Eine kleine Stadt

Die Ernte war gerade eingefahren, als ein junger Mann, ein junger Akademiker namens Andreas Ursin, als kommissarischer Adjunkt1 für Geschichte und klassische Sprachen an die Lateinschule in der Stadt kam.

Er war studierter Philologe und bereits ein kleiner Wissenschaftler, da er kurz vor seiner Ankunft die Goldmedaille der Universität für eine Abhandlung über Cassiodorus erhalten hatte. Doch sein Wesen war ebenso wenig das eines Pedanten wie sein Äußeres das eines Bücherwurmes.

Er war ein aufgeweckter und humorvoller, gut aussehender junger Mann mit blondem Vollbart, krausem Haar, aufrechter Haltung und kräftigem, leicht untersetztem Körperbau, ein fröhlicher und amüsanter Gesprächspartner, galant zu den Damen, höflich zu allen. Er tanzte vorbildlich, schien einer rosigen Zukunft entgegenzusehen und war gerade von einer Reise auf Staatskosten durch Italien, Griechenland und Frankreich zurückgekehrt – kurzum: Er war wie dafür geschaffen, Aufsehen zu erregen und Anklang zu finden bei den Leuten in diesem kleinen Nest, die in den letzten zehn Jahren ihre Bewunderung niemand anderem zukommen lassen konnten als einem verblichenen Dragonerrittmeister, dessen geschwärzter Schnauzbart, blau geflecktes Gesicht, blutunterlaufene Augen, dünne, wackelige Beine und bodenlose Verschuldung seinen Ruhm schon längst hatten verblassen lassen und ihm sogar des Neides der jungen Kaufleute auf sein vornehmes Monokel und den Orden auf seiner wattierten2 Brust beraubt hatten.

Andreas Ursin selbst war sich sowohl seiner äußeren als auch inneren Vorzüge voll und ganz bewusst. Er hatte sogar eine leise, wohl begründete Ahnung, dass sein Vorgesetzter ihn dazu auserkoren hatte, eine Rolle im Schicksal dieser kleinen Stadt zu spielen, indem er frisches Blut in ihre kläglich dahinsiechende Schule bringen sollte, die im Laufe der Jahre unter einem Dutzend alter, schimmeliger Lehrer und einem ziemlich verstaubten Greis von einem Rektor zum Gespött des ganzen Landes verkommen war.

Doch Andreas Ursin war sowohl zu klug als auch zu vorsichtig, um sich diesen Verdacht anmerken zu lassen, und achtete im Allgemeinen sorgfältig darauf, sich nicht die geringste Blöße zu geben.

Er wusste sehr wohl, wie unermesslich wenig nötig war, um einen Neuankömmling in einer solchen Umgebung in Verruf zu bringen, wie aufmerksam die Kritik und wie reizbar das Ehrgefühl in einer solchen Kleinstadt stets waren, wie scharfsinnig man jede Art von Vergehen beobachtete, und wie auch nur der kleinste Verdacht der Einheimischen, dass er sich ihren einfachen Verhältnissen überlegen fühlte, ihm augenblicklich zum Verhängnis würde.

Gegenüber seinen alten, vom Staub, Schimmel, Tabak, Mühsal, Trinken oder Hunger vollkommen abgestumpften Kollegen an der Schule, sowohl den Adjunkten als auch den einfachen Aushilfslehrern, gab er sich daher anfangs als bescheidener junger Mann, der gerne von der Erfahrung der Älteren lernen wollte – und vor allem tat er dies gegenüber dem ziemlich geistesschwachen Rektor, einem antediluvianischen Ober-Langweiler, der, wann immer er ihm in den dunklen Gängen der Schule begegnete, seinen großen, roten, kahlen Sokrateskopf auf seinem dünnen, schlaffen Hals emporreckte und ihn durch seine Hornbrille anstarrte, als ob er ihn noch nie gesehen hätte und nicht wüsste, wohin er ihn verweisen sollte. Nur hin und wieder, wenn die Umstände der Schule sie miteinander ins Gespräch brachten, konnten die leeren Augen des Alten plötzlich lauernd aufblitzen – als ob auch ihm allmählich dämmerte, dass er hier seinem Untergang gegenüberstand.

So wie Andreas Ursin bei seinen Kollegen in der Schule vorging, hielt er es in weiser Voraussicht auch mit der restlichen Stadtbevölkerung.

