Jugend

Erzählung

1

Seit vier Tagen hatte es ununterbrochen geschneit. Und obgleich es noch früh im Winter war, Anfang Dezember, war der Schnee überall auf der Erde liegengeblieben, hatte sich in den Gräben aufgehäuft, hinter den langen Steinmauern auf den Feldern angesammelt und die Häuser und Gärten in den Dörfern halb begraben.

Und je weißer die Erde wurde, desto schwärzer wurde der Himmel, desto tiefer senkte er sich über die zugedeckten Äcker und die schneeverwehten Bäume, die das weiße Laken immer enger an sich zogen, als würden sie frieren.

Alles in allem hatte in dieser Gegend seit Mitte November ein Herrgottswetter geherrscht. Und sobald der Mond nach St. Martin wieder entzündet worden war und der Bauer seine Hackfrüchte geerntet hatte, öffneten sich die Himmelsschleusen und die Stürme brachen los. Tag und Nacht hatten sie seither ununterbrochen getobt. In dunkelblauen Wolkensäcken hatten sie sich über den Fjord geschleppt und dessen Wasser wie mit einem gewaltigen Seifenquirl aufgepeitscht, sodass gelbliche Schaumflocken weit auf die Äcker geschleudert wurden. Hier hatten sie auf ihrem Feldzug durchs Land vielerorts die Wintersaat aufgewühlt, das Schilf im Moor plattgedrückt und die Gräben mit Erde und Sand verstopft, sodass das Wasser nicht abfließen konnte und sich auf Feldern und Straßen ausbreitete. Es war ein grausamer Anblick. An vielen Stellen lagen Vögel, die der Sturm auf die Erde geschlagen und getötet hatte, überall sah man umgestürzte Bäume, aufgewühltes Saatgut oder umgeknickte Telegrafenstangen, deren geplatzte Metalldrähte sich wie große Spiralen auf dem Weg kräuselten. Im Dorf Skibberup war eines Nachts ein alter Scheunentorflügel mit einem solchen Krachen zusammengestürzt, dass die Leute überall vor Schreck aus den Betten gesprungen und in bloßer Wäsche auf die Straße gestürzt waren; und in Vejlby hatte der Sturm nicht weniger als fünf Schornsteinrohre umgeworfen und alle Starenkästen des Propstes aus den Bäumen im Pfarrhofgarten geweht. Es war ein förmlicher Orkan gewesen.

Nicht einmal den Propst selbst hatten die Himmelsgewalten verschont, als er eines Nachmittags, während das Wetter gerade seinen Höhepunkt hatte, auf die Steintreppe trat, um die Zerstörung in Augenschein zu nehmen. Ohne Ansehen der Person hatte der Sturm da den Hut von seinem weißen Kopf gehoben, wie einen Ball auf die Erde geworfen, ihn wie ein Rad durch das Tor rollen und trotz aller Anstrengungen mit in eine aufgewirbelte Staubwolke genommen – außer Sichtweite. Erst weit außerhalb hatte er seine Beute in einem Graben hinter ein paar Rotdornbüschen freigelassen, um sich dann auf ein kleines Mädchen zu stürzen, das sich weinend den Heimweg von der Schule zur Gemeindeweide entlangkämpfte, gehüllt in einen großen Schal, sodass nur die rote Nasenspitze hervorschaute. Wie ein ausgelassener Teufel heulte der Wind um es herum, blähte sich unter seinen Kleidern auf, drängte das kleine, erschöpfte Ding beständig weiter an den Wegesrand, warf es schließlich ganz über den Haufen und ließ es unter Verzweiflungsschreien die Böschung hinunter in eine tiefe Mergelgrube kullern, auf deren Grund einige Ausgesandte am Tag darauf die Leiche fanden, eine neue Ausgabe der Schulbibel1 verkrampft beschützend in den Armen haltend.

Seit Menschengedenken hatte man so etwas nicht mehr erlebt.

"Gott beschütze die Seefahrer!", riefen die Leute einander durch das Donnerwetter zu, wenn sie sich auf der Dorfstraße begegneten, schräg gegen den Sturm ankämpfend oder ihn im Rücken tragend.

"Da kann sich glücklich schätzen, wer gut eingedeckt ist", dachten die Daheimgebliebenen in ihren halbdunklen Stuben, wo man selbst mitten am Tag kaum die Zeitung entziffern konnte, während es um einen herum pfiff, klapperte und toste, als wären alle bösen Geister über das Dorf hergefallen.

In den Ställen hatten die Pferde die Ohren gespitzt und zitterten jedes Mal vor Angst, wenn der Wind auf das Dach peitschte und über den Giebel zischte. Die Kühe, die man von der Weide hatte treiben müssen, brüllten die ganze Nacht um die Wette, als würde es brennen; ja, selbst die Katzen miauten wie verrückt, und die Hunde krochen mit eingezogenem Schwanz umher und schnüffelten unruhig.

… Als sich das Wetter endlich ein wenig beruhigt hatte, war es, als wäre der Schnee mit seinen weißen Horden wie die samaritanische Nachhut eines vorstürmenden Heers eingetroffen, so barmherzig deckte er die Abscheulichkeit der Zerstörung mit seinem Unschuldsmantel zu, versteckte die umgestürzten Bäume an den Wegesrändern, häufte sich auf den zerschlagenen Zäunen und aufgerissenen Strohdächern.

Vier volle Tage und Nächte waren Himmel und Erde eins.

Doch es gab auch viele, die in diesen Tagen und Nächten heimlich ihr Innerstes durchsuchten und schweigend ihre Bilanz mit Gott zogen, als wäre das Jüngste Gericht wirklich nah. Selbst als man es am Abend des vierten Tages endlich wagte, seine Türen und Fenster vom Schnee zu befreien, überlegten viele beim Anblick dieser großen, einsamen, blauweißen Schneewüste im hervorbrechenden Mondschein, in die Dorf, Land und Fjord verwandelt worden waren, "wogegen" all das wohl gerichtet sein könnte, also, ob es nicht womöglich eine Warnung sei, eine himmlische Verkündigung des ein oder anderen bedeutsamen Ereignisses, das in naher Zukunft über das Dorf, die Gemeinde oder vielleicht das ganze Land kommen sollte.

2

Im Studierzimmer des Propstes saß an diesem Abend ein junger, fremder Mann. Er war am Tag zuvor nach verschiedenen Abenteuern auf den Landstraßen und schneebedingten, unfreiwilligen Aufenthalten in Gasthöfen inmitten des heftigsten Treibens des Schneesturms angekommen.

Er war von mittlerer Größe, dünn und trug lange, neue, schwarze Kleidung, wozu ein Paar moderne Spitzschuhe und Manschettenknöpfe aus Schildpatt von der Größe eines Zweikronenstücks einen eigenartigen Gegensatz bildeten. Sein Kopf war im Verhältnis zu seinem Körper etwas zu klein, sein Gesicht blass und schön, seltsam kindlich und halb greisenartig zugleich, je nach Ausdruck. Er hatte Sommersprossen auf den Händen, schönes, rotblondes, an den Spitzen leicht gelocktes Haar und einen weichen, hellen Flaum auf dem Kinn und dem obersten Teil der Wangen.

Ihm gegenüber saß in einem pompösen Ohrensessel mit gepolstertem Nackenkissen – einem wahrhaften Thronstuhl – Propst Tønnesen persönlich, eine beeindruckende Erscheinung von einem Prälaten, drei Ellen2 groß, mit schneeweißem, dicht gestutztem Haar, unter dem man die rote Kopfhaut erspähen konnte, einem glattrasierten, blutreichen Gesicht mit geschwollener, stark hervorstehender Unterlippe, langen, dichten, dunklen Brauen, die ihm wie ein Paar Gewitterwolken über den Augen hingen, und einer großen, fleischigen Nase, deren Löcher wie die mancher Raubtiere voller fester, grauer Borsten war. Die Tränensäcke waren von dieser aschgrauen Farbe, und die Augen hatten diesen unangenehm stechenden Blick, wie ihn manche Leute haben, die unter saurem Aufstoßen leiden. Sein kurzer, dicker Hals und die blutunterlaufene Haut deuteten auf veranlagte Apoplexie hin. Noch war seine Haltung aber rank wie die eines Häuptlings und strahlte unerschütterliches Selbstvertrauen aus.

Seine Kleidung war tadellos. Man sah sofort, dass er großen Wert darauf legte, Stoffe ohne Makel zu tragen und ihm seine Aufmachung insgesamt alles andere als egal war. Er trug einen langschößigen, grauen Mantel, eine dünne Halskette aus Gold über einer Weste aus Baumwollsamt und einen Karneolring am linken Zeigefinger, was alles zum Glanz seiner Gestalt beitrug. Obendrein rauchte er würdevoll eine Pfeife mit langem, steifem Rohr.

Während der Propst ununterbrochen redete, saß der junge Fremde stumm und mit angespanntem Ausdruck in seinen blauen, merkwürdig tiefliegenden Augen da. Er hielt eine erloschene Zigarre in der mageren, weißen Hand und fummelte wie aus alter Gewohnheit fieberhaft an seinen Barthaaren herum, während er mal geistesabwesend zum Propst schaute, dann direkt vor sich, wo die Studierlampe die Stube in ein grünliches Dämmerlicht tauchte. Oft strich er sich hastig die langen Strähnen aus der Stirn, wie um ungebetene Gedanken zu vertreiben. Genauso oft versank er aber wieder in seiner vorigen Haltung und starrte mit zerstreutem Blick geradewegs durch den Kopf des Propstes hindurch. Es war, als jagten Gedanken und Entscheidungen durch sein Inneres und ließen ihm keine Ruhe.

Nicht weit von ihm entfernt stand die Flügeltür zur Wohnstube offen, einem großen, gemütlichen Raum mit Teppichen und lithographischen Darstellungen des Leidenswegs Christi an den Wänden. Hier saß die Tochter des Propstes unter einer Hängelampe mit rosarotem Schirm und arbeitete an einer Straminstickerei.

Rundherum war alles still. Es schien, als wäre jedes unbekannte Geräusch im Schneemeer ertrunken. Bis auf die kräftige Stimme des Propstes war nur das behagliche Grollen des Ofenfeuers und das monotone Nachplappern eines Papageis zu hören, der in einem Käfig in der Wohnstube beim Fräulein saß und seine meeresgrünen Federn putzte.

"Was ich Ihnen in diesem Zusammenhang nun unbedingt und mit Bedacht mitteilen wollte, ist mit wenigen Worten: Es ist nicht nur unser Recht, sondern unsere Pflicht gegenüber dem Herrn, dem wir dienen und dessen Reich wir mit Verantwortung verwalten, die bedingungslose Autorität und Befugnis der Kirche geltend zu machen. Die guten, alten, patriarchalischen Verhältnisse, die früher zwischen Gemeinde und Seelenhirte geherrscht haben, sind – leider! – bald nur noch Geschichte. Und wessen Schuld ist das? Wer ist es, der nun seit Jahren systematisch, wenn auch – wie man zu glauben wagt – unwissentlich die Autorität der Kirche untergraben und den hergebrachten Respekt der Leute für die von Gott eingesetzten Lehrer niedergeschlagen hat? Sind es die sogenannten Freidenker? Die offensichtlichen, unverschämten Gottesverweigerer? So munkelt man. Doch glaub ihnen nicht! Das sind falsche Zungen! Nein, in den eigenen Kreisen der Kirche setzt die Verwesung ein. Es ist jene unglücksschwangere Strömung, die wie verpestete Luft aus den Tiefen des Abschaums aufgestiegen ist, und die ihren giftigen, erstickenden Atem auf der Welt verbreitet. Es ist diese Erfindung des Teufels, dieses Streben nach Freiheit und Gleichheit, das unter anderen Namen nun auch seinen Weg in die Kirche gefunden hat und dort seine zersetzende Wirkung entfaltet, nicht nur in vereinzelten jugendlichen Hitzköpfen, sondern – leider! – bei den Geistlichen selbst. Wo soll das hinführen? Ich frage Sie, Herr Pastor Hansted, wo soll das hinführen?"

Der junge Fremde war der Kaplan des Propstes, auf dessen Ankunft man nicht bloß im Pfarrhof, sondern in der ganzen Gemeinde gespannt gewartet hatte. Nicht zuletzt Propst Tønnesen selbst hatte sich auf dieses Treffen vorbereitet und seit über einer Woche täglich an der Belehrung gefeilt, die er seinem jungen Lehrling nun mit einem solchen Selbstbewusstsein vortrug. Ihm fiel selten ein so intelligenter Zuhörer in den Schoß, der die Klarheit eines Gedankens oder die Form eines Satzes zu schätzen wusste, und er ließ seiner Wortgewandtheit deshalb freien Lauf. Anfangs hatte er über die allerältesten Patriarchen3 gesprochen, daraufhin seine Sicht auf die ganze Geschichte der Juden präsentiert und in diesem Zusammenhang auch ausführlich einige interne Streitigkeiten bei den Makkabäern erwähnt, von denen er nämlich vor Kurzem zufällig in einer Zeitschrift gelesen hatte. Nachdem er danach "einen Blick" – wie er sich ausdrückte – auf die Geschichte des Christentums, die Reformation und die Revolution geworfen hatte – gelang es ihm, innerhalb von zwei Stunden mit dem fertig zu werden, was er das Fundament für spätere Betrachtungen nannte, und ging dann zu seinem eigentlichen Thema über: der Stellung des Seelenhirten im Verhältnis zu Gott, der Gemeinde und den weltlichen Mächten in der Gegenwart.

Der Kaplan war ein recht junger Mann, gerade fünfundzwanzig geworden. Und da der Bischof ihn nur wenige Tage zuvor feierlich geweiht hatte, ließ Hansted den Erfahrenen allein deshalb gehorsam ununterbrochen weitersprechen und beschränkte sich auf eine bescheidene Zustimmung hin und wieder, wenn der Propst innehielt und damit zu erkennen gab, dass er eine erwartete. Alles in allem fühlte er sich von seiner neuen Würde offenbar noch etwas überfordert. Besonders wenn der Propst ihn direkt mit "Herr Pastor" ansprach, wurde er ein bisschen rot und sah schüchtern auf seine Stiefelspitzen.

Propst Tønnesen fuhr fort:

"Einer der in letzter Zeit verderblichsten Auswüchse des Gemeindelebens, ein, wenn ich so sagen darf, Krebsgeschwür der heutigen Kirche, sind diese ihr Unwesen treibenden Hausierer, diese predigenden Schuhmacher und Schneider, vollkommen unwissende Menschen, die – passen Sie auf! – von Pfarrern mit der Befugnis ausgesandt werden, um im Namen der heiligen Kirche Zeugnis abzulegen! Ich kann nicht begreifen wie sich in gewissen Amtsbrüdern eine derartige Blindheit ausbreiten konnte, dass sie nicht einsehen, wie sehr eine solche Vorgehensweise die Würde, die Autorität zerstört, die – das kann man, unter uns gesagt, wohl kaum leugnen – dem einfachen Mann wahrhaftig nicht vorenthalten werden darf, der schließlich vollkommen außer Stande ist, die wahre Überlegenheit einzuschätzen und geistliche Eigenschaften zu bewerten. Für diesen schicksalsträchtigen Mangel an Disziplin, der in letzter Zeit im dänischen Pfarrerstand herrscht, sind derartige Ausschweifungen ein trauriger Beweis. Und was ist die Konsequenz? Sind die Früchte nicht schon zu sehen? Sind diese Schuhmacher- und Schneiderzeugen in den Augen der Leute nicht schon Wunder der Wortgewandtheit, halbe Propheten geworden, um die sich überall Scharen bilden und deren Floskeln und Phrasen die Gemeinde demoralisieren, sodass sie zuletzt kein Ohr mehr für eine ordentlich durchdachte und wohlformulierte Predigt, keinen Sinn mehr für die Festlichkeit des Gottesdienstes übrighat? Es ist wahrlich nur wenige Tage her, dass sich mir ein solches dahergelaufenes Individuum, nicht einmal ein ordentliches Hemd am Körper, als Kollege vorstellte und noch dazu – stellen Sie sich vor! – die Frechheit hatte, um Erlaubnis zu bitten, die Kirche für seine eigenen Predigten zu nutzen. So weit sind wir schon gekommen! Landstreicher auf der Kanzel, Verbrecher vor dem Altar! Schuhmachergesellen und Lehrlinge als geistliche Vertreter! So stark ist der Glanz der Kirche verblichen. Noch dazu hat sie an Ansehen verloren. Wo soll das hinführen? Das frage ich Sie, Herr Pastor Hansted, wo soll all das hinführen?"

Propst Tønnesen, der seinen wohlüberlegten Vortrag in einem ruhigen, würdevollen Ton begonnen hatte, hatte sich allmählich in eine immer größer werdende Leidenschaft hineingesteigert. So lange er sich noch auf den fernen Gräbern der alten Juden und Makkabäer bewegte, glitt sein Redefluss mit einer selbstgefälligen Pause bei jedem neuen Satz und einer sorgfältigen Betonung jedes Wortes dahin, als genösse er die Abgerundetheit seiner Abschnitte insgeheim selbst und wöge die Schwere seiner Gedanken auf der Zunge ab, ehe er sie aussprach. Doch sobald er sich den brennenden Fragen der Zeit näherte, begann es in ihm zu kochen. Die fransigen Gewitterwolken zogen sich zusammen, seine dunklen Augen durchschoss ein Blitz nach dem anderen, und seine Stimme bekam einen bedrohlichen Unterton – wie ein langsam herannahender Donner, der nun bei der Erwähnung der unglücklichen Hausierer schließlich mit voller Kraft losbrach. Das Blut war ihm gewaltig in den Kopf gestiegen, er bebte förmlich vor Leidenschaft. Bei den letzten Worten richtete er sich sogar zu seiner vollen Größe auf, als wollte er auf der Stelle zum Kampf aufrufen.

Daraufhin begann er mit dröhnenden Schritten schnaufend auf- und abzuwandern, stopfte – wie um sich zu beruhigen – seine Pfeife an einem Tabaktisch in der Zimmerecke, riss einen Fidibus von einem Bündel am Pfeifenbrett und drehte sich vor dem Anzünden wieder zum Kaplan, der ihn in der Zwischenzeit mit alarmierter Aufmerksamkeit betrachtet hatte.

"Ich hoffe", sagte er, indem er vor ihm stehenblieb und ihn durchdringend ansah. "Ich hoffe, Herr Hansted, dass Sie meine Bedenken in dieser Sache sowohl verstehen als auch teilen. Ich will Ihnen nämlich ganz ehrlich sagen: Auch hier in der Gemeinde spüre ich eine Gärung, eine ausartende Tendenz, die es gilt, im Keim zu ersticken. Ich habe doch bestimmt einen gewissen Weber Hansen erwähnt, ein äußerst einfältiger Mensch, der allerdings eine Art Revolutionspartei in der Gemeinde ins Leben gerufen hat, ein Haufen Aufschneider und Ignorante, die es offenbar wagen, sich gegen mich zu stellen. Aber ich dulde keine Krawalle in meinem Pfarrbezirk. Ich betrachte es als meine Pflicht, diesen Acker von jedem einzelnen Unkrautsamen zu bereinigen, und ich sage Ihnen, Herr Pastor Hansted, ich verlasse mich in dieser Angelegenheit auf Ihren Beistand. Alles in allem hoffe ich, Herr Pastor Hansted, dass wir uns da einig sind, damit unser gemeinsames Wirken Gott Ehre und der Gemeinde Segen bringen wird."

"Ich wünsche mir nichts mehr als das", antwortete der junge Mann aufrichtig und gerührt.

Nach dieser Zustimmung schüttelte Propst Tønnesen bedeutungsschwer die Hand seines Gehilfen. Für eine Minute herrschte feierliches Schweigen.

Danach rückte sich der Propst wieder auf seinem Thronstuhl zurecht, zündete – sichtlich erheitert – seine Pfeife an und ging zu dem über, was er selbst halb scherzend "einen kleinen Kurs der praktischen Theologie" nannte. Mit der gleichen unermüdlichen Weitschweifigkeit gab er sich der Darlegung speziellerer Aufgaben des geistlichen Amtes hin, erklärte die Vorgehensweise bei der Kindstaufe, dem Altargang und dem gewöhnlichen Sonntagsgottesdienst, gab Rat bezüglich der angebrachten Länge der Predigten, der Messe, dem Altardienst und so weiter. Abschließend erteilte er verschiedene praktische Hinweise für den rein äußerlichen Anstand, "was auch keineswegs versäumt werden darf".

Hierbei gewann er die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Zuhörers.

"Da ist zum Beispiel die Sache mit den Händen, die jungen Predigern oft sehr zu schaffen macht. Wie Sie wissen, gestikulieren manche Pfarrer besonders viel, während andere die Hände lieber friedlich gefaltet lassen. Letzteres strahlt zweifelsohne mehr Innigkeit aus und ist deshalb beispielsweise bei Hochzeiten oder größeren Beerdigungen angebracht, wo man für gewöhnlich mehr versucht, das Herz anzusprechen, anstatt das Schuldbewusstsein der Zuhörer zu wecken.

In anderen Fällen halte ich hingegen ein angemessenes Gestikulieren für dienlich. Bei Wendungen wie Fluch des Herrn, Zorn des Himmels, ewige Pein der Hölle begleitet man seine Worte doch ganz natürlich mit einem schnellen Heben der Arme, einer geballten Faust oder ähnlichem, um ihnen mehr Kraft zu verleihen. Doch eines müssen Sie sich Gott zuliebe gut einprägen, mein lieber Freund. Wenn Sie am Altar niederknien, denken Sie daran, die Füße dicht beieinander zu halten. Wenn man nicht aufpasst, neigt man nämlich dazu, die Beine zu spreizen, was von den Bänken aus sehr hässlich aussieht und die Andacht schnell stört. Ich könnte an dieser Stelle noch etwas anderes ansprechen, vor dem sich mein verstorbener Freund, der Pfarrer in Søborg war, einmal nicht ausreichend in Acht genommen hat. Sie erzählen die Geschichte ja nicht weiter, und hier unter uns können wir uns so einen unschuldigen Spaß mit derartigen Sachen wohl noch erlauben. Eines Tages ging er nämlich mit vier neuen Flicken unter jeder Stiefelsohle in die Kirche, denn er war in jeder Hinsicht ein äußerst sparsamer Mann. Als er sich dann auf den Betschemel kniet, beginnt die Gemeinde hinter ihm zu kichern, und der Schuhmacher des Dorfes, der ausgerechnet gerade da war, steht auf und sagt ganz in Gedanken so laut, dass alle es hören konnten: "Ja, ich hab doch gesagt, er hätte sie ganz besohlen lassen sollen!"

