben, dann wird sich das Ganze schon noch aufklären!"

Aber unglücklicherweise wachte in diesem Moment der taube Lotse auf. Und als er den Schrecken sah, der allen um ihn herum in die Gesichter geschrieben stand, glaubte er, dass irgendein Unglück geschehen sei, und sprang sofort von der Bank auf und rief:

"Jesses! Was is‘ hier los?"

Der plötzliche Ausruf machte die restliche Beherrschung bei den Damen zunichte – und auch bei einigen Herren.

"Wir wollen heim … Lasst uns umkehren!", erklang es mit ängstlichen Stimmen, und ein sechzehnjähriger Bursche, der die ganze Zeit still dagesessen und über das Wasser gestarrt hatte, warf sich augenblicklich auf einen der zusätzlichen Riemen, während der Doktor vergebens versuchte die aufgeschreckte Gesellschaft zur Vernunft zu rufen.

Einen Augenblick später schoss das Boot durch die kräftigen Züge des Lotsen und vier weiterer Riemen auf die Küste zu.

Sie hatten noch nicht lange gerudert, als ein Herr, der die ganze Zeit völlig still im Heck des Bootes gesessen hatte, plötzlich in schallendes Gelächter ausbrach.

Alle wandten sich ihm verblüfft zu. Aber er lachte nur weiter, sodass er kaum sprechen konnte.

"Ach Gott!", sagte er schließlich. "Was für Feiglinge ihr doch seid! Hier seht ihr das ganze Geheimnis!"

Mit diesen Worten berührte er etwas Unsichtbares in der Luft vor sich. Es war der Sturmriemen an seinem Hut, den er mit einem Ende heimlich an einem Nagel am hintersten Mast befestigt hatte, während er den Hut fest auf den Kopf gedrückt und sich zurückgelehnt hatte. Die dünne, elastische Schnur war dadurch stark gestrafft worden. Und auf eben dieser Saite hatte der Nachtwind seine wundersamen Melodien gespielt.

Nach dieser Erklärung stieg man stumm und etwas kleinlaut wieder an Land. Nur der Doktor triumphierte. Alle anderen meinten hingegen, es sei ein sehr unangebrachter Spaß gewesen. Man solle auf keinen Fall Scherze mit "solchen Sachen" treiben.

Und obwohl sie nun alle wussten, dass es mit ganz natürlichen Dingen zugegangen war, verblieb ihnen hartnäckig das unheimliche Gefühl, sich mit verborgenen und übernatürlichen Geistern eingelassen zu haben. Ja, auch der junge Spaßvogel, der der Meister des Erschreckens gewesen war, hatte lange danach keine Lust dazu, sich nachts aufs Meer zu begeben, um zu angeln, was er bis dahin immer gerne getan hatte.