Auf der Straße grüßte er alle Bürger der Stadt, große wie kleine, mit derselben ausgesuchten Höflichkeit, wobei er stilvoll seinen gestärkten braunen Hut mit ausgestrecktem Arm zog und ihn dann mit einer selbstbewussten Bewegung, die ihm hervorragend stand und dabei auch noch vertrauenerweckend und energiegeladen wirkte, wieder auf den Kopf setzte. Im gesellschaftlichen Leben bewegte er sich überall mit dem schicklichsten Anstand, recht anspruchslos und ein kleines bisschen unsicher – ganz wie ein Fremder, der bangt, die Sitten eines Ortes zu missachten – und darüber hinaus mit einem passenden Ausdruck von stiller Begeisterung über alles, dessen Zeuge er wurde, als ob all das für ihn neu und angenehm überraschend wäre. Mit den Damen unterhielt er sich lebhaft über die neuesten Neuigkeiten der Stadt, während er – ein wenig kokett – mit ihren Fächern spielte und verstohlen zu der kleinen Rose an seinem eigenen schwarzen Anzug hinabspähte, dessen eleganter Schnitt und passender, fantasievoll gebundener Schlips seiner Erscheinung wirklich zu Glanz verhalfen. Geduldig und mit betonter Aufmerksamkeit hörte er dem selbstgefälligen Landrat zu, und er lachte mit den anderen Herren, wenn der Bruder Lustig der Stadt, der Polizeidirektor, bei einem Toddy seine "kriminellen" Geschichten erzählte; selbst mit dem kleinen, grillenartigen Pfarrer suchte er das Gespräch, wenn er ihn – wie üblich – einsam in einer Ecke stehen sah, die Hände vor der Brust gefaltet, das Taschentuch ellenlang aus der Gesäßtasche hängend und mit einem lobgesangartigen Brummen sanft vor- und zurückwippend, während er scheinbar über seine große, blaue, dicke Brille hinweg dem Herrgott kameradschaftliche Blicke durch die Gipsdecke zuwarf. Bei den alten, ungebildeten, fast bäuerlichen Kaufleuten der Stadt fiel es Andreas Ursin am schwersten, den richtigen Ton zu treffen; immer sahen sie ihn schweigend mit einem Blick an, der ihn geradezu durchbohrte, und mit einem mürrischen Mund, der sich zu einem höhnischen "Grünschnabel!" zu verziehen schien. Doch mit den Mitgliedern des Stadtrats und anderen führenden Männern sprach er interessiert über das Wasserwerk, die neue Hafenmole, das Ausspülen der Rinnsteine, das verbesserte Müllabfuhrsystem und ähnliche kommunale Maßnahmen, und dabei nannte er die Stadt in einem Atemzug mit London und Berlin, ohne eine Miene zu verziehen. Von sich selbst hingegen, von seinen Reisen und Erlebnissen, erzählte er so gut wie nie; und wenn jemand das Gespräch auf seine wissenschaftlichen Verdienste lenken wollte, seine einmaligen Untersuchungen und seine Goldmedaille, unterbrach er ihn regelmäßig mit einem unwiderstehlichen Lächeln, als wollte er sagen: Nun lassen Sie uns doch nicht über Bagatellen reden! Kurz gesagt: Er wollte Anklang finden und diese kleine Stadt schon jetzt für sich einnehmen, war er doch dazu bestimmt, einmal ihr geistiger Anführer zu werden.

Sogar die Schulkinder versuchte er geschickt an sich zu binden, indem er gegenüber den älteren einen fast kameradschaftlichen, gegenüber den jüngeren einen beinahe väterlich beschützenden Ton anschlug – allerdings so, dass sie nicht den nötigen Respekt vor ihm verloren. Es war ihm ein Anliegen, auch hier alle Herzen zu gewinnen, schließlich war er noch jung genug, um von seiner eigenen Schulzeit in Erinnerung zu haben, welch gefährliche Feinde solche Kinder sein können, was für einen scharfen Blick sie für alle kleinen Schwächen haben, und wie unbarmherzig sie ihn gegen einen erst einmal verhassten Lehrer einsetzen können.

Nach alledem ist es also nicht verwunderlich, dass Andreas Ursin höchst erstaunt war, als er sein Ziel trotz all seiner Anstrengungen nicht einmal im Ansatz erreichte. Er verstand nicht, woran es lag; doch er kam nicht umhin, bei jeder Gelegenheit zu fühlen, dass er in dieser Stadt eine Zielscheibe für Kritik war, dass man sich hinter seinem Rücken geradezu über ihn lustig machte.

Zuerst bemerkte er es bei den Schülern, die, schon wenn er sie unvermittelt auf den Gängen oder dem Schulhof ansprach, rot anliefen und verschämt die Augen niederschlugen, als hätten sie ein schlechtes Gewissen zu verbergen. Und ehe er sich versah, hatte sich diese Stimmung schon wie eine ansteckende Krankheit in der ganzen Stadt ausgebreitet. Es war, als läge überall eine verstohlene Heiterkeit in der Luft, sobald er sich blicken ließ. Ob er an einer Gesellschaft teilnahm, sich in einem Geschäft befand oder die Leute auf der Straße grüßte, immer hatte er das Gefühl, als würden sie sich auf seine Kosten amüsieren und einander zuschmunzeln, sobald er ihnen den Rücken kehrte.

Der erwähnte Dragonerrittmeister, der in ihm zunächst den gefürchteten Rivalen gesehen hatte, begann sogar ganz offensichtlich über ihn zu triumphieren. Bei einer großen Abendgesellschaft beim Apotheker, bei der alle Honoratioren der Stadt versammelt waren, hatte er sich beim Abschied, während er mit anderen der Gesellschaft an der Garderobe nach seinen Sachen suchte, schließlich, etwas angeheitert, zu ihm umgedreht und gesagt:

"Entschuldigen Sie, Herr Adjunkt! … Sie haben wohl nichts von meinem Hut gehört?"

Gerade hatte Andreas Ursin arglos verneint, als er bei den Umstehenden eine sonderbare Unruhe bemerkte, die einzig die Frage des Rittmeisters verursacht haben konnte. Einige junge Kaufmänner an der Tür begannen offensichtlich zu kichern, und die Damen fingen plötzlich auffällig eifrig an, sich nach ihren Galoschen zu bücken und ihre Habseligkeiten einzusammeln.