Propst Tønnesen brach in schallendes Gelächter aus.

Im gleichen Augenblick schlug die Tischuhr in der Wohnstube sieben.

Kurz darauf zeigte sich die junge Tochter in der Tür und bat die Herren zum Tee.

"Ja, da müssen wir wohl gehorchen!", rief der Propst und stand sofort auf. "Wir können ja bei Gelegenheit weitersprechen. Jetzt freue ich mich erst einmal, mit Ihnen Bekanntschaft gemacht zu haben, Herr Hansted. Ich bin überzeugt, dass wir das Kind schon schaukeln werden."

Wieder schüttelte er seinem Kaplan zuversichtlich die Hand.

"Was nun das Haus betrifft, werden Sie schnell merken, Herr Hansted, dass wir ein sehr einfaches und ruhiges Leben führen. Zu größeren Gesellschaften gibt es hier – wie Sie sich werden denken können – keinen Anlass, da die Bevölkerung sozusagen ausschließlich aus Bauern besteht. Wir bleiben also ganz für uns. Jetzt ist die Frage, ob Sie sich in solch spartanischen Angewohnheiten wiederfinden können."

"Davon bin ich schon im Voraus überzeugt", antwortete der junge Mann mit der gleichen aufrichtigen Ernsthaftigkeit.

"Das würde uns freuen. Sehen Sie, in diesem Haus regiert nun meine Tochter, und ich will Ihnen gleich sagen, falls Sie es nicht schon bemerkt haben: Sie ist eine strenge Kommandantin. Am Anfang wird sie wohl noch Nachsicht mit Ihren Schwächen haben; sie weiß ja, dass sich die Leute aus dem modernen Babylon nur langsam an häusliche Disziplin gewöhnen. Aber reizen Sie ihre Geduld nicht aus! Denken Sie daran, ich spreche aus Erfahrung, und ich will Ihnen sagen, wie es geschrieben steht: Sie trägt das Schwert nicht umsonst!" 4

"Vater macht natürlich nur Scherze", sagte das junge Mädchen und errötete wohlerzogen.

Dann machte sie erneut eine Handbewegung und ging ihnen vorneweg in die Wohnstube.

3

Das Esszimmer war wie jedes Zimmer des Pfarrhofs ein großer, herrschaftlicher Raum mit Gipsstuckatur an der Decke und dekorativen Landschaften über den Türen. Obwohl der Pfarrbezirk Vejlby und Skibberup bei weitem nicht zu den Wohlhabenden gehörte und darüber hinaus sehr abgelegen war, war der ganze Pfarrhof mit Vorbauten ausgestattet, deren Stil vielmehr an den Herrensitz eines Großgrundbesitzers erinnerte als an die Wohnung eines Dieners der Kirche.

Propst Tønnesens Vorgänger war nämlich ein steinreicher Mann gewesen, ein Sohn eines bekannten Finanzmannes aus der Zeit des Absolutismus5, der in seinem Eifer, nach den Interessen des Staates zu handeln, auch seine eigenen nicht vergessen hatte. Bei seiner ersten Ankunft war er mit einem Vierergespann vor dem Wagen vorgefahren, und hatte – obwohl er entgegen der Gewohnheit der Pfarrer unverheiratet blieb – als seine erste Amtshandlung das alte, bescheidene Pfarrhaus vom Beginn des Jahrhunderts niederreißen und stattdessen auf eigene Rechnung dieses Palais errichten lassen, das zu seiner Zeit förmliche Wallfahrten aus den umliegenden Gemeinden veranlasst hatte. Außerdem hatte er die Gartenanlage umfassend erweitern lassen, chinesische Brücken über einen Bach gebaut und ein Vermögen für Aushebungen und Bepflanzungen geopfert.

Alles in allem waren die fünfzehn Jahre, in denen dieser Goldesel hier residiert hatte, für den ganzen Pfarrbezirk wie ein Märchen gewesen. Mit leichtfertigster Gutmütigkeit hatte er jeden, der an seiner Tür bettelte, mit Geld überschüttet. Die Bauern brauchten bloß zu ihm kommen und sich über Ungeziefer oder Brand im Saatgut beschweren, da machte er sofort lächelnd einen Strich durch ihren geschuldeten Kirchenzehnt und steckte ihnen manchmal sogar noch aufmunternd einen Fünfzigkronenschein zu, wenn sie gingen. Im Gegenzug forderte er nur, dass ihre Frauen ihm gewisse Aufmerksamkeiten schenkten, und da er ein kleiner, feiner, stiller Greis mit sanfter Hand und mildem Blick war und die lokale Bevölkerung in der Regel schon immer weniger Wert auf ein reines Gewissen gelegt hatte und mehr auf die greifbaren Dinge achtete, hatte sich die Gemeinde in diesen fünfzehn Jahren bestens mit ihrem Oberhaupt verstanden.

Propst Tønnesen hingegen beschwerte sich vielmals bitter über seinen Vorgänger, der das Amt völlig "zerstört" und die Bevölkerung demoralisiert habe. Alle hatten sich in einem solchen Ausmaß daran gewöhnt, Zehnt und Kollekte als etwas zu betrachten, das man nach Belieben tun oder lassen konnte, dass sie sich, als Tønnesen verlangte, wieder geregelte Zustände herzustellen und dann auch noch einforderte, dass die Leistungen pünktlich entrichtet wurden, gekränkt fühlten und es als Anlass zu förmlicher Meuterei betrachteten, was den Grundstein für das angespannte Verhältnis gelegt hatte, das seitdem ununterbrochen zwischen ihnen herrschte.

Mit der fürstlichen Wohnung, die sein Vorgänger ihm hinterlassen hatte, war Propst Tønnesen hingegen höchst zufrieden. Sie entsprach genau dem, was seiner Vorstellung nach für eine Residenz des Stellvertreters unseres Herrn Christus im Pfarrbezirk Vejlby und Skibberup angebracht war. Man konnte auch nicht leugnen, dass er selbst ja wie geschaffen war für eine solche Umgebung. Wenn man ihn so durch diese Hallen schreiten sah und seine Stimme von den hohen Decken widerhallen hörte, kam einem unwillkürlich der Gedanke, dass diesem mächtigen Geierkopf eine edelsteinbesetzte Tiara gut stehen würde, und seinen Gliedern ein Mantel aus Samt und Goldbrokat.

Propst Tønnesen war sich seinen persönlichen Vorzügen alles andere als unbewusst. Er musste sich keine Vorwürfe machen, sich selbst zu unterschätzen. Oft dachte er verbittert darüber nach, dass er, der sich zum Anführer und Befehlshaber berufen fühlte, zu Weitblick und entscheidenden Worten – das Schicksal erlitt, sein Leben in dieser jämmerlichen Ecke verbringen und machtlos mitansehen zu müssen, wie das stolze Kirchenschiff aus Unverstand der Besatzung in der Brandung zerschlagen wurde … und dazu kam noch die Demütigung, wenn weit jüngere Pfarrer um ihn herum wieder und wieder zu Höherem berufen wurden, während er selbst vergebens einen Beförderungsantrag nach dem anderen verschickt hatte.

War deshalb im Lauf der Jahre eine beständig wachsende Gereiztheit in Propst Tønnesens Gemüt eingeflossen, lag das zu seiner Verteidigung bestimmt daran, dass sein Pfarrersleben auch kein Kinderspiel gewesen war. Ganz unverschuldet war das allerdings auch nicht. Er wusste selbst, dass er noch Jugendsünden zu verbüßen hatte, und auch in seinem fortgeschrittenen Alter kam es wiederholt vor, dass er sich in seinem Pflichtbewusstsein bedauerlicherweise verlief; so verpasste er einmal im Ornat vor der Kirche einem Bauernknecht eine Ohrfeige, weil der ihn nicht hochachtungsvoll genug gegrüßt hatte. Selbst fand er nicht, dass man darum so viel Wind machen musste, aber bei Synoden und ähnlichen Anlässen musste er sich mit vielen anderen Pfarrern anlegen, vor allem mit den jüngeren, unter denen es in Mode gekommen war, sich über ihn lustig zu machen. Sie nannten ihn "die Eule"6.

Wie Balsam für seine Wunden war es, als er vor ein paar Jahren als ältester Pfarrer der Gegend zum Propst ernannt wurde – oder zum "Amtspropst", wie er hartnäckig verlangte, von seinen Gemeindegliedern genannt zu werden, weil er fand, dass ihn das außergewöhnlicher klingen ließ und ihm mehr Respekt einbrachte. In diesem Amt konnte sich sein organisatorisches Talent endlich austoben, und er machte nun alle erlittenen Kränkungen wett. Er entfaltete eine wahrhaftige Tyrannei gegenüber denen ihm untergebenen Pfarrern, Lehrern und Kirchenkommissionen, verfolgte sie mit allerhand Auflagen, Formularen, mit Berichten und Anfragen … besonders die Lehrer schauderten vor ihm, weil er ihnen damit drohte, sie bei der kleinsten Abweichung von zu Hause fortzujagen. Selbst lebte er von diesem Tag an in Reskripten und Paragraphen, arbeitete ellenlange Abhandlungen für den Bischof und das Ministerium aus, auf die er zwar nie eine Reaktion bekam, jedoch trotzdem noch sorgfältiger dargelegte Vorschläge oder Proteste folgen ließ, ja, zuweilen sogar eine dreist formulierte Kritik an den Machenschaften des Ministeriums selbst.

So hatte er sich an diesem Abend auch kaum erst am Teetisch niedergelassen, die Serviette unters Kinn geklemmt und das Sauerteigbrot, aus dem sein Abendessen bestand, geschnitten, ehe er seinem Kaplan die Pläne und Verbesserungsvorschläge darlegte, die er in seiner Propstei einführen wollte. Er setzte die Kenntnis eines Artikels voraus, den er vor einem Jahr für eine Schulzeitung darüber geschrieben hatte, und gab alles in allem zu verstehen, er habe sich hauptsächlich Hilfe für seine kirchliche Tätigkeit gesucht, um sich mit umso mehr Kraft diesen größeren Aufgaben widmen zu können.

Der Kaplan hörte ihm mit unverändert abwesendem Gesichtsausdruck zu. Mit seinen langen, dünnen Fingern zerkrümelte er ein Stück Brot auf der Tischdecke, ohne wirklich etwas zu sich zu nehmen. Seit er hier war, hatte er noch fast gar nichts gegessen. Fräulein Ragnhild hatte ihn beim Mittagessen gefragt, ob es ihm nicht gut gehe. Da hatte er mit einem eigentümlich dankbaren Lächeln geantwortet:

"Doch, Danke sehr, Fräulein! Ich glaube, ich bin auf dem Weg der Besserung."

Es machte auch nicht den Anschein, dass es ihm eigentlich schlecht ging. Oft schien er entzückt der Stille zu lauschen und sah sich mit ebenso aufgeweckter Neugier im Zimmer um, betrachtete die urige Einrichtung, die Hirtendarstellungen an den Wänden, das bescheidene, aber nette Gedeck auf dem Teetisch und zuletzt die Tochter und Herrin des Hauses, wenn sie mit ihrer häuslichen Latzschürze über dem Kleid hinter der dampfenden Teemaschine stand und sich an die Zubereitung machte.

Fräulein Ragnhild Tønnesen war – im Gegensatz zum Vater – klein, aber von strahlendem Aussehen. Sie war nicht mehr ganz jung, hatte ein rotbäckiges Gesicht mit kleiner, runder Stirn unter kastanienbraunem, anständig glattgebürstetem Haar, ein Stupsnäschen und dieses kindliche Lächeln auf den Lippen, das sich oft bei jungen Damen jenseits der fünfundzwanzig einstellt. Einen kleinen Abbruch tat ihr der fehlende Hals, ein Mangel, der einem aufgrund ihrer ungewöhnlichen Fülle umso mehr ins Auge fiel, genauer gesagt wegen ihres Überflusses an Busen, noch deutlicher durch ihre jugendliche Bekleidung hervorgehoben, einem dunkelbraunen, enganliegenden Kleid mit Ledergürtel und einer ungeheuren Halskrause mit Hedebo-Stickerei, die sich wie ein Lätzchen über Brust und Schultern erstreckte.

Sie war das einzige Kind des Propstes und seine Abgöttin. Schon mit fünfzehn Jahren hatte sie ihre Mutter verloren, und ihr ganzes Wesen war deutlich davon geprägt, dass sie seitdem das Sagen im Haus hatte und die junge, von allen gepriesene und bewunderte kleine Hausfrau war. Propst Tønnesen betrachtete sie als Wunderkind. Er behandelte sie stets mit nahezu ritterlicher Hochachtung und unterwarf sich ihr vollständig, als wäre sie wirklich ein Wesen höherer Art.

Auch im Beisein des fremden Kaplans konnte er seine Verehrung nicht verbergen. Als sie ihm den Tee brachte, ergriff er ihre pummlige, kleine Hand und küsste sie nahezu mit der Entzückung eines Liebhabers.

4

Sie wollten just vom Tisch aufstehen, als das alte, hinkende Hausmädchen aus der Küche kam und verkündete, dass jemand mit einem Schlitten vor der Tür stehe, der dringend mit dem Propst reden müsse.

"Um die Uhrzeit!", rief dieser unheilverkündend. "Was will er?"

"Das weiß ich wahrlich nicht. Dazu kann ich gar nichts sagen. Aber er meinte, er solle den Propst zu einem Kranken holen."

"Ein Kranker! Bei dem Wetter! Und dann auch noch mitten in der Nacht! … Wer ist der Mann?"

"Ja, ich kenne ihn wahrlich nicht. Aber er sagt, er sei Anders Jørgensens Sohn aus Skibberup."

"Hm! Dann muss es der alte Anders Jørgen sein, der bald von uns geht … aber die Straßen sind doch bestimmt völlig unbefahrbar. Was für ein Wetter, oder?"

"Ja, da fragen Sie die Falsche. Es scheint aber gerade sehr ruhig zu sein. Wenn er es hierhergeschafft hat, wird er es wohl auch wieder zurückschaffen."

"Nun, ja … Wo ist er denn?"

"Ich habe ihn ins Kontor gebracht."

Der Propst trank aus, tupfte sich verärgert mit der Serviette das Kinn ab und stand auf.

Auf dem Weg durch die Wohnstube zog er eine hohe, mit Schnüren verzierte Seidenkappe aus seiner Gesäßtasche, mit der er sich bei solchen Anlässen gern fein machte, um seinen ehrfurchteinflößenden Glanz zu erhöhen. Nachdem er sich außerdem einige Male kräftig geräuspert hatte, wie um den Wartenden auf sein Erscheinen vorzubereiten, betrat er das Studierzimmer oder "das Studierkontor", wie seine Gemeindeglieder es nannten und in dessen Nähe sie sich selten ohne das beklemmende Gefühl wagten, sie beträten einen der Vorhöfe zur Hölle.

Neben der Tür stand eine kleine Gestalt, von der im Halbdunkel und auf den ersten Blick nur ein Paar weiße Wollsocken zu erkennen waren. Später kamen ein bleiches Gesicht, ein großer Mantel und zwei Hände zum Vorschein, die krampfhaft eine zottige Mütze umklammerten.

"Du wolltest also mit mir sprechen?"

Als Antwort kam zuerst ein Nicken, dann ein Ja.

"Wie heißt du?"

Der Bursche zögerte.

"Na, nun aber raus mit der Sprache! Du wirst doch wohl noch deinen eigenen Namen kennen."

"Ole Kristian Julius Andersen", kam es schließlich so kleinlaut wie von einem Sünder, der einen Eintrag im Hauptbuch des Teufels bekommt.

"Bist du ein Sohn von Anders Jørgen aus Skibberup?"

"Ja."

"Warst du nicht letztes Jahr in meinem Konfirmationsunterricht?"

"Doch."

"Und nun kommst du wegen der Krankensalbung deines alten Vaters … ich weiß ja, dass er schon seit einer Weile nicht mehr bei Kräften ist."

Der Junge schien etwas erwidern zu wollen, begann unruhig hin und her zu trippeln und drehte die Mütze wie ein Rad in seinen Händen. Der Propst aber bemerkte das nicht und fuhr unbeirrt fort:

"Zwar ist es schon spät und auch etwas schwierig, aber angesichts der Umstände werde ich mich gleichwohl einfinden … was ist? Liegt dir sonst noch etwas auf dem Herzen? Oder stimmt etwas mit den Straßen nicht? Sind sie geräumt?"

"Ja, aber –"

"Wurde an der Höhe geschippt?"

"Ja, die Schneeräumer sind da …"

"Gut! Dann geh zu den Pferden, fahr den Schlitten an die Treppe und mach dich bereit. Ich bin sofort fertig."

Als der Propst daraufhin wieder in die Wohnstube ging und dort den Kaplan entdeckte, der gerade mit Fräulein Ragnhild aus dem Esszimmer kam, hatte er plötzlich eine hervorragende Idee.

"Ah, Herr Pastor! Hören Sie mal her! Mir liegt die Botschaft eines alten Mannes aus Skibberup vor, der gesalbt werden möchte. Wissen Sie was … ich finde wahrhaftig, das wäre eine ausgezeichnete erste Amtshandlung für Sie, oder nicht? Ich kenne den Kranken gut, ein außerordentlich ehrenwerter und friedlicher Mann, für den ein paar gewöhnliche tröstende Worte ausreichen werden. Ich bin überzeugt, dass Ihnen die Sache nicht die geringsten Schwierigkeiten bereiten wird."

Als der Kaplan verstand, worauf der Pfarrer hinauswollte, wurde er unruhig und sagte:

"Wenn das der Wunsch des Propstes ist, werde ich mich natürlich darum kümmern. Aber ich bin vollkommen unvorbereitet und würde deshalb lieber …"

"Oh, das macht überhaupt nichts, Sie können sich ja auf dem Weg dorthin überlegen, was Sie sagen wollen, das mache ich selbst genauso. Seien sie einfach guten Mutes, dann läuft das wie am Schnürchen … Lone!", wandte er sich an das Hausmädchen, das im gleichen Augenblick hereinkam. "Leg meinen Reisepelz und die Provianttasche für Pastor Hansted in die Diele. Stell eine Kerze ins Fenster im Flur und sag Kristoffer, er soll den Kutschbock auf den Schlitten setzen und zusehen, dass er ihn anständig festspannt und alles in ordnungsgemäßem Zustand ist."

Als der Kaplan merkte, dass es dem Propst ernst war, versuchte er nicht mehr zu widersprechen, sondern verließ still die Stube und ging in sein Zimmer, um den Ornat anzulegen.

Propst Tønnesen rieb sich die Hände. Jetzt erkannte er erst die Vorzüge eines eigenen Kaplans. Während er mit seinem tiefen Bass munter die Melodie von "Jesus, deine Gaben"7 summte, holte er die Oblaten und den Wein aus seiner Stube.

Als er wenig später in die Diele trat, um seinem Stellvertreter die Gnadenmittel zu überreichen, musste er beim Anblick dieses Jünglings im langen, ernsten Pfarrergewand mit der leuchtenden Halskrause und dem neuen Altarbuch in der Hand fast lächeln. Der Kaplan schien selbst zu befürchten, dass er eine komische Figur abgab. Er war verlegen und äußerst ergriffen, seine Hand zitterte merklich, als er das Etui mit dem kleinen Silberkelch und die Oblatenschachtel entgegennahm.

Der Propst klopfte ihm ermutigend auf die Schulter und sagte überheblich:

"Na, lieber Freund! Nur nicht den Mut verlieren, dann geht es viel leichter, als Sie denken. Es kommt nur darauf an, das Ritual klar im Kopf zu haben und sich nicht durcheinanderbringen zu lassen. Gehen Sie nun mit Gott, mein lieber Freund! Möge sein Segen Sie begleiten!"

5

Propst Tønnesen ging wieder durch die Wohnstube, wo Fräulein Ragnhild alles für die Nacht herrichtete, das Klavier zuklappte, ein Tuch über den Papageienkäfig legte, den Hausmädchen letzte Befehle gab und die Tür des Kachelofens öffnete, all das wie eine erfahrene und bedachtsame Hausfrau. Dann setzte sie sich auf ihren alten Platz im Schaukelstuhl neben dem Tisch unter dem roten Lampenschirm und widmete sich abermals ihrer Straminstickerei.

Der Propst hatte derweil im Halbdunkel seines Zimmers seine Pfeife gestopft und wanderte nun paffend zwischen beiden Räumen umher. Hin und wieder warf er im Vorbeigehen einen verstohlenen Blick auf seine Tochter. Es war, als läge ihm eine Frage auf dem Herzen, und als wäre er nicht ganz sicher, ob er sie zu stellen wagte.

Die ganze Wahrheit war nämlich, dass Propst Tønnesen den jungen Mann nicht allein für sich oder das Amt ins Haus geholt hatte. Die Rücksicht auf seine Tochter war auch ein mitwirkender Faktor gewesen, denn man konnte wohl kaum bestreiten, dass sie nicht mehr die Jüngste war. Dass Ragnhild trotz all ihrer Vollkommenheit bisher – soweit er wusste – noch kein passendes Angebot erhalten hatte, war für Propst Tønnesen schier unbegreiflich. Er machte dafür ausschließlich dieses Loch verantwortlich, in dem sie gezwungenermaßen ihr Leben verbringen mussten, und betrachtete es als seine Pflicht, ihr die Gelegenheit zu geben, mit einem jungen Mann von gleichem Stand und mit passender Anstellung Bekanntschaft zu machen.

Schließlich nahm er seinen Mut zusammen und blieb vor seiner Tochter stehen.

"Na, kleine Ragn!", rief er munter und blies eine Rauchwolke an die Decke. "Was sagst du zu unserem neuen Gast? Denkst du nicht, meine Kleine, dass es nett mit ihm wird? Offenbar ist er ja ein bescheidener, unbeirrter junger Mann."

Fräulein Ragnhild hatte ihre Stickerei unterbrochen und ihre Lieblingshaltung eingenommen, den Ellbogen auf die Armlehne gestützt, den Zeigefinger an der Wange und mit einem nachdenklichen Blick in eine Ecke der Stube, ein Bild von Verstand und Anmut.