Andreas Ursin war so klug, seine Empörung herunterzuschlucken, auch wenn ihm das Blut heiß durch die Ohren rauschte; – und die ganze Nacht lang wälzte er sich in seinem Bett hin und her und zerbrach sich den Kopf darüber, welch bösartige Anspielung wohl in der Bemerkung des Rittmeisters versteckt gewesen sein mochte. Immer wieder stellte er die Worte auf den Kopf, doch so oft er sie auch wiederholte – er wurde nicht schlau aus ihnen.

Also verwarf er das Ganze, im Bewusstsein über seine ungeheure Überlegenheit. Was daran war überhaupt der Rede wert? Er konnte doch einfach zurücklachen! … Ein verkommener kleiner Rittmeister! … Ein Haufen unwissender Leute! …

Trotzdem begann die Sache bedenkliche Dimensionen anzunehmen. Sogar seine eigenen Kollegen schienen aus ihrem Dämmerschlaf zu erwachen und zu schmunzeln, sobald sie ihn sahen. Selbst die Krämer in den Kellerhälsen und die Holzschuhmacher an den Toreinfahrten kämpften mit einem milden Lächeln, wenn er auf der Straße an ihnen vorbeiging, und in den Ladentüren standen Gehilfen mit Stecknadeln an ihren Mantelaufschlägen und kündigten einander mit erwartungsvollen Pfiffen sein Kommen an. Und wenn er sie dann passierte, verbeugten sie sich mit ausgesuchter Höflichkeit ganz bis zum Boden, geradezu als wollten sie ihn zum Grüßen zwingen, woraufhin sie sich hinter seinem Rücken gegenseitig bedeutungsvoll Hm! und Hu-Hu! und Miau! über die Straße zuriefen.

Am Ende hatte er das Gefühl, dass es kein einziges Kind in der gesamten Stadt gab, das nicht wusste, was man an ihm so lächerlich fand. Doch er selbst hatte trotz all seiner Wachsamkeit und unermüdlichen Nachforschungen nicht die leiseste Ahnung.

Die ganze Sache fiel Andreas Ursin umso schwerer, als er gerade dabei war, sich zu verlieben.

Gegenstand seiner zärtlichen Gefühle war Cecilie, die Tochter des Polizeidirektors – wie es auch zu erwarten war. Wieso hätte er auch der Einzige sein sollen, der nicht in der ruhigen Tiefe dieser großen, dunkelblauen Augen ertrank, die schon so viele Opfer gefordert hatte? Wieso sollte ihre blonde Mähne nicht auch für ihn zu der Falle werden, in der sich sein Verstand verirrte, oder das zarte Grübchen in ihrer Wange die Fallgrube, über der sein vagabundierender Blick schließlich ins Stolpern geriet?

Cecilie Ankersen war nun neunzehn Jahre alt. Die zarte Frucht, die im vollsten Sonnenschein der Stadt aufgewachsen war, beleuchtet von der Gnade allen Glücks, war jetzt reif, bereit, gepflückt zu werden – von dem, der an sie herankam. Der "Goldapfel", wie sie als Kind genannt worden war, als sie an der Hand ihrer aus Seeland mitgebrachten Amme durch die Straßen ging, ihre goldenen Locken offen unter einer kleinen dunkelblauen Samtmütze, mit apfelroten Bäckchen und von der Sonne leuchtenden Augen, und mit ihrem kleinen, seeländisch singenden "Guten Tag", das selbst die steinharten Herzen der alten Bauernkaufleute erweichen konnte, war mittlerweile zum Augenstern aller geworden, Objekt der Anbetung sowohl für die Frauen als auch die Männer, und zuletzt, als seine eigene Mutter starb, gleichsam das gemeinschaftliche Pflegekind der ganzen Stadt, das sie eifersüchtig voreinander behüteten, damit es sich niemand ganz aneignen würde, – dieser "Goldapfel" hing nun reisefertig an seinem Stiel, bereit, sich beim ersten Tau von der glücklichen Hand pflücken zu lassen, die so viel Schmerz verursachen, so viele Wunden aufreißen, so viel Neid hervorrufen und die Hoffnungen so vieler zerstören sollte.

Cecilie wusste selbst, dass ihre Reifezeit um war, und sie spürte eindeutig, dass die Ernte bevorstand.

Auch war ihr nicht ganz unbewusst, wie verlockend sie jetzt gerade war. Bisher hatte sie schon zu viele Augen gesehen, die sie voller Appetit anstarrten; seien es die der Kontoristen im Büro ihres Vaters, die des Rittmeisters hinter seinem Augenglas oder die klitzekleinen Schweinsaugen des mittelalten, ledigen Landrats, der sie beim Silvesterball im Klub nach dem Essen in den kleinen "Wintergarten" hinter dem Saal geleitete, um dort mit ihr auf dem weichen Ecksofa Platz zu nehmen und väterlich mit ihren Fingern zu spielen.

Doch seltsamerweise war Cecilie noch nicht von den Verhätschelungen all dieser Menschen verdorben, ihr Geist noch nicht angesteckt worden von all der heißen Begierde, dem romantischen Verlangen oder der bellenden Brunst, die die Luft um sie herum erfüllten. Sie bewegte sich heiter und sorglos durch alles hindurch, wie eine, die, wenn es ihr nur erlaubt wäre, gern noch eine Weile länger in Freiheit flattern und den leichten Rausch genießen würde, in den sie all diese Huldigungen, diese Schmeicheleien und all diese Blicke, die sie geradezu gierig auffraßen, dennoch versetzten. Sie amüsierte sich immer noch wie ein Kind über diese leidenschaftlichen Annäherungsversuche, diese verdutzten Gesichter und gestammelten Geständnisse, die all diese Herren so komisch aussehen ließen. Und ungezwungen lachte sie darüber, ob es sich nun um den unglücklichen neuen Provisor Spreckelsen handelte, der aus lauter Herzschmerz regelmäßig einen Schluckauf bekam, wenn er sie sah, oder um den Pfarrer selbst, der sie unter großväterlichen, scheinbar unschuldigen Schmeicheleien zu sich in eine Ecke lockte und hinter seiner großen, blauen Brille gefräßig ihren schönen, weißen Hals begaffte, ihren wohlgeformten, wie von jugendlichem Übermut geschwollenen Busen und ihre reizenden Öhrchen mit den winzigen, funkelnden Diamanten in den rosenroten Ohrläppchen, während er mit den Fingerspitzen ängstlich und behutsam ihren entblößten Unterarm tätschelte.

Doch während Cecilie Ankersen unbeschwert in der sonnigen Gegenwart lebte, ohne sich besonders um ihre Aussichten zu sorgen oder gar Pläne für ein sicheres Zukunftsglück zu schmieden, so tat ihr Vater, der Polizeidirektor, Letzteres für sie gleich mit.

Niemand hätte gedacht, dass dieser leichtlebige Polterer, der sich scheinbar nie wirklich um seine Tochter gekümmert und sie stattdessen willentlich der liebevollen Fürsorge der gesamten Stadt überlassen hatte, – niemand wäre darauf gekommen, dass in diesem großen, vom Wein geröteten Kopf tatsächlich Pläne für Cecilies Zukunft gärten – geschweige denn große und kühne Pläne, und dass er bloß nicht so dumm gewesen war, sie irgendjemandem anzuvertrauen oder einfach so auszuplaudern.

Oft, wenn er nachts, nach seiner Heimkehr aus dem Klub, in seinem Zimmer saß, in den üblichen, undurchdringlichen Zigarrenrauch gehüllt, mit Soda und Cognac vor sich auf dem Tisch, sagte er zu sich selbst, sogar recht laut:

"Man darf nicht dumm sein … nie dumm sein. Wenn man schon einmal so einen Schatz zur Tochter … zur Tochter hat … da sollte man an den allerhöchsten Galgen gehängt werden, wenn man sie mit dem erstbesten Lümmel abhauen lässt, der da mit einer Rose im Knopfloch angeschwänzelt kommt. … Aber da wird nichts draus werden, solange ich in der Kommission sitze, wie der Bäcker Konradsen sagt. … Du bekommst schon noch einen Mann, mein Kind, mit dem uns beiden gedient ist, da sorge ich für. … Jetzt müssen wir erstmal die Ohren steif halten, Herr Polizeidirektor! … Du wirst schon sehen, mein Fräulein, das wird schon … das wird schon alles."

Und während er sich so tröstete, stieg vor seinen Augen ein Bild aus dem Nebel auf – das Bild des Landrats, zugeknöpft, mit dunklem Backenbart, länglichem Gesicht, langen, falschen Zähnen, mit unbarmherzigem Lächeln und einem kalten, durchdringenden Blick aus kleinen Schweinsaugen unter dichten, schwarzen Brauen.

Der Landrat war ebenfalls recht neu in der kleinen Stadt, die seit Kurzem insgesamt – wie durch ein gezielt kräftiges Eingreifen auf höherer Ebene – durch verschiedene neue Ämterbesetzungen aus ihrem alten Schlendrian gerissen worden war. Er war noch nicht mal ein Jahr hier, und so hatte Polizeidirektor Ankersen bis jetzt nicht oft die Gelegenheit gehabt, ihn in seinem Haus zu begrüßen. Doch nun entschied er, einen großen und beeindruckenden Festschmaus zu seinen Ehren zu veranstalten, bei dem er alles aufbieten würde, was seiner Eitelkeit schmeichelte. Er hatte nämlich bereits durchschaut, dass genau das diesen Bürokrateneiszapfen schmelzen ließ. Und da er gerade in letzter Zeit seine Tochter heimlich besonders genau beobachtet hatte und sich bestätigt sah, dass ihr Herz nach wie vor frei war, schritt er voller Zuversicht zur Umsetzung seines Plans.

Trotzdem meinte Andreas Ursin, Grund zur Annahme zu haben, dass er dem Fräulein Cecilie nicht ganz gleichgültig sei.

Hätte ihn jemand gefragt, worauf er diese Vermutung stützte, wäre er um die Antwort in Verlegenheit gekommen. Denn in Wirklichkeit hatte Cecilie nie besonderes Interesse an ihm bekundet. So etwas lag nicht in ihrer Natur und hätte auch kaum zu dem lockeren Ton gepasst, den sie gegenüber all ihren wetteifernden Verehrern anschlagen musste, um keinen Unfrieden zwischen ihnen zu stiften.

Gleichwohl meinte er bemerkt zu haben, dass ihre Augen mit eigentümlichem Wohlgefallen auf ihm geruht hatten, als sie sich zum allerersten Mal sahen. Und später rühmte er sich mit dem Glauben, gespürt zu haben, dass nur sie von all dem dörflichen Gemunkel unberührt blieb, das um ihn entstanden war; dass sie als Einzige nicht an dieser törichten Komödie teilnahm, die man hinter seinem Rücken aufführte.