"Ich finde ja", fuhr der Propst unsicher fort, als sie nicht sofort antwortete, "ich finde, er macht einen ganz guten Eindruck, nicht wahr? Man darf ja nicht vergessen, dass die Verhältnisse hier neu und fremd für ihn sind … ich meine … man muss am Anfang nachsichtig mit ihm sein, bis er mit seiner Position etwas vertrauter ist."

"Ich finde", sagte sie endlich langsam, ohne ihre Körperhaltung zu verändern, und mit leichtem Singsang, fast wie ein kleines Orakel, "man sollte einen Menschen nicht schon nach einer so kurzen Begegnung beurteilen."

"Nein … Gott, mein Lämmchen! Ich meine doch nur, dass der erste Eindruck …"

"Außerdem ist er doch so zurückhaltend. Ich glaube, ich habe ihn noch keine zwanzig Wörter am Stück sprechen hören."

"Ja, er wirkt etwas verschlossen. Ein stiller Melancholiker vielleicht. Wer weiß, vielleicht trägt er die ein oder andere Sorge mit sich herum, eine schmerzhafte Erinnerung, die ihm etwas freundliche Gesellschaft erleichtern könnte. Ich glaube, er kommt aus schwierigen Verhältnissen, einem etwas verstörten Elternhaus … die Mutter war, soweit ich weiß, ein bisschen hysterisch … zwar von angesehener und vornehmer Abstammung, aber dennoch mit der ein oder anderen Schraube locker."

"Ob der Sohn das wohl geerbt hat?"

"Nein, Liebes! Er hat mit summa cum laude abgeschlossen!", rief der Propst voller Bewunderung, als weckte das Wort "laude" eine "schmerzhafte Erinnerung" bei ihm selbst. – "Sein Vater ist, wie du weißt, der bekannte Oberst Hansted, der sich im Krieg einen Namen gemacht hat … alles in allem eine angesehene und noble Familie."

"Und eine bankrotte, nicht wahr?"

"Oh, oh! … Nein, sowas darf man wirklich nicht sagen, Ragn! Der Herr Oberst hat, wie ich gehört habe, wohl leicht über die Stränge geschlagen und ist vielleicht etwas rücksichtslos mit dem nicht unbedeutenden Vermögen umgegangen, das er durch seine Frau erhalten hat … aber von einem wirklichen Bankrott kann keine Rede sein … mitnichten!"

"Naja, das geht uns ja eigentlich auch nichts an. Was den Kaplan selbst betrifft, hat er natürlich das Recht, so zu sein, wie er will. Entscheidend ist doch einzig und allein – nicht wahr – ob er den Anforderungen seines Berufs gerecht wird, und bis wir die Gelegenheit haben, das zu beurteilen, können wir eigentlich gar nicht über ihn sprechen."

"Vollkommen richtig, mein Schatz! Genau meine Gedanken! Ich bin wirklich froh, dass wir uns in dem Punkt einig sind. Ein richtig tüchtiges und gescheites kleines Mädchen bist du."

Fräulein Ragnhild nahm das Lob des Vaters nüchtern zur Kenntnis wie einen Tribut, von dem sie wusste, dass er ihr zustand, und den sie täglich einzustreichen pflegte. Als er sich kurz darauf vorbeugte und ihr einen nahezu ängstlichen Gutenachtkuss auf die Stirn gab, schlang sie hingegen beide Arme kindlich um seinen Hals und schmiegte sich an seine Wange.

"Gute Nacht, mein Kind, meine kleine Ragn … mein süßer, kleiner Engel", sagte er, ganz gerührt von ihrer Güte, nahm schließlich ihre Hand und küsste sie in sanfter Verehrung.

Als Fräulein Ragnhild wieder allein war, lehnte sie sich im Schaukelstuhl zurück, kreuzte die Arme vor der Brust und blieb lange so sitzen, reglos und in verträumten Gedanken versunken.

Die ganze Wahrheit nämlich war, dass auch sie die Ankunft des Kaplans insgeheim mit ihrer eigenen Zukunft in Verbindung gebracht hatte. Denn auch sie fühlte in ihrem Herzen, dass der Zeitpunkt, an dem es zur Tat zu schreiten galt, näher rückte. Dass sie vom Leben enttäuscht war, wäre zu viel gesagt. Dafür war sie noch allzu hoffnungsvoll und glaubte viel zu sehr an ihre eigene Anziehungskraft. Dennoch – ein wenig verwundert war sie schon, dass sich das Leben für sie bisher nicht anders entwickelt hatte. Sie wusste ja, dass die dänische Frau ihre holdesten Blumen in den jungen Pfarrerstöchtern gepflanzt hatte, besungen von allen Dichtern, Gegenstand der Sehnsüchte aller Jünglinge. Besonders von ihrer eigenen Unwiderstehlichkeit hatte sie allzu oft zu hören bekommen, weshalb sie seit ihrer Konfirmation wie in stiller, süßer Erwartung durchs Leben gegangen war, bereit, die ihr gebührende Huldigung anzunehmen.

Als sie noch ganz jung war, verbrachte sie im Sommer halbe Tage im Garten, mit zwei langen, geflochtenen Zöpfen, hellen Armstulpen und einer Rose auf der Brust. Mal träumte sie dort im Schatten eines Baumes vor sich hin, mal stieg sie auf den Deich und starrte mit der Hand an der Stirn über die flimmernde Landschaft, als ob sie ernsthaft jeden Tag darauf wartete, dass am Horizont plötzlich zwei fußreisende Studenten auftauchten. Sie stellte sich lebhaft vor, wie die beiden aussahen und wie alles ablaufen würde, wie sie, staubig und sonnengebräunt, über die Gartenpforte schauten, und wie ihr Vater dann im gleichen Augenblick auf die Veranda käme und die Studenten hereinbäte, wie sie erröteten und in Verlegenheit gerieten, wenn er sie ihr vorstellte, und wie die zwei abends dablieben und ihr Lieder von Bellmann am Klavier und draußen bei Mondschein Vaterlandslieder vorsängen, wie zuletzt der eine – nicht der Lustige, sondern der Stille, mit dem ernsten Blick – beim Abschied ihre Hand drückte und einige wirre Worte stammelte, sie solle ihn nicht vergessen, und wie er ihr später leidenschaftliche Gedichte schicken und schließlich nach einem Jahr als Absolvent mit Bestnoten wiederkehren und beim Vater um ihre Hand anhalten würde.

Doch in diesen Winkel des Landes verirrten sich keine Touristen, und so verging ein Sommer nach dem anderen, ohne dass das Märchen wahr wurde.

Später, als sie erwachsener wurde, füllten andere Figuren ihre Fantasie. Ihre Träume beschäftigten sich mit sporenklirrenden Heldengestalten in strahlenden Uniformen und mit gezwirbelten Schnurrbärten, wilde Löwen, die sie mit ihrem frommen Blick zähmte. Eines Sommers hatte nämlich eine Abteilung des Heers in der Gegend Übungen abgehalten, und zu diesem Anlass waren ein Oberst und sein Adjutant im Pfarrhof einquartiert worden. Letzterer war eine große, schöne und vornehme Erscheinung gewesen, ein richtiger Hofkavalier mit langen, schmalen Füßen und einem Monokel. Für Ragnhild und den ganzen Pfarrhof war das eine Zeit der Entzückung gewesen. Während der Vater den Oberst am Tabaktisch unterhielt, verbrachte Ragnhild den Abend mit dem Adjutanten auf der Veranda und vertrieb die Zeit damit, Sternbilder zu suchen und über den Lauf der Himmelskörper zu sprechen, während die Rosen dufteten und die Nachtigallen umherzischten. Zu ihrer Verwunderung reiste er aber ab, ohne sich zu erklären und hatte seitdem auch nicht das Geringste von sich hören lassen.

Als Fräulein Tønnesen fünfundzwanzig Jahre alt wurde, zeigte sie plötzlich lebhaftes Interesse für die Witwe eines Grundbesitzers, die unweit von Vejlby wohnte und der sie, wie sie zu ihrer Scham feststellen musste, bisher keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Im Laufe eines Jahres herrschte nahezu täglich Verkehr zwischen Pfarrhof und Großgrundfamilie, und da letztere sehr wohlhabend war, ging es dort oft hoch her. Doch nachdem sich der einzige Sohn der Witwe mit der Tochter eines benachbarten Pächters verlobt hatte, sah Fräulein Ragnhild ein, dass diese Gesellschaft doch nicht so recht zu ihr passte und der Sohn ein Ochse war, dem das Gespür für geistige Überlegenheit fehlte, woraufhin sie ihm verächtlich den Rücken kehrte.

So war sie nun in jeder Hinsicht bereit, den Kaplan ihres Vaters zu empfangen, und war in letzter Zeit auf natürliche Weise zunehmend ungeduldig geworden, herauszufinden, was für ein Mensch er war.

Sie musste gestehen, dass er einen keineswegs ungünstigen ersten Eindruck hinterlassen hatte. Er war keine Schönheit, aber sie fand seine Verschlossenheit interessant, und er strahlte etwas Feines und Nobles aus, das ihn recht deutlich als Enkel eines Geheimrats verriet.

6

Inzwischen hatte der junge Kaplan schon einen weiten Teil des Weges nach Skibberup zurückgelegt.

Die Beklommenheit, die ihn bei der unerwarteten Bitte des Propstes im ersten Moment erfüllt hatte, war, als er das Dorf erst einmal verlassen hatte, schnell verflogen und hatte Platz für eine plötzliche Ergriffenheit gegenüber dem Naturanblick gemacht, der sich ihm bot.

Nach Sonnenuntergang war vollkommene Stille eingekehrt. Der Himmel war klar und mit Sternen übersäht. Nur am Horizont im Südwesten lag noch eine Erinnerung an das weitergezogene Unwetter in Form einer breiten Wolkenwand, über der sich der Mond krümmte. Der Weg verlief steil bergauf, sodass man die ganze Gegend und das Land jenseits des Fjords überblicken konnte, und überall waren nur die stillen, bläulichen Schneefelder zu sehen, auf denen der rötliche Schein kleiner, erleuchteter Hütten und Höfe funkelte wie gefallene Sterne.

Der Kaplan kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er stammte aus der Stadt und verband den Winter nur mit Nebel und Matsch. Das Leben auf dem Land kannte er bloß von kurzen Sommerausflügen, wenn der Wald grünte und der Klee duftete. Den Winter hier draußen hatte er sich immer wie ein ausgedehntes Begräbnis mit unbefahrbaren Straßen in endloser Dunkelheit vorgestellt – und nun fuhr er durch ein Märchenland, ein Feenreich, wo Bäume und Büsche wie weiße Korallen am Wegesrand emporragten. Die Pferde waren in silbrigen Dunst gehüllt, die Schlittenschellen klingelten, als hingen lauter unsichtbare Glocken in der Luft, und der Schlitten glitt lautlos dahin, als schwebte er auf langen, weichen Flügeln.

All das kam ihm vor wie ein Traum. Alles, was er seit seiner Abreise aus Kopenhagen in diesem gewaltigen Schneesturm erlebt hatte – die stehengebliebenen Züge mit notgedrungenen Aufenthalten mal in einsamen Wachhäusern, mal in Wirtshäusern zwischen Schlachtern, Kaufleuten und Bauern, während die Straßen freigeräumt wurden, schließlich die Ankunft im Pfarrhof, die altmodische Gastfreundschaft und warme Behaglichkeit – all das war ihm neu, fremd und wunderlich. Er fand jetzt schon, dass zwischen damals und jetzt eine Ewigkeit lag. Wenn er daran dachte, dass erst zwei Tage vergangen waren, seit er seinem Vater und seinen Geschwistern Lebwohl gesagt hatte und auf dem Heimweg unter dem Klingeln der Straßenbahnen und Rufen der Muschelverkäufer durch den Schmutz, Trubel und Nebel der Kopenhagener Straßen gewandert war – dann konnte er kaum begreifen, dass es wirklich er selbst war, der sich nun inmitten all des stummen Schnees, umgeben von übersinnlichem Frieden auf dem Weg zu einem alten, kranken Mann befand, der auf seinen Trost wartete.

Wieder war er sehr bewegt. Das Bild seiner verstorbenen Mutter tauchte vor seiner Seele auf, und er wünschte innig, sie könnte ihn in diesem Augenblick sehen. Er wusste, dass es ihr größter Wunsch gewesen war, diesen Tag mitzuerleben, und ohne sie hätte er diesen Schritt wohl auch nie gewagt. Hätte er sich von seinen eigenen jugendlichen Neigungen leiten lassen, wäre er nun wohl ein altmodischer Mineraloge oder Botaniker, begraben unter Bücherstaub und Museumsmuff, um irgendwann den Ehrgeiz nach einem Professorentitel und einer Verewigung in einem Konversationslexikon zu stillen. Der Vater hatte sich immer gewünscht, er würde Jurist werden und den "weiten, aber sicheren" Weg zu Ehre und Ansehen durch das Ministerialgebäude gehen, wo ihm der Name und die guten Beziehungen der Familie eine schnelle Beförderung sichern würden.

Zu Beginn seines Studiums hatten ihn diese Aussichten und die eifrigen Anstöße seines Vaters verunsichert, doch als er merkte, wie viel Angst und Kummer er seiner Mutter damit bereitete, fasste er den Entschluss, ihr ihren Wunsch zu erfüllen. In jener Winternacht vor ihrem Tod saß er allein an ihrem Bett, und während sie das letzte Mal miteinander sprachen, gab er ihr das Versprechen, Pfarrer zu werden.

Wie dankbar er nun seiner lieben Mutter war!

Zu ihrer Lebzeit war seine Liebe zu ihr seltsamerweise mit kindlicher Angst vermischt gewesen. Sie war in ihrer Art und Lebensweise so anders als alle anderen, ja, bis hin zum schäbigen Schnitt ihrer Kleidung und der eigentümlichen Samtmütze, die ihr bleiches und schwermütiges Gesicht umrahmte. Er konnte sich nicht erinnern, sie jemals lachen gehört zu haben, sie hatte mit niemandem in der Familie zu tun, ging zu keinem Fest, doch in der Abenddämmerung, wenn sie allein waren, saß sie manchmal stundenlang bei ihm und tätschelte liebevoll unter seltsamen Ermahnungen seinen Kopf, die er damals nicht verstand und die ihm beinahe Angst einjagten. Auch noch in seiner Jugend erschien sie ihm wie ein Rätsel, das ihn fortwährend beschäftigte und gleichsam verängstigte und anzog. Er erinnerte sich noch an seine Ergriffenheit, als sein Vater einmal ein Gespräch über seine Zukunft mit den heftigen Worten beendete:

"Mit dir ist kein Auskommen … du gleichst in jeder Hinsicht deiner Mutter!"

Zum Vater hatte er immer ein kühles Verhältnis gehabt. Schon als Kind hatte er instinktiv gespürt, dass der Vater Schuld an den Tränen trug, die er oft in den Augen der Mutter sah, wenn er sich unerwartet in ihre Stube geschlichen hatte, um – halb ängstlich – den Kopf in ihren Schoß zu legen. Er war auch noch nicht alt gewesen, als er ein Gespür für den stummen Kampf bekommen hatte, der innerhalb der heimischen vier Wände ausgetragen wurde und unter dem die Mutter schließlich zusammenbrach.

Auch das Verhältnis zu seinen zwei Geschwistern war nicht gut gewesen. Er war ihnen in jeder Hinsicht unähnlich, außerdem waren sie schon früh gänzlich vom Vater beeinflusst worden und betrachteten das Dasein der Mutter nahezu als Schande für die Familie. Nach ihrem Tod erwähnten sie nie ihren Namen, und es war, als könnten sie dem Bruder nicht verzeihen, dass er sie so oft daran erinnerte.

Denn ihm schien erst nach ihrem Tod allmählich klarzuwerden, wer sie war und was sie gewollt hatte. Erst auf der anderen Seite des Grabes bekam sie die Macht über ihn, die sie auf Erden begehrt hatte, und je älter er wurde, desto besser schien er sie zu verstehen und desto kostbarer war ihm die Erinnerung an sie. So wurde ihr Schicksal auch seines. Die Familie kehrte ihm den Rücken, sogar der Vater war der Ansicht, sein Sohn sei unheilbar von den verrückten Ideen der Mutter angesteckt worden, und es war immer häufiger zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen gekommen.

Doch jetzt hatte der Kampf ein Ende. Der Vater, der in letzter Zeit unweigerlich an seinem Schnurrbart gezupft und hoffnungslos an die Decke gestarrt hatte, sobald der Sohn auch nur den Mund aufmachte, bekam nun seinen Frieden. Der Bruder, Gardeleutnant und werdender Kammerjunker, brauchte nicht mehr in Seitenstraßen abzubiegen, um zu vermeiden, ihm mit einem nicht mehr hochmodernen Hut oder in Zerstreutheit schief zugeknöpftem Mantel über den Weg zu laufen. Und die Schwester, die Frau Direktorin, die so erpicht darauf war, an den Hof zu kommen, dass sie gerne ihre Gesundheit dafür hergab, der Königin die Hand zu küssen, und deren Leben ein Traum von Titeln, Juwelen und Diplomaten war, auch sie sollte durch sein Benehmen nicht länger "erbleichen" … Emanuel war abgereist, "der Prophet" war fort und würde nie mehr wiederkommen.

Nein, er würde nicht wiederkommen. Er ließ den Blick über die verlassenen Schneefelder schweifen und fühlte sich, als wäre er aus einem tiefen Brunnen voll mit hässlichem Gewürm und bösen Dünsten auf den Gipfel eines Berges gestiegen. Bloß diese unbefleckte Erde, die weiße Einfalt dieses Schnees taten seinem Herzen gut, und er faltete in Stille die Hände in seinem Schoß und dankte Gott.

… Der Weg, der sich bisher durch flache, weithin sichtbare Felder geschlängelt hatte, tauchte nun am Ende eines Höhenzugs ab, der wie ein riesiger Wall die Grenze zwischen Vejlbys hohen und Skibberups flacheren, unebeneren Ländereien bildete. Hier hatten sich am Fuß der Böschung mächtige Schneewehen angesammelt, und der Schlitten musste sich Stück für Stück zwischen zwei turmhohen Mauern aus aufgehäuften Massen hindurchbewegen, die über ihnen zusammenzustürzen drohten.

Plötzlich rief eine Schar Männer nach ihnen, die sich auf Schaufeln stützten oder Schnee von ihren Schuhen kratzten, während andere hinter ihnen mit den Räumungsarbeiten beschäftigt waren.

Sie glaubten anfangs, der Propst käme und hielten deshalb gebührenden Abstand, ohne zu grüßen.

"Wir sind gleich soweit", sagte bloß einer mit mürrischer Stimme und wandte sich daraufhin ab.

Als aber auf diese Anrede keine der gewöhnlichen Segnungen des Propstes folgte, wurden sie allmählich aufmerksam. Ein paar kamen sogar zu den Pferden und tuschelten mit dem Kutscher, woraufhin sie alle die Hälse reckten und neugierig zur Sitzbank schauten.

Schließlich trat ein Mann mit üppigem Bart hervor und sagte:

"Verzeihung! … Wir haben gehört, unser neuer Kaplan ist hier. Dann dürfen wir Sie doch sicher bei uns willkommen heißen."

Nun kamen auch die anderen näher. Und ehe der Kaplan wusste, wie ihm geschah, hatten sie ihren Fäustling am losen Daumen mit den Zähnen abgestreift, reichten ihm einer nach dem anderen die Hand und sagten "Willkommen."

Den Kaplan rührte diese treuherzige Begrüßung zutiefst.

"Danke, danke, danke", entgegnete er und drückte herzlich die großen, rauen Fäuste. Mehr fiel ihm nicht ein, obwohl er das Gefühl hatte, dass hier ein paar Worte angebracht wären, und befürchtete, dass sie das vielleicht erwarteten.

Gleichzeitig ertönten Rufe von den Räumungsarbeitern weiter vorne, woraufhin sich der Schlitten wieder in Bewegung setzte.

Da fand er die Worte:

"Es wäre mir eine Freude, wenn ich immer solche Freunde hätte, die mir den Weg freiräumen. Danke für euren Empfang. Ich hoffe, wir werden gut miteinander auskommen."

"Das werden wir schon", kam es von vielen.

"Wir haben es auch nötig!", rief eine tiefe, kräftige Stimme von ganz hinten, gefolgt von zustimmendem Gemurmel.

Dieser Spruch und der Tonfall hinterließen bei Kaplan Hansted einen seltsamen Eindruck. Was sie wohl damit meinten, fragte er sich, obwohl er bereits ahnte, worauf es anspielte.

Kurz darauf kamen sie in Skibberup an. Das Dorf lag in einer Senke und war nicht zu sehen, bevor man sich sozusagen mittendrin befand. Von vereinzelten kleinen Hütten waren nur der Schornsteinkopf und der oberste Rand des Strohdaches zu sehen. In den meisten Häusern hatte man sich schon zur Ruhe begeben, doch hier und da waren noch Menschen unterwegs, die sich von den Türen aus Gänge gruben. Auf einer Steinstufe stand ein alter Mann mit Krücke und einer kleinen Pfeife und grüßte, als der Schlitten vorbeifuhr.

Erst bei diesem Anblick fiel Emanuel wieder ein, warum er hergekommen war, und im ersten Moment ergriff ihn bei dem Gedanken daran, dass er sich nicht vorbereitet hatte, ein Gefühl der Betretenheit. Doch er war nun zuversichtlicher. Die Schlittenfahrt an der frischen Luft und die Begegnung mit den Schneeräumern hatten ihm so viel Hoffnung verliehen, dass er nun überzeugt war, der Herr würde ihm auch hier im entscheidenden Moment schon die rechten Worte in den Mund legen.

7

Vor einem kleinen, unauffälligen Hof am Rand des Dorfes blieb der Schlitten stehen. Das Hoftor stand offen, im Haus drehte sich eine rauchende Hängelampe langsam um sich selbst. Der Hof war aber so zugeschneit, dass der Schlitten nicht durchkam und der Kaplan am Tor absteigen musste, um über einen schmalen Pfad, der zwischen den Schneemassen freigeschaufelt worden war, zu dem alten und flachen Wohnhaus zu gelangen.