Diese schöne Einbildung machte hundertmal die Torturen wett, die er hier ansonsten erleiden musste. Und vielleicht hatte vor allem ebendiese Einbildung seine zärtlichen Gefühle gespeist und am Ende das Feuer in seinem Herzen die Oberhand gewinnen lassen.

Doch so kam es eines stürmischen Tages, dass er Cecilie und eine Freundin unverhofft auf der Promenade am Wäldchen im Westen antraf.

Als er im Vorbeigehen ehrfürchtig seinen Hut zog, grüßten die beiden scheinbar ruhig und beherrscht. Aber schon aus der Ferne hatte er gesehen, wie sie einander bei seinem Anblick erwartungsvoll angestupst hatten. Und nun, da der Abstand zwischen ihnen so groß geworden war, dass sie sich außer Hörweite wähnten, vergruben sie die Gesichter in ihren Muffen und brachen in offenbar nur mit äußerster Not zurückgehaltenes Gelächter aus.

Doch der Sturm, der aus ihrer Richtung blies, trug ihre Worte weiter als erwartet. Und neben ihrem beherzten Kichern konnten die krampfhaft gespitzten Ohren des Adjunkten die folgenden Bruchstücke eines Wortwechsels aufschnappen.

"Nein, das ist wirklich zu komisch. …"

"Ja, sag du’s mir, kann man da überhaupt anders …"

"Hoffentlich hat der uns nichts angesehen …"

"Und du wusstest das vorher wirklich nicht? ..."

" … Vater … hatte aber gedacht … nur Spaß ..."

"Oh Gott … ganze Stadt … Ottilie hat gesagt … versucht einfach nur, ihn zu treffen. … Denn man könnte ja weiß Gott fast das Schlimmste glauben, oder?"

" … viele … weiter so ..."

" … alleine. … fünf Uhr. … Rittmeister Rosen … Allergrößten. ..."

Andreas Ursin war leichenblass geworden. Er ging gleich heim in seine Wohnung, setzte sich auf sein Rosshaarsofa und sank in sich zusammen. Mit den Fäusten im Bart vergraben und den Ellbogen auf die Knie gestützt starrte er eine geschlagene Stunde lang wie versteinert auf den Boden vor sich.

Welch unbarmherzige Macht trieb hier nur ihr Spiel mit ihm? Was in Gottes Namen fanden alle in dieser Stadt bloß so lächerlich an ihm, dass es ihm den Aufenthalt hier auf Dauer unmöglich machte? Er verstand es schlicht und ergreifend nicht mehr. Denn es musste ja etwas sein, das alle sehen konnten, eine Abnormität, die selbst den Kindern ins Auge sprang. Sein Aussehen konnte es nicht sein. Er wusste doch, selbst wenn er kein Adonis war, war er auch nicht krumm oder schief, lahm oder bucklig. Sein Wesen? Aber hatte er sich denn nicht gleich von Anfang an so anspruchslos gezeigt, so zurückhaltend wie es nur ging, und hatte er sich denn nicht immerzu bemüht, sich so vollkommen wie möglich in diese ihm fremden und ungewohnten Verhältnisse einzugliedern? Wem war er nur auf die Füße getreten? Auf wen in dieser Stadt, sei es jemand von Rang oder der ärmste Bettler, hatte er einmal keine Rücksicht genommen? Woran konnte es bloß liegen? … An seinem Lebenslauf? Hatte man irgendetwas aus seiner Vergangenheit zu Ohren bekommen, das ihn lachhaft erscheinen ließ? Dass er als kleiner Junge in seine vierzigjährige Tante verliebt gewesen war und ihr eine Liebeserklärung gemacht hatte; oder dass er als Student jahrelang vor einem Barbier in der Store Kongensgade salutiert hatte, in dem Glauben, dass es sich um eine sehr hochrangige Person handelte, vor der alle Ehrfurcht hätten – wer sollte denn hier davon wissen? Und selbst wenn – wie schlimm wäre das denn schon? Er selbst wusste von seiner Jugend jedenfalls nur, dass sie voll von Verlust und Entbehrung gewesen war, gepaart mit rastlosem Fleiß. Schon als Student hatte er mit jämmerlich bezahlten Unterrichtsstunden sowohl sich selbst als auch seine kranke Mutter ernährt und trotzdem seine Examen nicht nur besser, sondern auch schneller abgelegt als die allermeisten anderen. War das vielleicht, was man so lächerlich fand? Er meinte, ohne Prahlerei sagen zu können, dass er seinem Stand, seiner Familie alle Ehre gemacht hatte; und bisher hatte er überall auch nur Anerkennung und Zuspruch erfahren, ja, sogar Bewunderung und Neid. War er deshalb nun übermütig oder einfach eitel geworden? Warum machte man sich hier so boshaft über ihn lustig? Warum? Bald zwei Monate lang zerbrach er sich nun schon den Kopf darüber. Doch es war, als kämpfte er gegen einen Zauber an, einen unsichtbaren, hundertköpfigen Troll, den er niemals fangen konnte und der überall in der Luft um ihn herumspukte und ihm mit hundert Zungen immer wieder "Hier!" ins Ohr rief, als ob er ihm den Verstand rauben wollte. Was sollte er tun? In der ganzen Stadt hatte er nicht einen Freund, dem er sich anvertrauen konnte, nicht einen Bekannten, an den er sich wenden und nach einer Erklärung fragen konnte, ohne sich zu demütigen. Woran in Gottes Namen sollte er sich da festhalten? Wie dieses Ungeheuer überwältigen, das – –

Plötzlich klopfte es zaghaft an der Tür, und auf das barsche "Herein" des Adjunkten betrat ein etwa zehnjähriger Junge mit kurzem, blondem Haar und großen, flach anliegenden Ohren das Zimmer. Mit feuerrotem Kopf blieb er an der Tür stehen und trat sich stumm vor Verlegenheit selbst auf die Zehen. Unter dem Arm trug er einen Stapel blaue Schulhefte.

Es war der kleine Karsten, der Sohn des Kämmerers, aus der ersten Lateinklasse, der "Ordnungsdienst" hatte und die Lateinhefte brachte. Eigentlich war er der Lieblingsschüler von Adjunkt Ursin, mit dem er sich oft auf den Gängen oder dem Schulhof unterhielt. Doch heute war der Adjunkt zu sehr mit seinen eigenen Sorgen beschäftigt – er deutete nur geistesabwesend auf einen Tisch neben dem Kachelofen, ohne seine Körperhaltung zu ändern.

"Leg sie da hin", murmelte er.

Der kleine Kerl richtete sich vorsichtig auf und wackelte auf den Zehenspitzen zum Tisch, wo er seine Bürde absetzte; danach wandte er sich wieder eilig und nach wie vor lautlos zurück zur Tür, sichtlich erleichtert, seinen Auftrag so gut überstanden zu haben.

Doch da fuhr ein Gedanke wie ein Blitz durch Andreas Ursins Gehirn. Er hob den Kopf – und gerade, als der Knirps die Hand auf die Türklinke legen wollte, hörte er vom Sofa:

"Hör mal, Karsten – lass uns kurz reden."

Mit einem Schlag war der kleine Jungenkörper wie gelähmt, seine Hand fiel schlapp nach unten, und er drehte sich nicht einmal um, bis der Adjunkt seine Aufforderung wiederholte.

Selbst dann näherte er sich nur zögernd, Schritt für Schritt, mit wie vor Schreck starren Bewegungen und dem schlechten Gewissen deutlich in seinen Augen erkennbar, die dem Adjunkten ausweichen wollten und ratlos immer wieder zur entgegengesetzten Seite des Zimmers flackerten.

"Nun, komm schon, mein Junge", wiederholte der. "Du musst keine Angst haben … ich will nur kurz ein Wort mit dir sprechen … na, ist schon gut … komm einfach her … so … nimm den Finger aus dem Mund, Junge … und sag mir jetzt mal, … du hast die Schulhefte mitgebracht? …"

Das arme Kerlchen stand am ganzen Leib zitternd vor seinem Lehrer, obwohl der beruhigend seinen kugelrunden Bürstenkopf tätschelte und freundlich auf ihn einredete. Er fragte ihn über sein Zuhause aus, fragte, ob es seiner Mutter besser ginge, ob sein Vater aus Kopenhagen zurück sei, und kam von einer Frage über die kleine Schwester Rikke behutsam dazu, über die Schule zu sprechen, über den Unterricht, seine Klassenkameraden und – ganz vorsichtig – die Lehrer; bis es zuletzt aus ihm herausbrach:

"Sag mal, ihr habt ja natürlich auch Spitznamen für eure Lehrer, oder? … Habt ihr doch? … Na, na, keine Angst … ich will euch ja nicht verpetzen, ihr kleinen Racker. … Aber sag mir … lass mal hören. … Wie nennt ihr zum Beispiel mich? … Na, raus damit. Ich weiß doch, dass ihr einen Namen für mich habt. … Also, wie nennt ihr mich?"

Es war, als würde dem Jungen bei dieser Frage das Blut in die Wangen und von dort in die großen Ohren schießen, bis diese schließlich aussahen, als würde es bald aus ihnen heraustropfen. Doch als Andreas Ursin, trotz aller freundlicher Überredungskunst, nichts aus ihm heraus bekam, begann er in seinem Eifer, laut zu werden, am Ende sogar zu drohen und zu befehlen – denn jetzt hatte er das Gefühl, der Sache endlich auf der Spur zu sein.

"Hörst du? … Du sagst mir das jetzt", brüllte er fast.

Doch der Junge schwieg noch immer.

"Ich bin dein Lehrer", fuhr er fort, "und ich will es wissen. … Du hast nichts zu befürchten, egal was es ist … aber ich will, dass du es mir sagst … verstehst du? … Ich lasse dich nicht gehen, bevor du es mir gesagt hast."

Bei den letzten Worten schüttelte er in seiner Hitzigkeit den mit den Tränen kämpfenden Jungen so heftig, dass das Kerlchen völlig die Fassung verlor. Und erst da – und während der Adjunkt das Ohr ganz nah an seinen Mund hielt – kam es ihm endlich leise über die zitternden Lippen:

"Knicker."

"Knicker!", wiederholte Ursin halblaut und sah sich um.

"Knicker! … Was soll das denn bedeuten? … Warum habt ihr mir so einen Namen gegeben? … Na, warum?", fing er wieder eindringlich an. Doch weil ihm schnell klar wurde, dass der Junge sich eher rädern lassen würde, als eine Erklärung für das Wort über die Lippen zu bekommen, ließ er ihn schließlich matt los.

"Geh", sagte er bloß, während er langsam zurück in seine Sofaecke sank.

Dort blieb er noch lange sitzen, nachdem sich die Tür hinter dem unglücklichen Knaben geschlossen hatte, und grübelte vor sich hin.