Durch zwei Fenster schien Licht auf den Schnee, doch man hörte keinen Laut. Auch um das Haus herum herrschte vollkommene Stille. Selbst der schwarze Pudel, der durch sein Loch im Tor kam und stumm am Bein des Kaplans schnupperte, schien verstanden zu haben, dass hier ein Mensch gegen den Tod ankämpfte.

Erst als der Kaplan die Vorderstube betrat und anklopfte, hörte er, wie sich in der Wohnstube eine Tür öffnete, und eine Frauenstimme leise rief:

"Beeil dich, Anders … der Propst ist hier!"

Als Emanuel in die niedrige und altmodisch eingerichtete Stube trat, stand ein älterer Mann mit grauem, buschigem Haar von einem Klapptisch beim Ofen auf, wo er im Schein eines Talglichts in einem Messingständer Zeitung gelesen hatte. Er trug ein gestreiftes Wollhemd und nahm eine Messingbrille von der Nase, während er den eintretenden Fremden verdutzt ansah.

"Sie kennen mich noch nicht", sagte dieser. "Ich bin der Stellvertreter des Propstes. Er selbst konnte nicht kommen … Ich bin der neue Kaplan, müssen Sie verstehen."

"Oh, der Kaplan!", entfuhr es dem Alten leise, als spräche er mit sich selbst, und er riss die Augen noch weiter auf.

"In diesem Haus liegt doch ein Kranker, der eine Salbung wünscht … nicht wahr?"

"Doch … doch, gewiss."

Es entstand eine Pause. Der Alte musterte den Fremden weiterhin von Kopf bis Fuß, auch der Kaplan wurde verlegen und wusste nicht mehr, was er sagen oder tun sollte.

"Leidet der Kranke sehr?", fragte er schließlich.

"Nein, es ist sozusagen etwas besser geworden. Aber heute Nachmittag, als der Doktor hier war, da sah es in der Tat so schlecht aus, dass wir fast dachten, es wäre vorbei … Ach, der Kaplan also?"

Zeitgleich wurde eine angelehnte Tür, die in die innere Stube führte, von einer kleinen, mageren Frau in einem schwarzen Kleid und mit einer schwarzen Haube auf dem Kopf geöffnet. Sie trocknete die Hand an ihrer Schürze ab und reichte sie dem Kaplan dann zögerlich und beinahe scheu mit einem geflüsterten "Willkommen."

"Ich habe gehört, unser neuer Pfarrer ist hier", sagte sie dann ruhig, stellte sich neben den Mann und betrachtete den Kaplan ebenso aufmerksam und misstrauisch mit kleinen, dunklen und sorgenvollen Augen. "Ja, wir haben ja gehört, dass Sie bald hier anfangen … und auch, dass Sie sehr jung seien. Das sieht man Ihnen ja auch an. Aber wir wussten ja nicht, dass der Propst verhindert ist, denn dann –", sie wechselte einen schnellen Blick mit dem Mann – –. "Aber jetzt ist es ja sowieso wieder besser. Dann war es vielleicht falsch, einen Boten zu schicken."

"Oh, machen Sie sich darüber mal keine Gedanken. Meinetwegen dürfen Sie jederzeit auf mich zukommen … ich werde immer bereit sein, die Hilfe zu leisten, die man sich von mir wünscht."

"Oh, ja, na dann", sagte die Frau und verstummte.

Einen Augenblick standen sie einander wieder ratlos gegenüber. Schließlich sagte der Kaplan:

"Wenn Sie möchten und bei dem Kranken alles vorbereitet ist, sollten wir dann nicht zur Tat schreiten?"

"Doch … doch, gewiss", sagte die Frau und sah den Mann erneut fragend an. Daraufhin öffnete sie die Tür, durch die sie gekommen war, und sie betraten ein kleineres, halbdunkles Zimmer, das eine Stufe niedriger als die Wohnstube lag und dessen Luft mit dem Geruch starker Medikamente und den Ausdünstungen eines Kranken gefüllt war. Zwei Kerzen brannten neben einem Gesangbuch und einem sauberen Tuch auf einem kleinen Tisch am Kopfende eines breiten Geschwisterbetts, und darin lag, anders als der Kaplan erwartet hatte, kein sterbender Greis, sondern ein schlafendes junges Mädchen von zweiundzwanzig Jahren. Sie war, wie bei Bauern üblich, nur in Leinen gekleidet, und die schwere Decke war in der Fieberhitze von ihren nackten Schultern gerutscht.

"Aber … was ist das?", rief der Kaplan und drehte sich, rot vor Scham, zu dem Mann.

"Das ist unsere Tochter."

"Aber es ging doch um einen älteren Mann … es ging doch um … hieß der Kranke nicht Anders Jørgensen?"

"Ich? Nein, danke der Nachfrage, aber ich fühle mich eigentlich ganz gesund."

"Das ist unsere Tochter Karen", erklärte die Frau und kam nun vertrauensvoller näher. "Sie hatte vor Kurzem so einen gefährlichen Schmerz im Rücken, der sich auf Kopf und Beine übertrug und ihr Tag und Nacht keine Ruhe ließ. Zuletzt ging das Fieber mit ihr durch, da holten wir den Doktor, und der sagte, dass die Dinge ihren Lauf nehmen würden … Meistens döst sie, so wie jetzt, und sie hat seit vorgestern keinen Krumen Brot mehr gegessen."

Kaplan Hansted war ganz durcheinander. Er sah zu Boden und hatte erst, nachdem die Mutter ausgeredet hatte, Mut, zum Bett zu spähen, wo das Mädchen sich immer noch nicht rührte. Sie war kräftig gebaut, hatte ein schönes, beinahe vollkommenes Gesicht mit symmetrischen Zügen und dichtes, blondes Haar, das ungekämmt unter eine kleine, blaukarierte Nachthaube gestopft worden war. Das Fieber hatte ihre Wangen tiefrot gefärbt, ihre Stirn gebleicht und dunkle Schatten unter ihre Augen gemalt, doch die durchdringende Gesundheit ihrer ganzen Erscheinung, deren Keuschheit und Anmut, machten einen starken Eindruck auf den jungen Mann.

Als er sich nun mit den Eltern langsam dem Bett näherte, wachte die Kranke auf und öffnete ein Paar dunkelblaue Augen, die den Fremden verwirrt, wie entsetzt fixierten. Die Mutter beugte sich über das Bett und erklärte ihr, wer er war, woraufhin sie die Augen wieder im Stillen schloss, als wollte sie sagen, dass sie sich schon danach gesehnt habe und bereit sei.

Nun trat Kaplan Hansted ganz nah ans Bett und faltete seine zitternden Hände vor dem Talar. Die Mutter zupfte die Decke zurecht, wischte daraufhin mit angefeuchteten Fingerspitzen die Kerze ab und setzte sich schließlich mit den Händen im Schoß auf einen Stuhl. Der Vater hatte sich andächtig ans Fußende gestellt, während in einer dunklen Ecke des Zimmers eine verweinte Gestalt kauerte, ein kleines, blondgelocktes Mädchen von dreizehn, vierzehn Jahren, das blass und ergriffen auf das Gnadenbrot und den kleinen Silberkelch auf dem Tuch starrte. Sogar der kleine Bursche, der den Kaplan hierhergeführt hatte, schlüpfte im letzten Augenblick durch die Tür und blieb hinter dem Vater stehen. Außer den angestrengten Atemzügen der Kranken und dem schweren Ticken der Standuhr aus der Wohnstube war kein Laut zu hören.

Der Kaplan brachte jedoch keine Silbe über die Lippen. Diese ungewohnten Verhältnisse, die Festlichkeit des Aktes, die Stille der anderen, seine eigene Unbeholfenheit und dieses junge Mädchen im Bett brachten ihn ganz durcheinander, sodass er keinen klaren Gedanken fassen konnte. Er erblasste allmählich, ihm wurde schwarz vor Augen; es war, als würde er gleich ohnmächtig … da kam ihm plötzlich ein Gebet in den Sinn, das ihm seine Mutter in seiner Kindheit beigebracht hatte, und als wäre sie selbst aus dem Himmel herabgestiegen und stünde ihm nun bei, trug er es mit fester und ruhiger Stimme Wort für Wort vor, ohne sich zu verhaspeln.

Nachdem damit der Anfang gemacht war, vergaß er bald all seine Furcht und wurde nach und nach derartig von der Bedeutung des heiligen Aktes sowie dem Wort der Schrift und des Rituals mitgerissen, dass er, als er zum Schluss seine Hand auf die Stirn der Kranken legte, um den Sündenerlass zu erteilen, zitternd zu spüren meinte, wie sich in diesem Augenblick ein stärkerer Geist durch ihn ausdrückte.

… Als er sich kurz darauf wieder mit klingelndem Schlitten auf dem Heimweg befand, fühlte er sich wie verwandelt, als wäre er Gott ganz nah gekommen. Er sah in den sternenklaren Himmel, schaute über die schneebedeckte Erde und spürte erst jetzt so recht die Bedeutung dessen, vom Kind Gottes zum Diener Gottes geworden zu sein. Er brannte vor Beflissenheit, vor dem heiligen Eifer, im Namen des Herrn zu wirken, und gab sich selbst das Versprechen, sich seiner Berufung mit ganzer Seele und nach bestem Vermögen hinzugeben.

Indem sein Blick auf den Burschen vor ihm fiel, musste er an die unaufgeklärte Verwechslung denken und fragte ihn, wie es sich damit verhielt.

Der Bursche wurde äußerst unruhig, aber erklärte schließlich den Zusammenhang: Er habe sich nicht getraut, dem Propst zu widersprechen.

"Wie? … Hast du etwa Angst vor dem Propst?"

Statt zu antworten drehte sich der Junge zum Kaplan und sah ihn mit vor Erstaunen offenstehendem Mund an.

Herr Hansted lehnte sich im Sitz zurück. Nun begann er den Spruch, den ihm die Schneeräumer nachgerufen hatten, besser zu verstehen.

8

War der Winter in diesem Jahr früh gekommen, schien der Frühling auch nicht lange auf sich warten zu lassen. Schon im Januar war der ganze Schnee von den Feldern verschwunden, die Lerchen begannen genau an Mariä Lichtmess zu schlagen, und der Dorfteich wurde nicht einmal nachts mit der geringsten Spur von "Sahne" überzogen, sondern war schon in den Morgenstunden für die großen, fetten Enten zugänglich, die sich mit Wohlbehagen darauf tummelten.

Eines Sonntagvormittags Mitte März tönte durch die feuchte, windstille Luft in weiter Ferne der Gesang aus der Kirche von Skibberup. Diese lag fast eine Viertelmeile außerhalb des Dorfes einsam auf der Spitze eines kargen Hügels, der als hohe Landspitze in den Fjord ragte. Nur ein schmaler Kamm, über den die Straße führte, verband diesen Ort mit dem übrigen Land, und der Sand war nur spärlich mit Gras und vom Wetter gezeichnetem Weißdorn bedeckt.

Im Alltag wachte die uralte Steinkirche deshalb ganz ungestört über ihre Gräber. Nur der alte, spindeldürre Glöckner, der unter dem Namen "der Tod" bekannt war, kam jeden Morgen und Abend langsam mit seinen langen Knochenarmen auf dem Rücken verschränkt vom Dorf hierhergewandert – um ein paar brüchige Töne über die zwischen den Weißdornen umherschleichenden Füchse und zwei an der Friedhofsmauer grasenden Schafe hinwegzuläuten, über die schnatternden Wildvögel, die in den schilfreichen Buchten hausten, und ab und zu auch über einen einzigen Fischer, der unter der steilen Böschung seinen Köder auswarf.

Sonntags hingegen, insbesondere an den großen Feiertagen, erwachte der verlassene Ort zum Leben. Dann wimmelte es auf der Straße aus Skibberup nur so von Fußgängern im Gänsemarsch und schnellen Fahrzeugen – ja, sogar vereinzelte dicke Bauern aus Vejlby, deren Höfe am Rand des Pfarrbezirks lagen, kamen bedächtig mit ihren Pferden und aufgeblasenen Mienen hieraufgefahren. Die Fischerfamilien überquerten mit Booten den Fjord und legten an den großen Steinen des Strandes an, von wo aus die Männer die Frauen an Land hoben. Alle Frauenzimmer trugen schwarze Festtagskleider und viele auch Kränze oder Blumenkreuze, die sie auf die verwitterten Grabstätten legten, dann dort stehenblieben und in Gedanken versanken. Die Männer versammelten sich größtenteils jenseits der Friedhofsmauer, rauchten Tabak und unterhielten sich über das Wetter und die Saatpreise – bis "der Tod" sich von seinem Aussichtsposten an der Mauerecke abwandte und mit düsterem Gesicht im Turmraum verschwand, was nämlich ein Zeichen dafür war, dass die Kutsche des Propstes in der Ferne auf der Straße aus Vejlby in Sicht gekommen war. Während die Glocken nun wieder über die Ebene schallten und den ganzen Turm zum Klingen brachten, versammelte man sich mit andächtigem Husten und Räuspern in der klammen Kirche, zwischen deren vor Feuchtigkeit grünen Kalkmauern man selbst an einem Sommertag Gliederschmerzen bekommen konnte, und wo es im Winter so kalt wurde, dass das Wasser im Taufbecken gefror und der Pfarrer mit Überschuhen und dicken Fausthandschuhen auf der Kanzel stehen musste.

Doch – all dies gehörte nun der Vergangenheit an. Seit Propst Tønnesens Ankunft in der Gemeinde hatten sich die Verhältnisse vollkommen verändert. Obwohl ein großer Kachelofen und dicke Teppiche am Gestühl angebracht worden waren, wetterte der Propst Sonntag um Sonntag vor leeren Bänken. Bloß der Küster und ein einziger Zehntschuldner dösten in der hintersten Ecke vor sich hin und wachten nur auf, wenn Tønnesen mit einem solchen Krach auf den Ambo schlug, dass sogar Sankt Petrus, der als Holzschnitzerei an der Kanzel prangte, einmal vor lauter Schreck die Kinnlade herunterfiel.

Heute aber predigte der neue Kaplan. Deshalb tönte der Gesang auch so vollstimmig über die Ebene, und auf der Straße hielt eine ganze Reihe Kutschen mit Pferden, die in der klaren Frühlingssonne wieherten. Direkt am Friedhofstor stand die alte, hoch gebaute Kalesche des Propstes mit zwei braunen, langbeinigen Gespenstern von Pferden und einem Kutscher, der nicht ohne Grund unter dem Namen "Maren" bekannt war. Mit seinem kleinen, blassen und bartlosen Gesicht, das aus einem großen altmodischen Mantel hervorguckte, dessen oberer Teil aus mindestens einem Dutzend Pelerinen8 bestand, eine kleiner als die andere, ähnelte er ganz und gar einem Frauenzimmer, und böse Zungen würden auch behaupten, es sei ein völliges Missverständnis gewesen, dass er auf einen Männernamen getauft worden sei.

Unter den Kutschern der Bauern war es üblich, sich Späße mit ihm zu erlauben, wenn sie sonntags bei den Wagen auf das Ende des Gottesdienstes warteten. Während einige auf den Böcken vor sich hin pfiffen und sich andere am Straßenrand die Zeit mit Rauchen oder einer Partie Styrvolt9 vertrieben, versammelte sich eine Gruppe immer bei der Kalesche und belustigte sich daran, "Maren" mit allen möglichen anzüglichen Fragen zu ärgern, nicht unbedingt immer angebracht für die Heiligkeit des Tages und des Ortes.

So hatte sich auch heute eine Schar munterer Kerle aus Skibberup am Friedhofstor versammelt und verhöhnte den Knecht des Pfarrers, während zwei dicke Bauernsöhne aus Vejlby, die das als Gotteslästerung betrachteten, vorsichtig Abstand hielten und wie im Geheimen mit einfältig erschrockenen Mienen zuhörten.

Ein junger Bursche, der am Torpfosten lehnte, sagte schließlich:

"Hör mal, "Maren"! – stimmt es eigentlich, was man sich in unserem Dorf erzählt, dass das Fräulein und der Kaplan bald ein Paar werden?"

"Maren", der sonst immer reglos über die Pferdeohren hinwegstarrte und es wegen seiner geistlichen Anstellung für angebracht hielt, so zu tun, als hörte er nichts, drehte sich bei diesen Worten lächelnd zum Fragesteller und antwortete sodann mit seiner zarten, weibischen Stimme, die die Knechte regelmäßig in einstimmigen Jubel ausbrechen ließ:

"Ist er dir etwa im Weg, kleiner Ole?"

Gleichzeitig hörte der Gesang auf, die Kirchentür wurde geöffnet, und die Leute strömten nach draußen. Die Knechte eilten zu ihren Kutschen, "Maren" richtete sich auf, und während die männlichen Kirchgänger vor der Eingangstür stehenblieben, um auf die Abkündigungen zu warten, und sich die Frauen zu den Gräbern zurückzogen, kam "der Tod" mit seinem geisterhaften Zylinder zum Vorschein und platzierte sich mit der Knochenhand an der Brust neben dem Kirchentor, bereit, das Trittbrett der Kutsche herunterzuklappen, sobald der Pfarrer auftauchte.

Einer der wartenden Männer vor der Eingangstür stach heraus, teils weil er größer als die anderen war, und auch weil er von allen Seiten besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Er hatte einen kleinen Kopf und ein auffällig gedrungenes Gesicht mit blondem Bart, was ihm einen eigentümlich lauernden Ausdruck verlieh, der an einen Luchs erinnerte. Der Mann trug gewöhnliche Bauernkleidung ohne weißen Kragen10 und sah alles in allem aus wie ein einfacher Häusler. Doch in der Art und Weise, wie er die Hände seiner Freunde schüttelte und ihre fragenden Blicke mit einem unzugänglichen Blick in die Luft beantwortete, lag ein unendliches Selbstbewusstsein.

Plötzlich teilte die Gruppe sich und bildete einen Gang, in dem nun die jugendliche Gestalt von Kaplan Hansted auftauchte. Obwohl er schon zahlreiche Male gepredigt hatte, sah er blass und angestrengt aus und grüßte die Versammelten verlegen, die auch recht träge die Hüte lüfteten, während er vorbeiging. Der Mann mit dem Luchsgesicht rührte sich sogar überhaupt nicht, sondern folgte ihm mit dem Blick bis zur Kutschentür, während sich sein Mund zu einem schiefen, spitzen Grinsen verzog.

Nun kam der junge Hilfslehrer hastig aus der Kirche und rief zur Verlesung der Abkündigungen.

Er war zwar nicht älter als paarundzwanzig, aber trotzdem kugelrund und trat mit überlegener Routine auf, was einen eigentümlichen Gegensatz zu Kaplan Hansteds verlegener Unbeholfenheit bildete. Er fuhr sich durch seine üppige Polkafrisur11, richtete seinen langen Schauspielerschlips, schaute sich um, wie um die ihm gebührende Bewunderung einzukassieren, und begann mit zäher Stimme die Verlesung.

9

Im Pfarrhof wurde Kaplan Hansted von Propst Tønnesen empfangen, der in heiterer Stimmung vom Gottesdienst in der Kirche von Vejlby heimgekehrt war. Dass sie beide jeden Sonntag predigten, jeder in seiner Kirche, war ein Einfall des Propstes gewesen. Er hatte nämlich nicht ohne Grund befürchtet, dass die aufständische Gemeinde, die seiner eigenen Verkündigung so hartnäckig ferngeblieben war, noch mehr demonstrieren würde, indem sie in die Kirche strömte, sobald sie wusste, dass der Kaplan predigte. Um das zu verhindern, war ihm der listige Einfall gekommen, sogar dem Kaplan erst im letzten Augenblick zu offenbaren, in welcher Kirche er aufzutreten wünschte; und infolgedessen waren in letzter Zeit beide Kirchen mit Scharen gefüllt gewesen, die jeweils darauf hofften, den neuen Pfarrer zu hören.

Dennoch gab es, besonders unter den Skibberuppern, solche, die sich nicht scheuten, ohne Weiteres ihrer Wege zu gehen, wenn sie den Propst näherkommen sahen. Nur die wenigsten hatten allerdings den Mut für eine derartig offensichtliche Aufsässigkeit; und hatte der Propst seine lang erwartete Herde erst einmal ins Gestühl gesperrt und die Kirchentür sorgsam hinter ihr geschlossen, ließ er sie nicht mehr gehen, ehe er nicht alle irdische Unseligkeit auf sie hatte niederregnen lassen, ehe er sie nicht dem ewigen Feuer und Schmerz verschrieben und nicht all ihre Sünden verurteilt hatte bis ins fünfte und sechste Glied12.

Nach dieser Vollstreckung kam er immer in strahlender Laune und mit einem Wolfshunger nach Hause, als hätte dieser seltene Anblick seiner verirrten Lämmer wahrhaftig seine Raubtierinstinkte zum Leben erweckt.

Besonderen Anlass zu seiner Heiterkeit gab heute ein Fest, das am Nachmittag im Pfarrhof stattfinden sollte. Sonst lebte man hier im Stillen und ohne sich an der örtlichen Geselligkeit zu beteiligen, die seiner Ansicht nach nicht zu ihnen passte. Doch zwei Mal im Jahr lud der Propst zu einer Art offiziellen, größeren Speisung ein, zu der den Repräsentanten der Gemeinde, Bauern wie Häuslern, eine fürstliche Tafel versprochen wurde, und zu deren Anlass der Propst, das Fräulein und der ganze Pfarrhof einen kalkulierten Glanz, einen Überfluss und eine Pracht, entfalteten, der die Vorstellung einer paradiesischen Offenbarung wecken sollte.

Um diesen Eindruck noch zu verstärken, bestand die Mahlzeit stets aus sonderbar aussehenden, für die Bauern vollkommen fremden Gerichten, und aus Weinen in allen Farben – sicherlich den billigsten, die Propst Tønnesen beim Kaufmann in der Stadt hatte auftreiben können, aber deren Namen eine Herkunft aus weiter Ferne vermuten ließen. Und wenn schließlich die unveränderliche Krönung der Mahlzeit, der mächtige Plumpudding, brennend zu Tisch getragen wurde, und die Gäste sahen, wie der Propst ein großes Stück aus den Flammen schnitt und Löffel um Löffel dieses "Höllenfeuers", wie man es getauft hatte – unverletzt bis in seinen Mund führte, bekamen sie wahrhaftig das ergreifende Gefühl, gemeinsam mit der Verkörperung jenes Geistes, der Ursprung und Bezwinger aller Elemente ist, am Tisch zu sitzen.