"Knicker!" – "Knicker", wiederholte er immer wieder für sich, – blickte an sich hinab, stand schließlich auf und betrachtete seine unteren Extremitäten. "Es muss irgendetwas mit meiner Figur zu tun haben. Habe ich denn krumme Beine, 'geknickte' Knie? Ich hatte immer den Eindruck, dass ich sogar ganz gut geraten wäre. Oder ist es meine Nase?" – er ließ den Zeigefinger den Nasenrücken entlanggleiten – "Hat die einen Knick? Man hat mir doch immer gesagt, dass sie ausgesprochen schön geformt ist. Aber was ist es dann? – Meine Arme, mein Rücken? … Knicker! … Knicker! … Was soll das denn heißen! Zum Teufel, die können das doch nicht völlig aus der Luft gegriffen haben. Die müssen doch irgendetwas an mir komisch finden." …

Er begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Nun glühte er erst recht vor Eifer. Er musste der Sache auf den Grund gehen. Jetzt, da er ziemlich sicher endlich den Schwanz des Ungeheuers zu fassen bekommen hatte, wollte er auch dessen Gesicht sehen und ihm die Giftzähne aus dem Schlund brechen.

Plötzlich hielt er inne; er hatte einen Entschluss gefasst. Er wollte noch am selben Nachmittag Adjunkt Carlsen aufsuchen, denjenigen unter seinen Kollegen, dem er sich noch am nächsten fühlte, – und ihn einfach direkt fragen, ob er von dem Spitznamen wusste, unter dem er in der Stadt oder zumindest bei den Schülern bekannt war, und dessen Ursprung kannte. Im Grunde war Carlsen doch bestimmt ein guter Kollege, der sicher weder sein Vertrauen missbrauchen noch ihn hinters Licht führen würde. –

Gleich zog er seinen Mantel an, setzte seinen Hut auf, knöpfte sorgsam seine neuen Spazierhandschuhe zu und steckte seinen braunen, mit einem kleinen Achatknopf versehenen Stock unter den Arm. – Er wollte ohne zu zaudern zur Tat schreiten.

Doch bevor er das Zimmer verließ, blieb er noch einmal, auf seinen Stock gestützt, in dieser vollen Aufmachung vor dem Trumeauspiegel3 stehen. Und während er sein Bild darin betrachtete, fragte er sich zum zehntausendsten Mal, wie es sein konnte, dass irgendjemand, geschweige denn eine ganze Stadt, irgendetwas Lächerliches an ihm finden könnte. Er meinte, entweder er oder die Stadt müssten verrückt sein – eine andere Erklärung konnte er sich nicht vorstellen – und so war es nicht verwunderlich, dass er zu dem Schluss kam: Es war die Stadt. Wenn er sich so von den Stiefelspitzen bis zur Krone seines braunen Huts ansah, konnte er beim besten Willen nichts anderes sehen, als dass er wirklich ein schöner Mann war, und nicht nur gewöhnlich schön, sondern mit eleganter Haltung und makellosem Geschmack. Oder waren dieser Mantel, diese Hose, diese nur ein wenig spitzen Stiefel, waren sie etwa nicht alle von passender Farbe und passendem Schnitt, weder zu modern noch zu augenfällig altmodisch? Oder gab es irgendetwas Auffälliges an diesem Hut, irgendetwas Anstößiges an diesen Handschuhen?

Er schüttelte den Kopf, als wollte er noch einmal sagen: Ich verstehe es nicht – und stieg schweigend die knarrende Treppe hinunter. Als er durch die Straße eilte, meinte er nun, hinter jedem gewohnten, halb unterdrückten Lächeln in allen Gesichtern, denen er begegnete, das Wort "Knicker" lesen zu können. Selbst zwei schlaksige Schuljungen aus der Abschlussklasse, die an ihm vorbeikamen, brachen nur ein paar Schritte von ihm entfernt ganz ungeniert in Gekicher aus; und in seiner aufgeheizten Stimmung war er kurz davor, sich umzudrehen und den beiden Lümmeln mitten auf der Straße einen gehörigen Rüffel zu erteilen, doch im selbem Moment erblickte er weiter unten in der Gasse den alten Oberlehrer Asmussen und verkniff sich daher mit aller Macht seinen Zorn.

Der alte Oberlehrer kam in seinem gewohnt schleppenden Gang über den Bürgersteig getrottet, die eine Hand auf den Rücken seines langen braunen Kalmuckmantels4 gelegt, in der anderen schwang er langsam seinen Rohrstock.

Indem Adjunkt Ursin ihn passierte, grüßte er hastig – er brannte vor Ungeduld, Adjunkt Carlsen zu erwischen, um endlich dieses unbegreifliche Rätsel zu lösen.

Doch als er nun selbst im alten Mumiengesicht des Oberlehrers das bleiche Gespenst dieses verhassten Lächelns erkannte, ein launiges Schmunzeln hinter dem hohen Kragen, konnte er sich nicht mehr beherrschen. Ganz außer sich vor Wut ging er geradezu auf den alten Mann los, forderte eine Erklärung, fragte laut, warum er gelacht hatte, und machte zuletzt, ohne sich selbst richtig darüber bewusst zu sein, seiner ganzen Leidensgeschichte hier mitten auf offener Straße Luft.

Zu Beginn hatte der alte Oberlehrer diesen erbosten jungen Mann etwas verblüfft angesehen; doch sobald er verstand, um was es in dessen verwirrter Rede eigentlich ging, lächelte er wieder mild über seinem Vatermörder5 und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter.