Natürlich erreichten die Einladungen zu diesen Speisungen ausschließlich die bis dahin "rechtgläubigen" Lager – wie eine Art Belohnung für die geleistete Treue und eine Erinnerung daran, sich weiterhin vor dem Dämon in Acht zu nehmen, der hier in der Gemeinde die Gestalt von Weber Hansen angenommen hatte. Zugleich bekamen sie die Aufgabe, Neid bei den Übergangenen zu wecken und diese Verirrten zum Nachdenken zu bewegen, indem sie ihnen einen kleinen Vorgeschmack jener himmlischen Freuden vor Augen führten, die sie sich bei weiterer Sturheit für immer aus dem Kopf schlagen konnten. Dem Zufall, dass die Feste unmittelbar vor die großen Opfertage13 gelegt wurden, konnten nur die böswilligen Skibberupper eigennützige und verdorbene Beweggründe unterstellen.

Fast die ganze vergangene Woche war man im Pfarrhof mit den Vorbereitungen für das Fest beschäftigt gewesen. Der Propst hatte allen Einkäufen in der Stadt persönlich vorgestanden und auch, soweit die Tochter es zuließ, der Zubereitung der kalten Gerichte in der Küche beigewohnt – nicht aus übertriebener Mühe für seine Gäste, sondern um seinen persönlichen Drang nach Einfluss, Führung, Planung und Anordnung zu befriedigen, und wenn es bloß um das Obst in einer Schale ging.

In dieser Hinsicht kam Fräulein Ragnhild vollkommen nach ihrem Vater. Obwohl sie regelmäßig ihren tiefsten Unmut anlässlich des ganzen Lärms um die paar Bauern kundtat, deren große rote Hände, unbeholfene Manieren und nach Schweinestall stinkende Kleider sie so innig verabscheute, lief es immer darauf hinaus, dass sie in der Veranstaltungsplanung vollständig aufging, um das Fest so überraschend und blendend zu gestalten, dass es ihrem Vater und ihr selbst zwangsläufig den Respekt und den Neid, mit denen die Bevölkerung sonst so sparsam umging, einbringen musste.

Sie hatte den ganzen Vormittag so viel zu tun gehabt, dass sie entgegen der Gewohnheit nicht mit ihrem Vater in die Kirche hatte gehen können, und sogar zum Mittagstisch kam sie noch in ihrem hellen Morgenkleid, einer großen Latzschürze, einem Schlüsselbund am Gürtel und mit einer kleinen, hausmütterlichen Haube, die kokett auf ihrem Kopf saß. Sie wusste, dass sie in diesem Aufzug unwiderstehlich war, und warf Kaplan Hansted während der gesamten Mahlzeit verstohlene Blicke zu, der jedoch wie gewohnt still und geistesabwesend dasaß, als könnte er weder hören noch sehen, was um ihn herum geschah. Auch während Vater und Tochter sich über das Fest austauschten, versank er in Gedanken und zerkrümelte nervös sein Brot auf der Tischdecke. Wenn einer der beiden aus Höflichkeit ab und zu das Wort an ihn richtete, zum Beispiel um sich nach seiner Meinung über Kartoffelsalat oder Torte zu erkundigen, sah er verwirrt auf, als hätte man ihn auf frischer Tat ertappt.

Da lachte Fräulein Ragnhild klar und leicht gezwungen auf, sodass es von der Decke widerhallte, und sagte:

"Da haben wir Sie aber erwischt, Herr Hansted!"

Propst Tønnesen runzelte hingegen missbilligend die Stirn. Er hielt eine solche Unaufmerksamkeit, während er sprach, für unangebracht, auch wenn es nur um Butter und Salate ging.

Alles in allem war er mit seinem Kaplan ganz und gar nicht so zufrieden, wie er seinerzeit erwartet hatte. Er fühlte sich von diesem stillen Menschen belästigt und von dessen Unzugänglichkeit beinahe beleidigt, weil die geistige Überlegenheit des Propstes gar keinen Einfluss auf ihn zu nehmen schien. Er hatte gehofft, in diesem jungen Mann eine Art Jünger zu gewinnen, der hellhörig an seinen Lippen hängen und seine Weisheit auffangen würde. Stattdessen wandelte nun ein Wesen durch sein Haus, das scheinbar weder sehen noch hören konnte, ja, das vor lauter Zerstreuung kaum Antworten gab, wenn man ihm Fragen stellte.

Besonders ungeduldig machte Propst Tønnesen aber das Verhältnis des Kaplans zu seiner Tochter. Seit drei Monaten war er nun beinahe wie der Sohn des Hauses betrachtet worden, und bis zuletzt hatte der Propst gehofft, das heutige Fest mit der Verkündung der Verlobung krönen zu können. Der Kaplan hatte jedoch nach wie vor offensichtlich nicht einmal den ersten Schritt getan. Was fiel ihm ein? Propst Tønnesen wusste nicht, ob er ihm Scheu oder Undankbarkeit unterstellen sollte, doch in beiden Fällen kam es ihm so vor, als hätte er Grund zur Beschwerde.

Um nichts zu vereiteln, hatte er sein Missvergnügen allerdings bisher für sich behalten, ja, sich seiner Tochter zuliebe sogar dazu gezwungen, dem Kaplan immer deutlichere Aufmerksamkeit zu schenken, dem allmählich sowieso der ganze Pfarrhof wie auf Zehenspitzen den Hof machte.

Nach dem Mittagessen gingen sie alle drei in die Wohnstube.

Fräulein Ragnhild, die als letzte eintrat, schloss sorgfältig die Tür zum Esszimmer und zog außerdem die dort aufgehängte Portiere ganz zu, wuselte daraufhin etwas nervös in der Stube herum, verschwand dann in dem angrenzenden Kabinett14, wie um sich zu vergewissern, dass sich niemand darin befand, woraufhin sie sich mit der Straminstickerei auf ihrem gewohnten Platz am Fenster in der Nähe des Papageienkäfigs niederließ.

Der Propst zündete wie immer seine Pfeife an und ging einige Male qualmend auf und ab, tat dann so, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, das er unbedingt sofort mit dem Hofknecht besprechen musste, und verließ die Stube, um die beiden jungen Leute allein zu lassen.

Kaplan Hansted hatte auch Anstalten gemacht, zu gehen, doch nun zwang ihn die Höflichkeit, eine Weile zu bleiben. Leicht verlegen widmete er sich ein paar blühenden Blumen auf der Fensterbank und roch an ihnen. Draußen schien die Sonne auf den großen, gepflasterten Hofplatz, auf dem ein mächtiger Hahn umherstolzierte und einer Schar Hühner den Hof machte. Für einen Augenblick war es nach dem Abgang des Propstes so still in der Stube, dass man hören konnte, wie Lone in der Küche einen Topf schrubbte.

Aus der Ecke mit dem Papageienkäfig betrachteten Fräulein Ragnhilds hellbraune Augen ihn in heimlicher Aufmerksamkeit über die Stickerei hinweg.

"Waren heute viele Leute in der Kirche?", fragte sie schließlich.

"Oh ja – wie üblich, denke ich."

"Ja, das gute Wetter hat die Leute wahrscheinlich nach draußen gelockt."

"Ja – vielleicht", sagte er zerstreut. Das Gespräch geriet wieder ins Stocken. Unverwandt beobachtete der Kaplan einen Spatzenschwarm beim Sonnenbaden auf dem Strohdach des Scheunenflügels; Fräulein Ragnhild begann nun zu nähen, während das Blut langsam in ihre Wangen strömte und sie tiefrot färbte, als ob große Entscheidungen in ihr heranreiften.

Plötzlich ließ sie das Nähzeug in ihren Schoß sinken und sagte, sowie sie den Kopf leicht zur Seite neigte und ihrer Stimme einen beinahe zärtlichen Klang verlieh:

"Darf ich Ihnen eine Frage stellen, Herr Hansted! – Eine Frage des Gewissens, meine ich."

Der Kaplan drehte sich stutzend zu ihr um und musterte sie eine Weile mit nahezu übertriebenem Erstaunen.

"Eine Gewissensfrage, Fräulein?", fragte er dann und lächelte gezwungen.

"Vater und ich haben mehrmals darüber gesprochen, dass Sie sich hier auf dem Land wahrscheinlich nicht so richtig wohlfühlen – und das ist ja auch völlig verständlich. Sie sind schließlich ein Stadtkind und sehnen sich natürlich nach einem abwechslungsreicheren Leben. Hier draußen haben wir ja nicht viel Aufmunterung zu bieten. Glauben Sie mir, oft stimmt mich diese Eintönigkeit selbst ganz melancholisch, ich verstehe also ausgesprochen gut, dass Sie Ihren Aufenthalt hier sicher als bedrückend empfinden – erst recht, da Sie ja so für sich bleiben."

"Da irren Sie sich vollkommen, Fräulein Tønnesen", antwortete der Kaplan seltsam gerührt. "Ich könnte nie wieder ins Stadtleben zurückkehren. Auf den Reiz, den das vielleicht für andere hat und einst auch für mich hatte – die Abwechslung, das rege Treiben, all das kunterbunte Leben – kann ich gut verzichten. Ich finde, das Leben auf dem Land ist trotz seiner Eintönigkeit tausend Mal reichhaltiger und erquickender."

"Ist das wahr?", rief Ragnhild mit strahlendem Lächeln. Doch indem sie sich wie beschämt bei ihrer Unverblümtheit ertappte, fügte sie errötend hinzu: "Ja, wundern Sie sich nicht, dass ich mich über Ihre Worte freue. Vater und ich haben so oft befürchtet, dass Sie Sehnsucht haben. Sie blieben so oft auf Ihrem Zimmer, und wir wollten ihnen doch gerade deshalb ein Zuhause schaffen, da sich hier doch so selten Gelegenheiten zum Umgang mit anderen Menschen ergeben."

Darauf hatte Kaplan Hansted keine Antwort. Es schien, als ob er sie gar nicht hörte. Zerstreut starrte er wieder auf den Spatzenschwarm, der im Sonnenschein herumtollte.

Plötzlich schreckte er aus seinen Träumereien auf, verbeugte sich vor dem Fräulein und verließ die Stube.

Ragnhild blieb allein zurück, vor Verwunderung versteinert. Sie wurde immer weniger aus diesem Menschen schlau. Am Anfang, dachte sie, hatte er sich ihr ernsthaft angenähert, und mit sorgfältiger Berechnung war sie ihm gegenüber etwas kühl aufgetreten, denn der angebliche Widerstand sollte ihn in seinem Siegeseifer bestärken. Entgegen dieser Vermutung, hielt er sich dann jedoch immer mehr zurück, und als sie – aus Furcht, er habe sich einschüchtern lassen – ihr Verhalten daraufhin veränderte, sanft und zuvorkommend wurde und dieses verständige, zarte, hausmütterliche Wesen annahm, das ihr Umfeld schon immer verzaubert hatte, wurde er noch unzugänglicher, beinahe abweisend.

Sie war mit ihrer Weisheit am Ende. Inzwischen hatte Fräulein Ragnhild sich nämlich ernsthaft in diesen Menschen verliebt, und je heftiger ihre Gefühle wurden, desto weniger schien er sie zu teilen. In ihrer Verzweiflung erlebte sie einen erneuten Sinneswandel, wurde schwärmerisch, sprach mit ihm über den nächtlichen Tau, die Sterne am Himmel und Christian Winthers Gedichte. Doch alles vergebens.

Nun blieb sie nach seinem plötzlichen und unhöflichen Abgang noch lange sitzen und grübelte, ihr Herz voller Hass, Neid und brennender Sehnsucht.

Dann hob sie den Kopf. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen. Ihr war klargeworden, dass der Kaplan zu diesen weichen, willenlosen Gemütern gehörte, gegen die man einen Trumpf im Ärmel haben musste, und sie hatte beschlossen, diese Karte heute auszuspielen. Bisher hatte ihr die Gelegenheit gefehlt, sich in ihrem vollen Glanz zu zeigen. Sie wusste, dass sie blenden konnte, wenn sie nur wollte – und jetzt würde sie zeigen, dass sie wollte und konnte.

10

Der Kaplan war auf sein Zimmer gegangen. Es befand sich, einsam und still, auf dem Dachboden, umgeben von einem großen, leeren Raum – wie eine eigene kleine Welt. Mit seiner niedrigen Decke, den vier verputzten Wänden und dem einen Fenster auf der Sonnenseite, hinter dessen Scheibe sich wilder Wein rankte, erinnerte es an eine Klosterzelle, die von einer Hand mit Sinn für Behaglichkeit in ein modernes Pfarrer-Boudoir verwandelt worden war. Auf dem Boden lag ein dicker Brüsseler Teppich von dunkelgrüner Farbe, die Wände waren mit Kupferstichen geschmückt; eine weiße Christusfigur trat wie eine Offenbarung aus einer der dunklen Ecken hervor. In der Fensternische standen, kunstvoll angeordnet, ein großer Sessel mit hellem Lederbezug samt einem kleinen runden Tisch mit einer Rose in einem Glas und einem aufgeschlagenen Buch. Sonst bestand das Mobiliar aus mehreren, gut gefüllten Regalen, einer Etagere mit Nippes, einem kleinen Sofa und einem großen Mahagonischreibtisch mit Aufsatz und Schränken, der seinerzeit – wie übrigens die meisten dieser Gegenstände – der Mutter des Kaplans gehört hatte, deren Bild darüber in einem ovalen Rahmen mit alter, bräunlicher Vergoldung hing.

Emanuel Hansted hatte sich auf das Sofa gesetzt und war mit dem Kopf in die Hand gestützt in sich zusammengesunken. Er war blass, wie vor Erschöpfung, und sah aus, als würde er leiden. Solange er in Gesellschaft war, bewahrte er noch einigermaßen die Fassung. Hier oben in der Einsamkeit fiel seine Maske. Jeder seiner Züge zeugte von tiefer, bitterer Enttäuschung.

Den ganzen langen Winter hatte er wie ein Eremit in dieser Zelle verbracht. Mit anfänglich brennendem Tatendrang, sich für seinen Beruf aufzuopfern, hatte er sich mit Leidenschaft in sein theologisches Studium gestürzt. Er hatte sich in die Schriften der Kirchenväter vertieft, alte und neue Bücher gelesen, Heiligengeschichten, Andachtsbücher und Predigtsammlungen – um sich für das Amt, dem er nun sein Leben gewidmet hatte und dessen er von ganzem Herzen würdig zu sein wünschte, richtig zu wappnen.

Denn er bemerkte bald, wie unvorbereitet und unreif er war, wie unendlich viel er noch zu lernen hatte, bevor er mit der wahren geistigen Überlegenheit würde auftreten können, von der Propst Tønnesen so oft sprach, und deren Notwendigkeit er nun auch selbst begriffen hatte.

Mit besonderer Vorliebe hatte er sich in die Ausarbeitung seiner Predigten gestürzt. Er hatte die besten und anerkanntesten Vorbilder gewählt, schrieb jeden Satz sorgfältig auf, übte sich im Vortrag und ließ die Arbeit nicht ruhen, ehe er den Ausdruck für genau das, was er sagen wollte, gefunden hatte. Oft schrieb er eine Predigt immer wieder um. Er machte keine halben Sachen. Stets wollte er sein Bestes geben. Und wenn er am Samstagabend die ins Reine geschriebenen Bögen schließlich durchlas, verspürte er auch eine gewisse Befriedigung durch die abgerundeten Abschnitte, den festen Satzbau, den bisweilen poetischen Flug der Bilder sowie die Tiefe und Klarheit der Gedanken. Aber – –

Aber am Sonntag in der Kirche, vor der großen, schniefenden und hustenden Gemeinde, kam es ihm regelmäßig so vor, als ließe der Geist ihn im Stich, und als fielen alle geflügelten Worte seiner Rede eines nach dem anderen wie tote Vögel auf die Erde. Er verstand das nicht, aber es fühlte sich an, als täte sich zwischen ihm und seinen Zuhörern ein immer breiter werdender Schlund auf, den seine Stimme vergeblich zu überqueren versuchte. Mit vor Verzweiflung erstarrtem Herzen hörte er seine vertrauten Worte wie in einem leeren Raum verhallen und sah, wie die Leute um ihn herum sanft vor sich hindösten, sich gedankenverloren ihrem Gesangbuch widmeten oder zur Sonne hinter dem Kirchenfenster blickten.

Und so, wie es ihm in der Kirche erging, erging es ihm auch am Krankenbett und überall, wo er vor der Herde stand, die er hüten sollte, und der er sich leidenschaftlich hingeben wollte. Sie verstanden einander einfach nicht. Es war, als sprächen sie zwei verschiedene Sprachen.

Hieraus schöpften die tiefe Verstimmung und der bittere Missmut, die Tag für Tag mehr Besitz von ihm ergriffen, Kraft. Allmählich verstand er, wie hoffnungslos der Glaube an eine wirkliche geistliche Verbindung zwischen grundsätzlich verschiedenen Menschen aus so ungleichen Verhältnissen und Elternhäusern war.

Aus diesem Grund hatte er sich auch noch nicht viel unter die Bevölkerung gemischt. Jedes Mal, wenn er zufällig oder von Amts wegen einem seiner Gemeindeglieder über den Weg lief, empfand er etwas, das einer seltsamen Mischung aus Scham und Trotz glich. Ihm schwante, dass sie ihn untereinander verspotteten, und das stimmte ihn noch bitterer und niedergeschlagener. Sogar vor jedem armen Schlucker, der mit gezogenem Hut um die Ausstellung einer Urkunde bat, fühlte er sich von seiner Unreife erdrückt und fand keine Worte für das, was er sagen wollte; und aus lauter Verlegenheit wurde er dann oft kalt und grob, sodass er anschließend ganz an sich selbst verzweifelte.

Auch in der Propstfamilie fühlte er sich nicht mehr wohl. Den Reiz, den die ländliche Behaglichkeit der Zimmer und Ragnhilds verständige Hausmütterlichkeit anfangs für ihn gehabt hatten, waren beinahe ins Gegenteil umgeschlagen. Er sah schnell ein, dass in diesem Heim kein wesentlich anderer Wind wehte als dort, wo er hergekommen war. Aus dem Mund des Propstes kamen fast die gleichen Worte, die er von seinem Vater kannte, und Ragnhild war vom gleichen Schlag wie diese leeren, eitlen Puppen, die er zu verabscheuen gelernt hatte – nur plumper und leichter zu durchschauen. Überall herrschte die gleiche Heuchelei, die gleiche einengende Rücksichtnahme, der gleiche brutale Hochmut gegenüber den Kleinen, die gleiche feige Kriecherei vor dem vermeintlich Großen und Glänzenden … doch sein Herz sehnte sich nach einem Leben in Wahrheit und Freiheit, so wie seine Mutter es sich erträumt hatte, – ein einfaches, gesundes, ehrliches und wirksames Leben, das die Leere in ihm füllen und ihm festen Boden unter den Füßen geben konnte.

Doch seine Hoffnung war zerbrochen!

Er fühlte sich oft so bitterlich allein. Der Winter war im Schneckentempo vorangeschlichen, und in seiner Einsamkeit grub sich die Schwermut immer tiefer in sein Herz. In seiner Heimat blieb ihm kein einziger Freund, der ihn verstand, und auch hier, wo seine Ehre von ihm verlangte, zu bleiben, hatte er keinen gefunden.

Von beiden Gesellschaften fühlte er sich verstoßen – wie ein Wechselbalg, das nirgends zu Hause war, zu dem sich niemand bekennen wollte und das niemand brauchte.

Seine letzte Hoffnung hatte er auf diesen Tag gesetzt. Er wusste, dass heute viele Leute in die Kirche kommen würden, da es der erste Sonntag in der Fastenzeit war, weshalb er besonders fleißig an seiner Predigt gearbeitet hatte. Dies sollte die endgültige, entscheidende Prüfung sein. Ein letztes Mal wollte er noch versuchen, ob es ihm nicht doch gelingen konnte, die Zuhörer in den Bann seiner Worte, seines Bekenntnisses zu ziehen. Die ganze vergangene Woche war er wie im Fieberwahn gewesen. Er hatte nichts gegessen und kaum geschlafen, nur geschrieben – immer wieder von Neuem – und Gott um Beistand angefleht.

Doch kaum war er heute auf die Kanzel gestiegen, da spürte er schon die gleiche Kälte vom Boden der Kirche aufsteigen, spürte, wie sich der gleiche Nebel zwischen ihn und seine Zuhörer legte. Er ergriff das Wort, aber kurz darauf sah er – hier einen, der im Gesangbuch las, – da einen anderen, der sich zum Zeitvertreib ein Taschenmesser an der Stiefelsohle schliff, – dort einen dritten, der sich mit einem Schwefelholz in den Zähnen herumstocherte.

Alles war vorbei! Er hatte verloren!

Wie nur hatte er sich so in sich selbst und seinen Fähigkeiten täuschen können? Dann bekamen die daheim also doch Recht! Er war verblendet, verhext, verwirrt von einem Glauben an etwas, das es nicht gab. Er hatte die Hand nach einem Blendwerk, einem Traumbild ausgestreckt. Aber was hatte seine Mutter damals denn dann gemeint?

Er stand hastig auf und fuhr sich durchs Haar. Im Zimmer war es heiß geworden, die Sonne brannte durch die Fensterscheiben, und im Kachelofen knackte ein Torfblock.

Er öffnete das Fenster, lehnte sich mit der Schulter an die Wand und schaute hinaus.

Von hier konnte er die gesamte Gegend Richtung Süden überblicken – von den hohen Hügeln mit dem Kirchturm von Skibberup im Osten bis zum Fjord und seinen flachen, grünen Ufern im Westen. Direkt unter sich – denn der Pfarrhof war hoch und frei gelegen, hatte er einen Teil Vejlbys, und wenn er über dessen Strohdächer schaute, konnte er der Straße folgen, die sich zwischen Äckern und Teichen hindurchschlängelte, vorbei an Hütten und einsamen Höfen, mal steigend, mal fallend, bis sie weit im Süden zwischen den drei großen, kargen Bodenwellen15 verschwand, hinter denen sich Skibberup in seiner Senke versteckte.

Er musste an jenen Winterabend denken, als er zum ersten Mal dort langgefahren war. War seine Hoffnung nicht groß gewesen? Hatte er sich nicht stark und sicher gefühlt? Ihm war doch gewesen, als hätte der Herr persönlich von den Sternen auf ihn herabgelächelt und ihm seinen Segen gegeben.

Er erinnerte sich noch deutlich an alles, was an diesem Abend geschehen war, sah die märchenhafte Pracht der unendlichen Schneelandschaft noch vor sich, rief sich seinen Eindruck von ihrer Stille in Erinnerung, die ihm wie ein Vorgeschmack auf den ewigen Frieden vorkam, – die Schneeräumer, die ihn so herzlich willkommen geheißen hatten, die kleine, gemütliche Bauernstube, in die er eingetreten war, und vor allem das junge blonde Mädchen, das er gesalbt hatte.

Seitdem hatte er oft an dieses Mädchen gedacht. Er fühlte sich auf eine besondere Weise mit ihr verbunden, weil sie die Erste gewesen war, bei der sich der Herr durch ihn ausgedrückt hatte. Er wusste ja, dass sie wieder genesen war. Ein paarmal hatte er ihr Gesicht in der Kirche gesehen und erinnerte sich noch an den seltsamen Eindruck, den das zunächst bei ihm hinterlassen hatte. Er hatte sogar im Sinn gehabt, einmal bei ihr und der Familie vorbeizuschauen, wenn er in der Nähe war; als ihr Seelsorger erschien ihm das angebracht.

Doch hierzu hatte er noch genauso wenig den Mut aufbringen können, wie die anderen Familien aus der Gegend zu besuchen, die er von Amts wegen einmal aufgesucht hatte. Und er hatte schon Einblicke in vielerlei Haushalte bekommen, von großen, wohlhabenden Bauernhöfen, wo der Reichtum förmlich an Türen und Wänden haftete, bis zu den elendsten Bruchbuden, in denen die Armut einem aus Rissen und Spalten entgegenstarrte. Doch überall war er ein Fremder gewesen, – nur ein gefürchteter Steuereintreiber des Himmels, der den Leuten mit seiner Forderung nach Buße, Gebet und Bekehrung Angst einjagte.

Stattdessen hatte er im Lauf des Winters hier an seinem Fenster gestanden und verträumt nach draußen gestarrt. Wenn er seiner Arbeit mit dem Buch müde geworden war, und die Gedanken ihm von der fortwährenden Beschäftigung mit bedruckten und beschriebenen Blättern zu schwer wurden, ging er dorthin und schöpfte neue Kraft daraus, den Blick über die große, hügelige Ebene schweifen zu lassen, mit der er nach und nach so vertraut wurde, dass er schließlich jeden Hof, jedes Haus, jeden Dornenbusch auf den langgezogenen Erddeichen kannte, die die Äcker voneinander abgrenzten. Tagsüber hatte er von hier die Fußgänger, Fahrzeuge und Pflüge beobachtet, die sich bei Regen, Sturm oder strahlendem Sonnenschein über die Straßen und Felder bewegten. Und auch am Abend hatte er hier gestanden und auf die vielen, rötlichen Lichtflecken auf den erleuchteten Fensterscheiben geblickt, die alle von einem Zuhause zeugten. Dann hatte er sich mit dem Gefühl von seiner eigenen Heimatlosigkeit in das Leben dieser Menschen geträumt, sich in ihr einfaches, sicheres und von keinerlei Unruhe belastetes Dasein gezaubert, um das er sie in solchen Augenblicken beneidete. Was war das doch für ein seltsames Leben – dachte er viele Male. Wie ein unterirdisches Volk, dessen Sprache er nicht verstand und dessen Wesen ihm ein Rätsel war. Wo lernte man das Zauberwort, das einem diese seltsam fremde Welt öffnete, zu der er so naiv geglaubt hatte, Eintritt zu erhalten?

So stand er da, als er plötzlich ein sonderbares Pfeifen über seinem Kopf hörte.

Er sah auf.

War das denn möglich? Guter Gott! – war das etwa ein Star? – waren die Stare schon zurück? War der Frühling denn wirklich schon so nah – der Frühling, nach dem er sich so gesehnt und von dem er sich so viel erhofft hatte?

Warmes Blut strömte durch seinen Leib. Er musste hinaus! Jetzt erst sah er, wie die Sonne schien, wie die Äcker in der Mittagshitze dampften – und da! – ein weiterer Star – und noch einer – erst jetzt merkte er es – der ganze Garten war voller Frühling!

11

Er schnappte sich seinen runden, braunen Plüschhut, zog seinen Mantel an und versah sich mit dem ländlichen Eichenstock, der ihm den ganzen Winter lang ein treuer Gefährte auf seinen Spaziergängen gewesen war.

Um nicht gesehen und möglicherweise vom Propst oder dem Fräulein aufgehalten zu werden, ging er nicht über den Hofplatz und durch das Tor, sondern verschwand durch eine kleine Gartenpforte an der Giebelseite des Wohnhauses. Von hier aus folgte er einer langen Haselallee, die am Garten entlang verlief.

Der Garten des Pfarrhofs war sehr groß, maß fast fünf Tonnen Land16. Er bestand hauptsächlich aus großen, ausgewachsenen Bäumen und ähnelte einem Park. Nur einige wenige Blumenbeete fanden sich auf einer Rasenfläche vor der Tür zum Wintergarten. Der Garten war auf äußerst hügligem Gelände angelegt worden und wurde von einem tiefen Graben in zwei Hälften geteilt. Die hintere war als "Hain" bekannt. Über den Graben, in dem altes Schilf wucherte, führten zwei kunstvolle Brücken in chinesischem Stil, die Propst Tønnesens Vorgänger, "der Millionärspfarrer", seinerzeit hatte bauen lassen. Ihm waren auch eine denkwürdige, massiv gebaute Gartenlaube im Tempelstil und einige alte Sandsteinfiguren zwischen den Bäumen zu verdanken.

Emanuel Hansted verließ den Garten durch eine Pforte am äußersten und höchstgelegenen Ende, die auf das offene Feld führte. Nun befand er sich auf der Kuppe des Hügels, auf dessen Hang der Pfarrhofgarten lag, und konnte die Gegend in alle Richtungen überblicken.

Hier blieb er einen Augenblick auf seinen Stock gestützt stehen und schaute sich nachdenklich um.

Auf allen Seiten des dunklen Pfluglands grünten die ersten Roggenäcker und strahlten in der Sonne. In der Ferne färbte sich der Fjord zwischen den dampfenden Hügeln blau, und in der fruchtbaren, frühlingsweichen Luft über dem Land lagen so viel Sonnenlicht und verheißungsvolles Vogelgezwitscher, als könnte der Sommer jederzeit Einzug erhalten. Am Himmel war keine Wolke zu sehen, in meilenweitem Umkreis stieg der mittägliche Rauch von allen Hütten und Höfen kerzengerade in die Höhe; kein Lüftchen regte sich.

Der Kaplan folgte einem langsam abfallenden Pfad, der den Hang hinab und von dort über leeres Brachland in Richtung Fjord führte.

Hier hatte er im Lauf des Winters seinen täglichen Spaziergang unternommen. Wenn ihm Missmut und Müdigkeit zwischen seinen Büchern die Gedanken schwergemacht hatten, hatte er Trost in der Natur gesucht. Hier draußen erschien ihm alles so neu und erfrischend. Vom Wintersturm, in dem er seinerzeit angekommen war, bis zum ersten Frühlingserwachen auf dem Feld und im Wald, hatte er dieses Schauspiel wie ein Kind verfolgt. Nie hätte er gedacht, dass selbst in der behäbigen Wanderung eines wolkenverhangenen Himmels etwas derartig Fesselndes liegen könnte. Er hatte richtig Herzklopfen bekommen, als er den ersten grünen Spross in einem Graben erblickt hatte. Und die erste Lerche! – Wie vom Blitz getroffen war er gewesen, als er eines Tages schon Anfang Februar plötzlich dieses sommerliche Gezwitscher über seinem Kopf gehört hatte, während sich um ihn herum noch alles in Winterstarre befand. Das würde er nie vergessen.

Am Strand hatte er seinen Lieblingsplatz gefunden. Hier konnte er stundenlang mit dem Stock hinter dem Rücken die Möwen beobachten, die in Schwärmen über die Steine flatterten, mal ausgelassen schreiend, mal still an der immergleichen Stelle ihre Kreise ziehend, als verschwiegen sie ein wichtiges Geheimnis.

Diese vertrauliche Gemeinschaft mit der Natur diente ihm als Entschädigung für seine Einsamkeit oder half ihm jedenfalls, sie für einen Augenblick zu vergessen. Wenn er mit seinem simplen Eichenstock, der ihm allmählich ein treuer Freund geworden war, so über die einsamen Felder wanderte, hatte er das Gefühl, nun doch ein wenig von dem Frieden und der Freude gefunden zu haben, nach denen er sich gesehnt hatte. Hier gab es Freiheit, hier gab es Gesundheit und Leben. Wie er die armen Städter doch bedauerte, die gar nicht wussten, was es bedeutete, unverschmutzte Luft einzuatmen; die sich mit dem engen Korsett der Schicklichkeit herumquälten und sich dann zu allerart unnatürlichen Gelüsten aufheizten, weil sie die große einfache Freude, das Geschenk Gottes freier Natur, nicht kannten. Was für ein Leben! Und er hatte es selbst geführt! Er verstand es schon kaum mehr. Nur eines war er sich sicher – niemals würde er dorthin zurückkehren, komme was wolle. Tausendmal lieber würde er sein ganzes Leben als Einsiedler verbringen, einzig im Umgang mit seinem Gott, anstatt wieder in diesem Elend zu versinken, von dem er wie durch ein Wunder erlöst worden war.

… Er war am Wasser angelangt und hielt Ausschau nach den Möwen. Doch heute war der Strand leer. Die Sonne und die Stille der Luft hatten die Schwärme zur Fjordmündung und aufs Meer getrieben. Über der ganzen glatten Wasseroberfläche war kein einziger Vogel zu sehen.

Da stand er nun und blickte zu den fernen grünen Hängen auf der anderen Seite, die sich samt Kirchen, Mühlen und weiß getünchten Häusern im Küstenwasser spiegelten. In der Luft lag eine wunderbare Klarheit. Obwohl der Abstand von Küste zu Küste an dieser Stelle gut eine Meile17 betrug, konnte er die über die Straßen fahrenden Sonntagskutschen noch erkennen. Ein Fischerboot mit lohfarbenem Segel und zwei Riemen glitt von einem kleinen Dorf an der Küste auf den Fjord. Er beobachtete es, bis es weit entfernt am Horizont verschwand.

Plötzlich wurde er von einem Räuspern geweckt.

Er drehte sich um und sah einen kleinen dicken, älteren Mann mit einer zottigen Kappe und großen Lederstiefeln, der eine Aalreuse auf der Schulter trug.

"Guten Tag, Euer Hochehrwürden!", sagte er und hob die freie Hand. "Sieh mal einer an! Dass man Euer Hochehrwürden hier antrifft!"

Emanuel stimmte es ganz verlegen, dass man ihn bei seinen Träumereien ertappt hatte. Er war nicht daran gewöhnt, an diesen verlassenen Orten Menschen zu begegnen.

"Ja, Euer Hochehrwürden erkennen mich vielleicht nicht wieder", fuhr das dicke Männlein fort und grinste breit unter ein paar grauweißen Bartstoppeln.

"Nein – ich glaube nicht –"

"Ich bin jedenfalls als Lars Sejler bekannt, sag ich mal, den Namen haben Sie gewiss schon gehört, schätze ich. Wir haben aber übrigens auch schon miteinander geredet."

"Tja, also", gab Emanuel ratlos von sich und kramte in seinem Gedächtnis. "Ich kann mich im Augenblick wirklich nicht erinnern – –"

"Erinnern Euer Hochehrwürden sich etwa nicht mehr an den Winterabend, als Euer Hochehrwürden rüber zu Anders Jørgen in Skibberup gefahren sind – damals, als das Mädchen diese schlimme Krankheit hatte? Wir haben gerade den Schnee geräumt, falls Sie das noch wissen – wir Männer aus Skibberup. Können Euer Hochehrwürden sich denn nicht mehr erinnern, dass wir Sie begrüßen wollten, denn wir hatten Sie ja noch nie gesehen – ja, so war das."

"Ach, Sie waren das", sagte Emanuel erfreut und reichte ihm die Hand. "Ja, dann erinnere ich mich gut an Sie und habe auch schon von Ihnen gehört."

"Genauso ist es – und danke für den Handschlag", sagte das gemütliche Dickerchen und schlug seine rote Faust in die weiße Hand des Pfarrers. "Ja, wie Sie sehen, bin ich ein ehrlicher Mann. Das bekommen Sie überall zu hören, Lars Sejler – der kennt sich aus. Und das sag ich Ihnen, Euer Hochehrwürden, dass Euer Hochehrwürden sich tausend Dank für die Predigt heute verdient hat. Denn das will ich Ihnen sagen – eine so reizende Rede habe ich in meinem Leben noch nicht gehört. Tolle Worte waren das – bei Gott, und wie! Ich sag's Ihnen, Hochehrwürden, so wahr ich hier stehe, ein Sünder vor Unserm Herrn – ich hatte Tränen in den Augen, so sehr sind mir die Worte ans Herz gegangen."

Emanuel war rot angelaufen. Sein eigenes Herz klopfte. – Dann hatten seine Worte also doch wenigstens eine Seele erreicht!

"Es freut mich, dass Sie etwas daraus mitnehmen konnten", stammelte er und sah verlegen zu Boden.

Sie unterhielten sich noch eine Weile über das milde Wetter, Fischerei und Schifffahrt, und mit seinen gewohnten eifrigen Gesten und vielen drolligen Worten verkündete Lars, dass er sich nun seinen Aalschmaus schnappen würde, wenn ihm denn das Glück und der Segen zuteilwürden.

Schließlich reichte er dem Kaplan wieder seine große rote Flosse und sagte:

"Ja, nun bedanke ich mich bei Euer Hochehrwürden für das Gespräch. Und sollten Euer Hochehrwürden mich für irgendetwas brauchen – sicher wissen Sie, dass ich Doktor und Tierarzt bin und außerdem noch Schuhe flicke – lassen Sie einfach nach mir schicken, Lars Sejler ist Ihnen stets zu Diensten."

Als Emanuel ein paar Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal um und schaute ihm lächelnd nach.

Welch eigentümliche Menschen, dachte er. – Da läuft er, arm und alt, und doch nichts als Lächeln und Freude! – platscht da auf dem Wasser die halbe Winternacht nach einem einzigen "Aalschmaus" herum, doch beschwert sich nie! Duldet Hunger, Kälte und Not und dankt dennoch Gott, weil er ihm ein Strohdach, ein Stück Erde oder Wasser zur Nahrung gab.

Glückliche Menschen!

Und seine Predigt hatte er verstanden! Sie war ihm ans Herz gegangen, hatte er ja gesagt – wirklich ans Herz!

Nachdenklich setzte Emanuel seinen Weg am Strand entlang fort.

Also hatte er doch eine Seele – –

Direkt an der Küste stieg er eine Anhöhe hinauf, die "Hammerbakken" hieß. Ihr zu Fuße lag Skibberup, umgeben von seinen großen, kargen Bodenwellen, mit seinem großen Dorfteich und den vielen kleinen Fischerhütten und Höfen.

Ein kurzer Stoß durchfuhr Emanuel, als er Anders Jørgens kleinen, rot verputzten Hof am Rand des Dorfes erblickte. Obwohl er ihn seit jenem Abend nicht mehr gesehen hatte, erkannte er die hohen Pappeln um den Gartenzaun sofort wieder, auch den etwas altmodischen Wohnflügel, die neugebauten Seitenflügel, die dünne Fahnenstange und das geteerte Tor.

Erneut empfand er eine große Sehnsucht, dort vorbeizuschauen. Der Spaziergang, die frische Luft, die Frühlingssonne und das Gespräch mit Lars Sejler gaben ihm Mut.

Er zog sich einen schwarzen Handschuh über die linke Hand, klopfte die Beinkleider ein wenig ab und ging in Richtung Dorf.

12

Überall im Dorf erweckte er allgemeines Aufsehen. Es war so ungewöhnlich, ihn hier zu sehen, dass man meinte, irgendwo müsse etwas im Gange sein. Lag jemand im Sterben? Hatte jemand ein Kind bekommen? Wen wollte er besuchen, und wollte er überhaupt jemanden besuchen?

In allen Fenstern tauchten Gesichter auf, und in Türen und Toren standen Leute, die gerade aus ihrem Mittagsschlaf erwacht waren und ihn mit träger Höflichkeit grüßten. Er selbst lüftete seinen dunkelbraunen Plüschhut und führte die ausladende Bewegung bei jedem ganz aus – ja, sogar, als er am Dorfteich einem Haufen knicksender Mädchen in Sonntagstracht über den Weg lief.

Es hafteten gewiss über hundert fragende Blicke an ihm, als er durch das Tor auf Anders Jørgensens Hof einbog.

Er ging die Steintreppe hinauf, betrat die Vorderstube und klopfte an.

Niemand antwortete ihm.

Da öffnete er vorsichtig die Tür und trat ein. Die Stube war leer. Er blieb eine Weile stehen und lauschte. Doch im ganzen Haus war kein Laut zu hören. Alles war wie ausgestorben.

Er sah sich um.

Er erkannte das Zimmer wieder, die grünen Täfelungen, die kleinen Bleiglasfenster, die alte tickende Schrankuhr in der Ecke, die Zinnteller an der Wand und den kunstvollen Beilegerofen. Es war, als träte er in ein anderes Jahrhundert. Über der Tür hing ein Bündel welker Kräuter. Er wusste, dass das ein Überbleibsel aus einem uralten bäuerlichen Aberglauben war, und fühlte sich gerührt, ihn hier so treu bewahrt zu sehen.

Eines fiel ihm besonders auf. Diese Ordnung, diese nahezu penible Sorgfalt überall. Kein einziger Fussel auf dem saubergeschrubbten Boden. Der Ofen strahlte förmlich vor Glanz. Eine aufgeblühte Rose stand am Fenster.

Er dachte an alles, was er – auch im Pfarrhof – über den fehlenden Sinn der Bauern für Sauberkeit und Behaglichkeit gehört hatte. Wie oft hatte Fräulein Ragnhild nicht die Augen verdreht und gesagt, sie "sterbe", wenn sie sich bloß zwei Minuten in einer Bauernstube aufhalten würde. Er selbst war bei den armen Leuten auch Zeuge eines Elends geworden, das ihm wie ein Bleigewicht auf die Brust gefallen war. Doch davon abgesehen hatten sich ihm auch schon ausreichend Gelegenheiten geboten, zu erfahren, wie viel Unrecht man den Landbewohnern auch in diesem Punkt getan hatte. Und hier duftete es ja nahezu nach Sauberkeit und Behaglichkeit!

Sein Blick fiel auf einige Bilder an der Wand. In der Mitte hing eine große, schlecht ausgeführte Lithographie von Friedrich dem Siebten, wie er das Grundgesetz unterschreibt. Ihn umgaben kleinere Portraits bekannter Volksführer: Grundtvig, Tscherning18 und andere.

Emanuel erinnerte sich daran, letztere auch im Zimmer seiner Mutter gesehen zu haben. Ihnen nun ausgerechnet hier wieder zu begegnen, hinterließ einen seltsamen Eindruck bei ihm. Es war, als überbrächten sie einen aufmunternden Gruß von ihr. Er meinte, sie sagen zu hören: Sei guten Mutes, mein Sohn!

Nun klopfte er an verschiedene Türen, doch nirgendwo bekam er eine Antwort. Alles war leer.

Zuletzt kam er in die Waschküche, wo ihm glänzende Kochgefäße und Milchfässer von den Regalen entgegenstrahlten. Auf den Steinboden war weißer Sand gestreut, und alles sah so reizend, beinahe festlich aus.

Eine Katze, die auf dem Waschkessel saß, als er hereinkam, sprang herunter und verschwand durch eine offenstehende Tür auf den Hofplatz.

Den gleichen Weg schlug Emanuel nun auch ein.

Sowie er auf den Treppenabsatz trat, öffnete sich eine der Stalltüren, und eine junge Frau mit einem gerafften Rock, einem Tuch um den Kopf und einem Tragholz auf den Schultern kam ihm summend entgegen. Sie bemerkte ihn nicht, ehe sie ganz in seiner Nähe war. Da stieß sie einen lauten Schrei aus, wurde feuerrot, löste schnell den Rockzipfel vom Gürtel und ließ ihn fallen.

Emanuel erkannte sie sofort wieder.

Nur überraschte es ihn, wie schön sie war. Diese kecke, üppige Schönheit und diese gesunden, roten Bäckchen, die durch das Kopftuch noch runder erschienen, entzückten ihn völlig. Beim letzten Mal hatte sie ja noch im Krankenbett gelegen. Deshalb begriff er kaum, dass das wirklich sie war.

Er stieg die Stufen hinunter und gab ihr die Hand.

"Nicht erschrecken … Guten Tag … Karen war Ihr Name … nicht wahr?"

Sie trocknete ihre Hand an der Schürze ab und reichte sie ihm zögernd.

"Ja", sagte sie, immer noch ganz rot und mit abgewandtem Blick. Sie erinnerte sich sicher auch daran, wo er sie zuletzt gesehen hatte.

"Ich dachte, ich schaue einmal vorbei und frage, wie es Ihnen geht. Sie haben sich ja gut erholt, wie ich sehe."

"Ja, danke … Vater kommt bestimmt gleich."

Sie wollte nur noch schnell ins Haus huschen. Dass er sie auch ausgerechnet antreffen musste, wenn sie vom Melken kam! Sie hatte bestimmt Dreck auf dem Kleid. Und – sie warf einen Blick auf ihre Hände – Gott, wie die aussahen!

Doch der Kaplan blieb stehen. Sie konnte spüren, wie er sie ansah, und war kurz davor, vor Scham im Boden zu versinken.

"Es scheint mir im Übrigen, als hätte ich Sie einmal in der Kirche gesehen … aber vielleicht irre ich mich da auch … es ist ja lange her, dass ich hier war", wechselte er das Thema, als sie nicht antwortete.

Sie betrachtete ihre rechte Hand, die den Haken am Strick der Tragestange festhielt. Emanuel fand, er habe noch nie zuvor ein solch rührendes Bild weiblicher Scham gesehen.

Plötzlich hob sie den Kopf.

"Will der Pastor nicht in die Stube gehen … Vater kommt gleich", sagte sie sichtlich erleichtert und stürzte sogleich an ihm vorbei, sodass die Milch auf die Stufen schwappte.