"Mein lieber junger Freund", sagte er schließlich gutmütig. "Nehmen Sie sich die Sache doch nicht so zu Herzen … das ist doch nur eine Bagatelle."

"Aber was denn? Was denn?", rief Andreas Ursin, ganz außer sich.

"Ruhig! Ruhig! Nun regen Sie sich nicht so auf. … Hier sind doch Leute auf der Straße. … Das Ganze ist doch gar nicht der Rede wert."

"Aber ich muss doch wissen, was es ist."

"Ja sicher, sicher … eigentlich ist es merkwürdig, dass es Ihnen selbst noch nicht aufgefallen ist. Es ist ja nur, mein lieber Freund, dass … wenn Sie grüßen …"

"Mein Gruß? Stimmt damit etwas nicht? Grüße ich etwa nicht respektvoll genug?"

"Doch, doch, sogar ausgesprochen respektvoll – nun kommen Sie mal zur Ruhe, Mensch. … Es ist eigentlich auch gar nicht Ihr Gruß, sondern … nun ja, Ihr Hut …"

"Mein Hut?", wiederholte Ursin, nahm jenen unwillkürlich ab und betrachtete ihn. "Das ist doch ein ganz normaler Filzhut, so wie ihn die meisten Leute tragen."

"Ja, ja, ja", unterbrach ihn der Alte. "Aber setzen Sie doch um Himmels Willen den Hut wieder auf den Kopf … es können doch jeden Moment Schüler vorbeikommen. Was sollen die denn denken? … Eigentlich ist es auch nicht der Hut. … Es ist nur, wenn Sie so grüßen und den Hut dabei so schnell ziehen, dann – Haben Sie das nicht bemerkt? – dann macht die Krempe immer so lustig 'Knick' … so ein ganz kleines 'Knick' …"

"Knicker!", entfuhr es dem Adjunkten halblaut.

"Sehen Sie, das ist einfach einmal jemandem aufgefallen. Dann hat der es zufällig weitererzählt, und am Schluss haben wir uns alle ein bisschen darüber amüsiert, wenn wir Ihnen begegnet sind – denn es klingt wirklich ziemlich drollig", sagte der Alte und lächelte wieder ganz liebenswürdig bei diesem Gedanken. – "Ja, das ist schon alles, mein lieber Freund. Das ist doch nichts, was man sich zu Herzen nehmen muss – Herrgott, die Leute brauchen in so einer kleinen Stadt ja auch etwas zur Belustigung, oder?" – –

Andreas Ursin ging beschämt heim.

Was für eine Dummheit! Was für ein Nest! Wegen solch einer Bagatelle war er zum Gespött einer ganzen Stadt geworden!

In seinem Zimmer angekommen stellte er sich hin und zog seinen Hut, genauso wie er es zu tun pflegte, wenn er einen Bekannten grüßte. Er streckte zügig den Arm aus, und – ja – die Krempe gab tatsächlich ein leises "Knick" von sich. Und das war wirklich alles? Es gab sonst nichts, worüber sie gelacht hatten? Er probierte den Gruß noch einmal, und noch einmal, zweimal, immer wieder – er lächelte – es klang tatsächlich ziemlich drollig. – Knick, knick, machte der Hut. – Und das war wirklich alles! –

Am nächsten Tag kaufte sich Adjunkt Ursin einen neuen Hut. Im Geschäft zu stehen, wo die Verkäufer vor unterdrücktem Kichern fast platzten, war für ihn ein erneutes Fegefeuer – ganz zu schweigen von den ersten Tagen, an denen er sich mit seiner neuen Kopfbedeckung auf der Straße zeigte, einem schicken, weichen, hellgrauen Hut, der ihm hervorragend stand und mit dem er zu Hause eine ganze Stunde lang eine Büste von Oehlenschläger gegrüßt hatte, um sich zu vergewissern, dass sich kein verdächtiges Geräusch in ihm versteckte.

Doch als sich die Leute allmählich an Adjunkt Ursins neuen Hut gewöhnten, vergaßen sie auch die Geschichte mit dem alten. Und rascher, als er selbst geglaubt hätte, lebte er sich nun in der Stadt ein. Denn in Wirklichkeit mochten ihn die Leute; und sogar Cecilie Ankersen begegnete ihm bald wieder mit der alten Unbefangenheit.

– – –

Aber haben die beiden sich denn nun gefunden? Und wie ist es dem Polizeidirektor, dem Landrat und dem unglücklichen Provisor ergangen? Ja, davon darf ich den Lesern des Tilskueren vielleicht ein andermal erzählen.

Dies ist nur die Geschichte von Adjunkt Ursins Hut. Und da der ja nun aus der Welt ist, geht diese Erzählung auch nicht weiter.

Henrik Pontoppidan.

 
[1] Adjunkt: Berufsbezeichnung für einen Gymnasial- oder Universitätslehrer in Dänemark, der noch am Anfang seiner beruflichen Laufbahn steht. tilbage
[2] wattiert: mit einem Futter aus Watte gepolstert. tilbage
[3] Trumeauspiegel: schmaler, hoher Wandspiegel zwischen zwei Fenstern oder Türen, oft über einem Konsoltisch oder einer Kommode angebracht. tilbage
[4] Kalmuck: robuster, schwerer Baumwollstoff. tilbage
[5] Vatermörder: hoher Stehkragen. tilbage