In der Tat kam Anders Jørgensen gemächlich aus dem Stall gewandert. Seine Schritte mit den soliden Holzschuhen hallten im ganzen Hof wider.

Sowie er den Kaplan entdeckte, erschrak er ebenfalls sehr und ließ ein Bündel Kuhhalfter fallen, das er mit sich trug. Er wusste, wie man sich für das Begehen eines Sakrilegs schämen musste. Dennoch konnte Anders Jørgensen schwerlich darauf verzichten, sich Sonntagnachmittags im Stall zu beschäftigen; auch trug er jetzt seinen alten, schmutzigen Mantel und die grün angeschimmelte Mütze – nachdem er sich den ganzen Vormittag in seiner strahlenden Sonntagskleidung fremd gefühlt hatte.

Als Emanuel nun auf ihn zukam und ihm die Hand reichte, stammelte er einige Entschuldigungen wegen seines Aussehens und trocknete die Faust an seinem Hosenbein ab, bevor er sie ihm gab.

"Der Kaplan muss entschuldigen … ich bin vielleicht nicht ganz so anständig … ich meine …"

"Machen Sie sich nichts draus, Anders Jørgen. Man muss sich seiner Arbeit auch nach außen anpassen", unterbrach Emanuel ihn mit einem der vielen gängigen Sprichwörter, die er bei den Bauern aufgeschnappt und sich gewissenhaft eingeprägt hatte, um sie bei passender Gelegenheit anwenden zu können. "Ich dachte, ich komme einmal bei Ihnen vorbei, um nach dem Rechten zu schauen. Ihre Tochter hat sich ja richtig gut erholt, wie ich sehe. Und Sie auch, Anders Jørgen. Wie geht es Ihnen?"

"Gut, danke. Will der Kaplan nicht in die Stube gehen … unsere Mutter müsste drinnen sein."

"Nein, von da komme ich gerade. Dort ist alles ganz leer."

"Ja, dann … dann ist sie bei einer Wöchnerin nebenan. Aber will der Kaplan denn nicht hineingehen, dann kommt sie gleich. Und dann bitte ich den Kaplan, mich kurz zu entschuldigen … ich hätte mich doch waschen sollen … aber ich muss mich ja um das Vieh kümmern, auch am Feiertag. Daran lässt sich nicht rütteln."

"Da haben Sie recht. Deshalb bitte ich Sie, lassen Sie sich nicht stören, fahren Sie einfach mit Ihrer Arbeit fort. Wenn Sie nichts dagegen haben, möchte ich Sie aber auch fragen, ob ich mich Ihnen anschließen darf. Ich würde wirklich gerne Ihr Vieh sehen. Ich habe gehört, Sie haben einen ausgezeichneten Bestand."

Anders Jørgensen warf dem Kaplan einen misstrauischen Blick zu.

"Will der Pastor – –?"

"Ja, Tiere mochte ich schon immer gern", fuhr Emanuel auf dieser etwas vortragsartigen Weise fort, die er sich angewöhnt hatte, wenn er mit seinen Gemeindegliedern sprach. "Ich hatte schon immer das Gefühl, dass ein gepflegtes Zusammenleben mit treuen Haustieren für viel Freude sorgen – und einem auch einiges lehren könnte. Das steht ja auch in der Bibel – –"

"Gewiss –" Anders Jørgensen wusste offenbar noch nicht recht, was er davon halten sollte. Seine kleinen grauen Augen starrten den Kaplan ratlos an. – "Ja, wenn sich der Kaplan wirklich dafür interessiert, dann – –"

Zuerst kamen sie in den Pferdestall. Dort standen zwei schöne rotbraune Pferde und ein struppiges Sommerfohlen, die alle mit den Halftern rasselten, sobald sie Anders Jørgensens Holzschuhe hörten. Er begann – leicht verlegen – Emanuel vom Alter und Stammbaum der Tiere zu erzählen, von ihrem Charakter und ihrer Erziehung, ganz als wäre die Rede von seinen Kindern. Das Fohlen nannte er geradeheraus "das Kind da" und klopfte jedem einzelnen väterlich auf die Kruppe, während er sie mit offensichtlichem Stolz präsentierte.

Emanuel amüsierte sich über diese liebevolle Beziehung zwischen dem alten Bauern und seinen Tieren. Und im Stillen dachte er: Hier wird man wohl fündig, wenn man auf der Suche nach den Gedanken dieser Menschen ist.

Als sie den Kuhstall betraten, wurde Anders Jørgensen noch gesprächiger. Hier fühlte er sich eindeutig wie zu Hause. Er vergaß schließlich all seine Scham und hielt einen weitschweifigen Vortrag über das Leben jeder einzelnen Kuh, darüber, wie viel Milch sie gab, wessen Stier er benutzte und vieles mehr.

Emanuel sah ihn mit Verwunderung an. Er fand, der Bauer war auf einen Schlag wie ausgewechselt. War das wirklich der kleine zerzauste Anders Jørgensen, der sonst so einfältig aussah und aus dem kaum ein Wort herauszubekommen war – war das wirklich er, der hier zur Plaudertasche wurde?

Emanuel hatte den Eindruck, dass er in diesen Minuten mehr über Vieh, Milch und Korn lernte als in seinem ganzen bisherigen Leben. Anders Jørgensens Begeisterung sprang unwillkürlich auf ihn über, sodass er schließlich mit ungeteilter Aufmerksamkeit, nahezu andächtig, seinen Erklärungen lauschte.

Doch er war auch noch nie zuvor so gründlich in einen ländlichen Betrieb eingeweiht worden. Anders Jørgensen, der von dem Interesse des Kaplans offenbar ebenso geschmeichelt wie überrascht war, wurde bei seinem Rundgang allmählich ganz unermüdlich. Sie gingen in die Scheune und in die Tenne, besichtigten die Häckselmaschine und die Rübenmieten – und Emanuel folgte ihm ohne Widerstand.

Erst als sie in den Schweinestall kamen, und Anders Jørgensen in seinem Eifer wollte, dass der Kaplan den Speck der Schweine fühlte und selbst Anstalten machte, in die Stände zu steigen, legte Emanuel eine Hand auf seine Schulter und sagte lächelnd:

"Danke, mein lieber Anders Jørgen … aber ich glaube, das muss bis zum nächsten Mal warten. Sollen wir nun zu Ihrer Frau ins Haus gehen?"

"Ja – wie der Kaplan will", sagte Anders Jørgensen kleinlaut. Er merkte jetzt, dass er zu weit gegangen war und wurde mit einem Mal ganz stumm vor Scham.

In der Stube wurden sie von seiner Frau Else in Empfang genommen, die man von ihrem Wochenbettbesuch heimgeholt hatte.

Sie trug ein schwarzes Kleid und eine goldbestickte Haube und sah ganz stattlich, beinahe jugendlich aus. Emanuel erkannte sie kaum wieder. Erst als sie ihn willkommen hieß, erinnerte er sich an ihre undeutliche Aussprache, die von den fehlenden Zähnen herrührte.

Der Tisch war mit einem schneeweißen Tuch bedeckt, und Emanuel bekam einen Platz auf dem Sofa angeboten. Kurz darauf kam Karen mit dem Kaffeetablett herein. Sie hatte sich nun fein gemacht, eine gebügelte Schürze angezogen und das Haar mit Wasser glattgekämmt. Auch war keine Scham mehr an ihr zu erkennen. In ihrer Kopfhaltung lag eher ein Hauch Stolz – als wollte sie selbst gegen die Verwirrung aufbegehren, in die sie der Kaplan im ersten Augenblick im Hof versetzt hatte.

Als sie den Kaffee herumgereicht sowie Zucker und die dicke gelbe Sahne gebracht hatte, setzte sie sich auf einen Stuhl vor einem der Fenster und begann zu häkeln.

Im Lauf des Gesprächs schaute Emanuel oft zu ihr. Er sah zwar, dass die häkelnden Hände dick und rot waren und die Gesichtszüge nicht gerade dem entsprachen, was man "gleichmäßig schön" nannte, doch die Robustheit der ganzen Erscheinung und die vollblütige Gesundheit hinterließen einen eigentümlichen Eindruck bei ihm. Mehr als einmal antwortete er zerstreut auf Anders Jørgensens furchtsame Bemerkungen.

Karen mischte sich gar nicht in das Gespräch ein und sah auch nicht auf.

Plötzlich klopfte es an der Tür.

13

Der Eintretende war der große junge Mann mit dem Luchsgesicht, der am Vormittag Gegenstand so viel fragender Aufmerksamkeit vor der Kirchentür gewesen war. Obwohl er so tat, als überraschte ihn der Anblick des Kaplans, kam er offensichtlich seinetwegen, und zugleich verriet seine Miene, dass er mit seinem Besuch eine bestimmte Absicht verfolgte.

Sobald Anders Jørgensen die Gestalt des Fremden zu Gesicht bekam, wurde er äußerst unruhig. Er stand auf, setzte sich wieder und sagte schließlich, ganz verdattert, zu Emanuel:

"Das ist Weber Hansen."

Auch Karen war über ihrem Häkelzeug ganz rot angelaufen und warf einen verstohlenen Blick zu dem Weber, wie um seine Absicht aus seinem Gesicht abzulesen. Else schlich sogleich vorsichtig in die Küche. Es war unverkennbar – mit diesem Mann kam Sprengstoff in die Luft.

Auf Emanuel hatte die ganze Erscheinung des Fremden schon bei seinem Eintreten einen alles andere als vorteilhaften Eindruck gemacht. Und dieser Eindruck wurde nicht besser, als er nun erfuhr, dass es sich um den berüchtigten Weber Hansen handelte, über den Propst Tønnesen so oft als außergewöhnlich verruchte und hinterhältige Person gesprochen hatte, deren größte Freude darin lag, überall Unfrieden zu stiften und Verärgerung zu wecken.

Weber Hansen gab sich auch zweifelsohne keine übertriebene Mühe, sich beim Kaplan einzuschmeicheln. Er wünschte bloß mit einem leichten, höhnisch-verschmitzten Lächeln einen guten Tag, ohne ihm die Hand zu geben und setzte sich gleich auf eigentümlich schleichende Weise auf einen Stuhl am Fenster, wo er dann stumm sitzenblieb und Emanuel mit dem gleichen eingefrorenen Lächeln voller Hohn fixierte.

Emanuel hielt es für das Beste, ihn gänzlich zu ignorieren, und fuhr – scheinbar unbeirrt – sein Gespräch mit Anders Jørgensen fort.

Allmählich aber begann der Weber, als spräche er mit sich selbst, alles, was Emanuel sagte, halblaut zu kommentieren. Mal räusperte er sich, mal lachte er beinahe laut, mal schaute er zu Karen, die sich immer tiefer über ihr Häkelzeug beugte.

Anders Jørgensen rieb unruhig die Hände zwischen den Knien, eine geballte Faust in der Höhle der anderen. Ab und zu warf er dem Weber einen furchtsamen, halb flehenden Blick zu. Der aber tat so, als ob er es nicht bemerkte und fuhr mit seinen störenden Kommentaren fort.

Zum Schluss verlor Emanuel die Geduld. Ihm war ein Bild ins Auge gefallen, das an der gegenüberliegenden Wand hing und eine Heimvolkshochschule mit Lehrern und Schülern vor einem mit Flaggen geschmückten Tor darstellte. Unter letzteren hatte er Karen sofort entdeckt, ganz vorne mit einer großen Rose an der Brust. Das hatte ihn auf die Heimvolkshochschulbewegung gebracht, die er zwar nur vom Namen her kannte, sich aber dennoch verpflichtet fühlte, seine Meinung darüber kundzutun.

"Hm!", tönte es sogleich vom Weber.

Noch tat Emanuel so, als hätte er es überhört, und fuhr fort:

"Ich stehe dieser Bewegung, die sicher schon viel Verdienst geleistet hat, keineswegs skeptisch gegenüber. Diesen Unwillen, den viele meiner Kollegen – das weiß ich – gegen sie hegen, kann ich nicht teilen, auch wenn wohl zu befürchten ist, dass sie ausarten wird. Wahrscheinlich hat sie auch noch mehr Schattenseiten aufzuweisen."

"So – oh – ach so", kam es vom Weber.

Emanuel wurde blass, unterdrückte seinen Zorn aber noch einmal und sprach weiter.

"Ich hatte noch keine Gelegenheit, persönlich damit Bekanntschaft zu machen. Doch durch meine verstorbene Mutter, die den Anführern dieser Bewegung recht nahestand, habe ich seinerzeit viel darüber gehört und – soviel kann ich sagen – ein Interesse dafür entwickelt. Es liegt ja vieles in der Art und Weise, wie diese Bewegung das alltägliche und christliche Leben einnimmt, das mir etwas – was soll ich sagen? – überspannt, vielleicht ungesund erscheint. Und dennoch – ich meine –"

"Das haben wir schon von Tønnesen gehört", kam es sachte vom Weber.

Nun wandte Emanuel sich ihm hastig zu und rief zitternd – halb vor pfarrlicher Empörung, halb vor jungenhafter Hitzköpfigkeit:

"Ich weiß nicht, ob Herr Weber Hansen beabsichtigt, mich aus der Stube zu verdrängen. Ich will Ihnen sagen, dass ich Ihre Störungen nicht dulde."

Anders Jørgensen war höchst unglücklich und versuchte, dazwischenzugehen. Doch wenn Emanuels Blut erst einmal zu brodeln begann, war er nicht mehr zu halten.

"Ich habe schon viel von Ihnen gehört, Weber Hansen, und weiß, wofür Sie hier in der Gemeinde stehen. Propst Tønnesen hat mir von Ihnen erzählt. Und ich will Ihnen sagen, nehmen Sie sich in Acht! Weder Propst Tønnesen noch ich werden Ihre Versuche, Zwist und Unfrieden in die Gemeinde zu bringen, in Zukunft dulden. Was mich angeht, will ich Sie wissen lassen, dass ich mit unerbittlicher Strenge vorzugehen beabsichtige, sollten Sie mit der Belästigung meines Amtes fortfahren. Ich hoffe, Sie haben mich nun verstanden und eingesehen, dass auch meine Gutmütigkeit Grenzen hat. Als ich in diesen Pfarrbezirk kam, hatte ich geglaubt, dass wir durch beidseitiges Entgegenkommen und Vertrauen gut aus dieser Sache herauskommen würden. Ich weiß, ich habe mich darum bemüht und keinen höheren Wunsch gehegt. Doch wenn Sie Krieg wollen – nun gut! Dann soll es so sein! Wir werden ja sehen, wer hier der Stärkere ist. Aber ich habe nicht vor, mich geschlagen zu geben!"

Er war aufgestanden. Der letzte Teil seiner Rede, unter der er sich zu einem wahrhaft respekteinflößenden Würdenträger erhoben hatte, war ebenso an die zwei anderen Anwesenden gerichtet wie an den revolutionären Weber. Denn indem er zufällig die Blicke, die diese drei einander zuwarfen, aufgeschnappt hatte, war ihm mit einem Mal klargeworden, dass zwischen ihnen insgeheim Einverständnis herrschte. Da war es ihm auf einmal wie Schuppen von den Augen gefallen. Er verstand, dass er in seiner Unerfahrenheit mitten in eine der feindlichen Festungen geraten und nun umzingelt war. Der Selbsterhaltungstrieb in ihm war erwacht. Nun wollte er Kampf.

Nach seinen Worten war Totenstille eingekehrt. Anders Jørgensen sah betreten in seinen Schoß. Karen vergrub mit vor Verwirrung geröteten Wangen die Nase in ihrem Häkelzeug. Else, die soeben aus der Küche gekommen war, schaute bestürzt vom einen zum anderen, als verstünde sie nicht, was da vor sich ging.

Sogar Weber Hansen war ganz still, wie vom Donner gerührt. Ihm war offenbar nicht in den Sinn gekommen, dass der Kaplan so wütend werden könnte. Doch die Tatsache schien ihm zu gefallen. Das verstohlene, sarkastische Lächeln verschwand von seinem Gesicht. Er sah auf – sogar mit einer gewissen Regung, und sagte nach einem Moment des Schweigens – leise, langsam, mit sichtlicher Überlegenheit, die aber nicht anstößig war, weil sie offensichtlich aus tiefster Überzeugung hervorging:

"Der Herr Pastor liegt vollkommen falsch. Wären Sie nicht so jung und würden uns etwas besser kennen, würden Sie uns wohl auch besser verstehen. Ich will ehrlich sein und gebe zu, dass ich hierhergekommen bin, um mich ein wenig mit Ihnen zu unterhalten … wir sind sozusagen übereingekommen, uns ein wenig auf Sie einzulassen. Als mir zu Ohren kam, dass Sie hier bei Anders Jørgen eingekehrt waren, hielt ich es für einen guten Einfall, einmal vorbeizuschauen und Sie zu begrüßen. Aber in Skibberup halten wir es nun mal nicht so mit Förmlichkeiten … wir sind immer eher geradeheraus, und, sehen Sie, deshalb sind Sie nun wütend geworden – und daher sage ich Ihnen, dass ich Sie nicht im Geringsten beleidigen wollte."

"Ich verstehe Sie nicht", sagte Emanuel kalt, obwohl der herzliche Tonfall des Webers ihn in Wahrheit besänftigt hatte.

"Nein, genau darum geht es ja. Herr Pastor – Sie kennen uns nicht. Aber genau darüber wollte ich mich gerne ein wenig mit Ihnen unterhalten, wenn Sie mir ein Gespräch gönnen."

"Wenn Sie denn wirklich etwas mit mir zu besprechen haben, werde ich Ihnen diesen Gefallen bereitwillig tun", sagte Emanuel und setzte sich wieder. Er hatte allmählich das Gefühl, sich ereifert zu haben, und war auch rein körperlich von diesem ungewohnten Wutausbruch etwas schlapp geworden.

Erst als der Weber sich vergewissert hatte, dass Emanuel wieder recht an seinem Platz saß, ergriff er bedächtig das Wort.

"Sehen Sie, Herr Pastor", holte er aus. "Sie erwähnten vorhin Ihre Frau Mutter. Ja, das weiß der Herr Pastor sicher, dass ihr Name bei uns schon immer gerne gehört wurde, und dass wir einen großen Verlust erlitten haben, als sie starb. Sie war ja insgeheim wie eine Art Mutter für viele von uns gewesen, für unsere Heimvolkshochschulen, Freischulen und Verbände. Sie hat uns so gut geholfen, wie sie konnte, und so mancher Mann und manche Frau in diesem Land sind ihr über den Tod hinaus dankbar. Ja, ich selbst habe Ihre Mutter richtig gut gekannt, wenn ich das so sagen darf."

"Haben Sie?", rief Emanuel erstaunt.

"Ich habe auch viel von ihr gehört. In der Heimvolkshochschule hatten wir ein Bild von ihr hängen", sagte Karen plötzlich und sah mit vor Begeisterung erröteten Wangen auf.

"Sie auch?"

Emanuels Blick wanderte unwillkürlich zu den bekannten Portraits an der Wand. Es hatte ihm die Sprache verschlagen.

"Und nun werden Sie auch verstehen, Herr Pastor", fuhr der Weber fort, "dass wir, als uns zu Ohren kam, dass Frau Hansteds Sohn unser Pfarrer würde – ja, da haben wir uns aber gefreut. Wir dachten, das müsste ein Pfarrer ganz nach unserem Geschmack werden. So einen Mann brauchen wir hier, … den brauchen wir von ganzem Herzen. Aber das verstehen Sie natürlich nicht richtig. Denn Sie haben ja nun in Kopenhagen gelebt und können deshalb gar nicht wissen, was wir Bauern brauchen. Und nun muss ich mir erlauben, Ihnen ganz ehrlich zu sagen, dass wir bei Ihnen nicht das fanden, was wir erwartet hatten, und dass uns das sehr betrübt hat. Wir hatten geglaubt, wir bekämen einen richtig frischen jungen Mann, aber dann bekamen wir … ja, werden Sie bitte nicht wütend … aber Sie sind ja genauso wie Tønnesen und die anderen. Und vielleicht sollen Sie ja auch genauso sein … aber das ist einfach nichts für uns. Wir Skibberupper haben nun mal so unseren eigenen Geschmack, müssen Sie wissen."

Emanuel saß still da und biss sich auf die Unterlippe. Er hörte nur die Hälfte von dem, was der Weber sagte. Ihm war ganz seltsam zumute, seit seine Mutter in dieser Stube und von diesen Menschen wie eine alte Bekannte erwähnt worden war – wie jemand, den sie völlig verstanden und mit Dankbarkeit in Erinnerung behielten.

Als der Weber zum Schluss kam, sagte der Kaplan, halb in Gedanken, und noch mit einem Rest seiner vorigen Höflichkeit:

"Ich verstehe Sie natürlich nicht vollkommen – aber sagen Sie mal: Was verlangen Sie denn eigentlich von einem Pfarrer, der Ihre Wünsche erfüllt?"

"Ja, schauen Sie, das lässt sich nicht so einfach in wenige Worte fassen, Herr Pastor", sagte der Weber und fixierte ihn nun mit seinen kleinen, glänzenden Augen. "Aber wir sind in erster Linie der Meinung, wir brauchen einen Mann, der mit uns wie mit anderen Menschen spricht und nicht wie mit einer Viehherde, auf die er aufpassen muss … so einen, der uns kennt und sich wie einer von uns verhält. Schauen Sie, da wären zum Beispiel die Predigten … ja, der Pastor darf jetzt nicht wütend werden, aber … auch wenn wir ja froh sind, dass Sie uns nicht so ausschimpfen wie Tønnesen, und auch wenn wir natürlich merken, dass Ihre Predigten sehr schön und poetisch, und so richtig gut vorgetragen sind, wie man sagt – denn das sind sie – ist das für uns Bauern trotzdem nichts. Wir verstehen es nicht. Aber das liegt sicher größtenteils daran, dass so viele gute Pfarrer nie außerhalb der Kirche sprechen, dadurch hat alles, was sie sagen, immer diese überschwängliche Feierlichkeit an sich. Oft sind wahrlich auch diese kalten und klammen Kirchen schuld – das hat übrigens auch Rektor Nielsen neulich gesagt."

"Meinen Sie?", sagte Emanuel und lächelte unwillkürlich. Ihm ging ein flüchtiger Gedanke durch den Kopf, und das – wenn auch bedingte – Lob des Webers für seine Predigten stimmte ihn wohlwollend.

"Sehen Sie, Herr Pastor – wir haben zum Beispiel einen Vortragsverein hier in Skibberup."

Bei diesem Wort zuckten Anders Jørgen und Karen zusammen. Es war eindeutig: Hier lag der Hund begraben. Dieser Vortragsverein war Propst Tønnesen ein spitzer Dorn im Auge gewesen; die Waffe, die man gegen ihn eingesetzt hatte – und Emanuel wusste das.

Er lehnte sich zurück und schloss die Augen mit unzugänglicher Miene.

"In diesem Vortragsverein", fuhr Weber Hansen ruhig und vorsichtig fort, "sprechen wir sozusagen schlicht und geradeheraus darüber, was uns auf dem Herzen liegt. Der Kaplan weiß vermutlich, dass auch viele Redner von außerhalb zu uns kommen, aber sonst erzählen wir einander selbst, was wir zu sagen haben … damit haben wir in jedem Fall einen gesunden Zeitvertreib, der besser für die Jugend ist, als die langen Abende zu verschlafen oder sie mit Trunkenheit und Zecherei zu verbringen. Aber es versteht sich von selbst, dass das, was wir einander zu erzählen haben können, trotzdem nicht das ist, was wir brauchen … schauen Sie, wenn wir nun einen Mann wie Sie für uns gewinnen könnten, Herr Pastor – dann wäre das eine andere Sache. Ich meine jetzt keine Predigt, solche Auslegungen oder sowas in der Art, wie wir es ja schon so oft von Kindesbeinen an in der Kirche und sonst wo gehört haben und auch nicht schlauer draus geworden sind … nein, wenn ein Mann wie Sie etwas über sich selbst erzählen würde anstatt über uns – denn da können Sie uns nichts Neues mehr erzählen – sondern so richtig über Sie selbst und darüber, wie Sie mit all Ihrer Lektüre und so zu Ihrer Sicht auf das alltägliche Leben, das Christentum und all solche Geschichten gekommen sind … sehen Sie, davon könnten wir noch was lernen. Das brauchen wir. Wir Bauern, die hier tagein, tagaus auf die gleiche Weise leben, wir könnten es gut gebrauchen, einmal was davon zu hören, wie andere Menschen so leben und denken – in allen Verhältnissen. Genau dabei hätten wir uns die Hilfe unseres Pfarrers gewünscht. Aber für gewöhnlich bekommen wir von unserem Pfarrer nur zu hören, dass wir gut und schicklich und gottesfürchtig sein sollen, und wir sollen nicht fluchen, nicht lügen, nicht stehlen und so weiter. Das wissen wir ja auch so schon und werden davon nicht klüger, auch wenn wir die ganze Lektion jeden einzelnen Sonntag in den schönsten Versen zu hören bekämen … Ja, ich weiß nicht, ob der Herr Pastor versteht, was ich meine."

"Doch, schon", sagte Emanuel gedehnt. Er war unfreiwillig in Gedanken versunken.

"Vielleicht dürfen wir den Herrn Pastor ja dann darum bitten, einmal für uns zu sprechen – in unserem Vortragsverein?"

Emanuel antwortete nicht sofort. Er fühlte sich so seltsam entwaffnet, so jung und unbeholfen gegenüber der Selbstsicherheit dieses Mannes. Wieder überkam ihn dieser tiefe Missmut, der aus dem Gefühl des Missverhältnisses zwischen seiner Jugend, seiner Unerfahrenheit und seiner erhabenen Berufung als Lehrer und Hirte des Volkes hervorging.

Er stand auf.

"Ich werde darüber nachdenken", sagte er, während er Anstalten machte, zu gehen. "Womöglich könnte ich Ihnen das ein oder andere erzählen, was sich von der Kanzel aus nicht so gut aussprechen lässt … in dem Fall hören Sie von mir."

"Danke … tausend Dank", sagte der Weber, der auch sofort aufgestanden war. "Ich weiß, Sie würden damit vielen eine Freude machen, Herr Pastor."

Emanuel antwortete nicht.

Leicht verwirrt nahm er Abschied. Indem er Karen die Hand gab, schaute er zufällig auf und traf ihren Blick aus den schönen, dunkelblauen Augen, die vor erwartungsvoller Freude strahlten.

"Leben Sie wohl", sagte sie laut und drückte kräftig seine Hand, als ob sie stillschweigend hinzufügte: Und Danke für das Versprechen.

Der Anblick dieser strahlenden, dankbaren Augen brachte Emanuels Herz zum Klopfen. Im Türrahmen drehte er sich noch einmal um und sagte, mit einer Geste zu ihnen allen:

"Auf Wiedersehen!"

14

Als Emanuel wieder zum Pfarrhof kam, waren die ersten Gäste bereits eingetroffen. Zu seinem Erstaunen war ihm die Zeit so davongelaufen, dass er sich beim Umkleiden beeilen musste, um nicht zu spät zum Festmahl zu kommen.

Gerade als die Türen zum Esszimmer geöffnet wurden, stieß er dazu.

Während Propst Tønnesen an der Spitze der feierlichen Prozession zu dem festlich gedeckten Tisch schritt, warf er dem Kaplan einen höchst ungnädigen Blick zu. Fräulein Ragnhild, die den Schluss bildete, sah ihn nicht einmal an. In ihrem violetten Seidenkleid und mit Blumen im Haar stolzierte sie mit tief gekränkter Miene an ihm vorbei, als existierte er für sie nicht mehr.

Die Anzahl der Gäste betrug Zwölf. Da war Tierarzt Aggerbølle, ein schwerer Mann mit rotem Gesicht, einem großen, bräunlichen Bart, dunkler Miene und einer kleinen, welk und verängstigt aussehenden Frau, die in ihrem ausgeblichenen Seidenkleid nahezu ertrank. Da war der alte Schullehrer Mortensen, eine große, ungelenke Erscheinung, die es darauf anzulegen schien, den Propst in weihevoller, geistlicher Würde zu überbieten. Ferner: der kleine, aufgedunsene und geschwinde Kaufmann Villing mit seiner jungen, herausgeputzten Frau, die von allen "die schöne Frau Villing" genannt wurde. Als nächstes: der junge Hilfslehrer mit dem Schauspieleraussehen samt sechs Bauern aus Vejlby. Dahingegen war niemand aus Skibberup da. Den letzten Getreuen von dort hatte man kürzlich – zu Propst Tønnesens tiefstem Bedauern – in Weber Hansens Versammlungssaal ertappt.

Am Tisch herrschte eine beinahe unheimlich gedrückte Stimmung. Es sprach so gut wie ausschließlich der Propst. Er saß am Tischende, geschmückt mit seiner Kappe und der Serviette unter dem Kinn, und wandte sich mit zuvorkommenden Fragen mal zum einen, mal zum andern, nahm jeden Vorfall zum Anlass, seine Geschichten zu erzählen, mal von seiner Studienzeit in Kopenhagen, mal von einer Auslandsreise, die er in seiner Jugend in die Sächsische Schweiz unternommen hatte.

Das Festmahl begann mit Falscher Schildkröte19, was Tønnesen sogleich veranlasste, zu erzählen, dass er einmal echte Schildkröte gegessen habe, in einem Berliner Restaurant, wo Bismarck damals Stammgast gewesen sei. Zu einem bestimmten Anlass habe er ihn sogar dort gesehen – nun ging er dazu über, Aussehen, Haltung, Kleidung, Leben und Angewohnheiten dieser bemerkenswerten Person sorgfältig zu schildern, und kam schließlich – damit seiner Darstellung nicht die notwendige Moral fehlte, die er selbst seinen spaßigsten Geschichten am Ende immer einflößte – zu der sogenannten "historischen Mission Bismarcks", dem gewaltigen Wellenbrecher gegen die heranrollende Anarchie.

Bei diesen Worten warf er einen strengen Blick zum hintersten Tischende, wo die Bauern über ihren Tellern kauerten.

Es wurde nur wenig gegessen. Die Bauern stocherten in den rätselhaften Gerichten herum, als handelte es sich um tote Ratten, und nippten am Wein wie an Medizin. Die anderen, besonders der Kaufmann und seine Frau, mäßigten sich, um sich vornehm zu zeigen. Sie wussten, dass es sich schickte, so zu tun, als äße man nur wegen der Gemeinschaft und könnte unmöglich richtigen Hunger empfinden. Allein der dicke bärtige Tierarzt Aggerbølle schlug sich mit mürrischer Gefräßigkeit den Bauch voll, ängstlich bewacht von seiner kleinen, welken Frau, die traurige Erfahrungen damit gesammelt hatte, was ihr Mann in einem Ausbruch seiner schlechten Laune sagen oder tun konnte.

In der Mitte einer der langen Tischseiten saß der alte Schullehrer und zog – nach dem Propst – die meiste Aufmerksamkeit auf sich, obwohl er während der ganzen Mahlzeit nie den Mund aufmachte und Gericht um Gericht demonstrativ an sich vorbeiziehen ließ. Er war eine große, stattliche Erscheinung, mager wie eine Mumie, mit einer steifen, weißen Halsbinde, gemessenen Bewegungen und einer Miene, die er sich von einem der ehemaligen Bischöfe des Bistums, der schon seit einer Ewigkeit tot war, geborgt haben musste. Zwischen Propst Tønnesen und dem alten Schullehrer herrschte ein angespanntes Verhältnis.

Letzterer war aus der Zeit des "Millionärspfarrers" gewohnt, eigenmächtig über die Bevölkerung zu herrschen, und die hatte nun seit Jahren zu ihm als einem Mann aufgesehen, der hinsichtlich Einsicht und Beredsamkeit den Pfarrern vollkommen ebenbürtig war und zudem aufgrund seines hohen Alters besondere Ehrfurcht verdiente. Zwischen dem Pfarrhof und der Schule war deshalb seit Propst Tønnesens Amtsantritt ein geheimer Kampf ausgetragen worden, der sich unter anderem darin äußerte, dass die Frau des Schullehrers sich bei einer Einladung in den Pfarrhof immer krankmeldete, wohingegen Fräulein Ragnhild sie fortwährend mit "Madam" Mortensen20 betitelte, wenn sie unter den Leuten über sie sprach.

Deswegen war es zweifelsohne der Höhepunkt des Festes, als Propst Tønnesen sein Glas erhob und mit feierlicher Stimme darum bat, mit "meinen Schullehrern" anzustoßen.

Darüber hinaus zog sich das Festmahl unter ausgesprochen gedrückter Stimmung in die Länge, obwohl der Propst sich offenbar bemühte, sich von seiner liebenswürdigsten Seite zu zeigen. Selbst das große Schlusstableau mit dem brennenden Plumpudding, der seine Wirkung sonst nie verfehlte, fiel ziemlich schwach aus. Es hatte sich nun schon so oft wiederholt, dass die Bauern es so langsam dämlich fanden. Einer flüsterte seinem Nebenmann sogar vorsichtig zu:

"Hätten wir doch nur'n ordentliches Förtchen21. Dieses rauchende Zeug hier ist sicher nichts für'n hungrigen Magen."

Emanuel war ein Platz am hintersten Tischende neben Fräulein Ragnhild zugewiesen worden, die ihre Wut schnell vergessen hatte, jetzt lächelte und sich ganz holdselig mit ihm unterhielt, dabei mit ihren Armbändern rasselte, und die Blumen in ihrem parfümierten Haar sowie die Spitze am tiefen Ausschnitt ihres Kleides richtete.

Nichtsdestoweniger bewahrte Emanuel eine finstere und undurchdringliche Miene. Er gab kaum Antworten, wobei es ihm schwerfiel, seine verbitterte Stimmung zu unterdrücken.

Er brütete immer noch über dem Eindruck von dem stillen, ehrbaren Bauernhaus, das er kürzlich verlassen hatte, und sobald er Karens keusche Schlichtheit mit diesem aufgedonnerten "Papageienfräulein" verglich, fand er Ragnhild widerlich, ja, unverschämt. Doch nicht nur sie, – dieses ganze gekünstelte Fest, den herablassenden Hochmut des Propstes, den Wein, die Gerichte, alles verärgerte und empörte ihn. Es schien, als hätten die Worte des Webers, die in seinem Kopf immer noch nachklangen und sein Herz klopfen ließen, ihm plötzlich eine Binde von den Augen gerissen. Was war das doch für eine Heuchelei! Welch ein Wahnsinn!

Als der Propst vom anderen Tischende lauthals darum bat, mit "meinem Kaplan" anzustoßen, hob Emanuel zwar das Glas, aber führte es an seine Lippen, ohne zu trinken.

Nach dem Essen wurden die Gäste zum Rauchen ins "Studierkontor" gebeten. Hier bekam man eine Zigarre angeboten, während der Propst seine Pfeife anzündete, woraufhin er sich auf seinem Thronstuhl niederließ und die anderen bat, um ihn herum Platz zu nehmen, soweit die Stühle ausreichten.

Hier wurde die Stimmung sofort noch gedrückter, ja, beinahe grauenerregend dick. Man wusste, was nun bevorstand.

Zu diesem Zeitpunkt pflegte Propst Tønnesen nämlich, eine Art Mahnrede für seine Gäste zu halten. Indem er die ein oder andere kürzlich vorgefallene Begebenheit als Ausgangspunkt nahm, begann er seine Rede im Tonfall eines leichten, unterhaltsamen Gesprächs, führte aber rasch sein Steckenpferd – "die um sich greifende Demoralisation" – in die Arena. Nach und nach wurden seine Worte dann immer hitziger und heftiger, bis es schließlich auf sein gewohntes Weltuntergangsgepolter hinauslief.

Emanuel stand am Kachelofen und hörte mit einem Gesichtsausdruck zu, der heftige Gemütserregungen erkennen ließ. Er erkannte die gleiche Rede wieder, die der Propst ihm bei seiner Ankunft im Pfarrhof gehalten hatte, die gleichen Flüche über die freien Strömungen im christlichen und alltäglichen Leben. Wie wenig er damals davon verstanden hatte! Und wie klar er nun den Betrug spürte, die diese Scheltpredigt verbarg!

Er warf einen Blick zu den Bauern aus Vejlby, die da andächtig im Kreis um ihren Hirten saßen oder standen – als duckten sie sich ängstlich unter dem Joch, das ihnen die Kirche seit Jahrhunderten auferlegte. Oh, wie gut er jetzt alles verstand! Aber er würde ihnen dabei helfen, sich von diesem Joch zu befreien! Der Nebel vor seinen Augen hatte sich nun gelichtet. Der Weg lag klar vor ihm. Nun kannte er sein Ziel, und nichts würde ihn davon abbringen …

Noch am gleichen Abend schrieb er Weber Hansen aus Skibberup, er wolle am nächsten Samstagnachmittag im Versammlungshaus sprechen. Er war sich bewusst, welchen Krieg er mit diesem Schritt anzetteln würde. Und doch hatte er sich seit Langem nicht mehr so glücklich gefühlt wie an diesem Tag.

Endlich war er sich über sich selbst und seine Berufung im Klaren.

15

Einige Zeit später kam es im "Studierkontor" zu einem Gespräch zwischen Propst Tønnesen und Kaplan Hansted.

Schon am frühen Morgen hatte man im ganzen Pfarrhof spüren können, dass etwas Ungewöhnliches im Gange war. Der Propst war stundenlang eine der Alleen im Garten auf- und abmarschiert – mit einer Miene, die zweifelsohne ungewohnte Aufregung, gepaart mit gründlichen und ernsten Überlegungen, erkennen ließ. Fräulein Ragnhild hatte sich fuchsteufelswild in ihrem Zimmer eingeschlossen und war nicht einmal zum Tee erschienen, während Lone zitternd immer wieder aus der Küche und wieder zurück gehinkt war, als stünde ein großes Unglück bevor.

Kurz vor der gewohnten Mittagessenszeit hatte der Propst nach dem Kaplan rufen lassen, der wenig später ins Kontor trat, eingestellt auf einen Holmgang22.

Er sah außergewöhnlich gut aus, war ranker geworden und hatte nun Farbe im Gesicht.

Propst Tønnesen ging mit festen Schritten auf und ab und erwiderte seinen Morgengruß nicht. Es fiel ihm offenbar schwer, seine Leidenschaft so im Zaum zu halten, dass er seinen Kaplan nicht sofort mit all den Flüchen überfiel, die in seiner Kehle kochten. Seine Lippen und sein großer Leib zitterten, unter den Augen hatten sich vor Erregung dunkle Schatten gebildet.

"Der Propst wünscht, mich zu sprechen", sagte Emanuel.

Propst Tønnesen antwortete immer noch nicht, aber bedeutete ihm mit einer kurzen Handbewegung, sich zu setzen, während er selbst seine Wanderung durch das Zimmer fortsetzte.

Schließlich blieb er vor dem Kaplan stehen und sah ihn mit blitzenden Augen an.

"Ich habe mir heute Morgen sagen lassen, dass Sie gestern Abend in … in Weber Hansens Zirkus in Skibberup aufgetreten sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie in dem Ausmaß vergessen haben, was Sie mir, Ihrem Vorgesetzten, schuldig sind – aber ich würde doch gerne aus Ihrem eigenen Mund hören, dass dieses Gerücht aus einer Unwahrheit gesponnen wurde."

"Damit kann ich dem Propst leider nicht dienen – denn mir wurde gestern tatsächlich die große Freude zuteil, erstmals bei meiner Gemeinde sein zu dürfen – in Weber Hansens Zirkus."

"Ja, dann – ja, dann – dann ist es also wirklich wahr! … Und obendrein wurde Ihnen ‚die Freude zuteil‘ … So ist das also! … Und das sagen Sie mir so ohne Weiteres – auch noch mit einem Lächeln! Dürfte ich um eine Erklärung für Ihr Verhalten bitten, Herr Kaplan?"

"Ich wüsste nicht, was es da zu erklären gibt."

"Nicht? Haben Sie vielleicht vergessen, welche Position Sie hier innehaben?"

"Ja, bis vor Kurzem war das sicher so – aber jetzt nicht mehr. Gestern ist mir meine Position klargeworden. Deshalb habe ich gesagt, dass ich "mit Freude" bei meiner Gemeinde war."

"Bei Ihrer Gemeinde! Das ist ja unerhört! Meine Gemeinde – meinen Sie – die, die Sie nach meinen Anweisungen – –"

"Nein, der Propst muss entschuldigen – genau dieser Verirrung bin ich entkommen – –"

"Ruhe!", donnerte der Propst plötzlich und wurde kreideweiß. "Was ist denn das für ein Ton, in dem Sie da mit mir sprechen! … Was ist überhaupt in letzter Zeit in Sie gefahren, Pastor Hansted? Ich erkenne Sie gar nicht wieder! Wie sind Sie nur so geworden … hier, in meinem Haus? Ich sage Ihnen, Pastor Hansted, als Ihr Vorgesetzter und als Ihr Freund … nehmen Sie sich in Acht! Sie betreten da ganz dünnes Eis. Kehren Sie um, solange noch Zeit ist, und alles sei Ihnen verziehen. Sie haben sich von diesem Weber Hansen verlocken und bequatschen lassen – diesem gottverlassenen Menschen! Wie ist das möglich! Wie konnte das geschehen! Gehen Sie doch einmal in sich … bedenken Sie, worauf Sie sich da einlassen und was Sie aufs Spiel setzen – –"

"Es tut mir leid", antwortete Emanuel ruhig und freimütig. "Aber ich kann meine Taten nicht bereuen. Gestern habe ich zum ersten Mal das Wort gefunden, das mir wie ein Schlüssel Zugang zu meiner Gemeinde verschaffte … und das ist ein so großes Glück, dass ich unmöglich etwas anderes als Freude und Dankbarkeit dafür empfinden kann. Und dieses Wort fand ich eben gerade – so kommt es mir vor – weil ich Gast in Weber Hansens Versammlungssaal war; weil ich dort mit meinem Zeugnis als Mensch unter anderen Menschen stand – und nicht als ein Richter Gottes unter Sündern – –"

"Oh! – So weit ist es mit Ihnen schon gekommen! So verstockt sind Sie schon, dass ich alle Floskeln von Weber Hansen aus Ihrem Mund hören muss … Nun gut! Wenn das so ist, dann sind sie wohl für immer für die gute Gesellschaft verloren … aber dann wissen Sie sicher auch", fuhr der Propst fort und trat mit erhobenem Haupt einen Schritt näher, "dann sind Sie sicher auch auf das vorbereitet, wozu ich nun gezwungen bin … machen wir es kurz, Herr Kaplan Hansted, Sie haben die Wahl – entweder ich oder Weber Hansen."

"Diese Wahl wurde bereits getroffen."

"Ja, dann. Sehr gut! Gewagte Worte! … Aber dann wissen Sie sicher auch, dass Ihre Zeit im Pfarrhof damit vorbei ist … unwiderruflich vorbei, verstehen Sie?"

"Genau das habe ich mir gedacht und deshalb ein Zimmer in Skibberup gemietet, wo ich hinziehen möchte – am liebsten noch heute, wenn der Propst es erlaubt."

"So ist das also! Sie haben sich vorbereitet! Eine förmliche Kündigung von Ihrer Seite! Ein kecker Mann sind Sie, mein Guter! – Aber Sie haben mich missverstanden. Ich wünsche nicht nur, dass Sie aus dem Pfarrhof ausziehen – sondern habe ab heute auch keine Verwendung mehr für Sie in meinem Amt, verstehen Sie?"

"Ich habe Sie vollkommen verstanden … aber ich habe nun endlich meine eigene Aufgabe in der Gemeinde gefunden, und deshalb plane ich auch, dort zu bleiben."

"Ja, dann! Dann wollen Sie also Krieg! Das ist eine förmliche Kriegserklärung!"

"Keineswegs! Wir wünschen uns nichts lieber, als in Frieden zu leben."

"Aber ich verstehe Sie nicht!", rief der Propst plötzlich in einem anderen Tonfall, während er einen Schritt zurückwich und die Hände wie aus allen Wolken gefallen über dem Kopf zusammenschlug. "Worauf lassen Sie sich da nur ein … Sie wollen in einer kleinen Hütte in Skibberup leben?"

"Unter den Leuten, ja –"

"Natürlich! Um das Leben und die Verhältnisse der Leute zu teilen und so weiter … alles Phrasen von Weber Hansen!"

"Nennen Sie es ruhig so. Das macht mir nichts aus."

"Aber was wollen Sie denn dort tun, wenn man fragen darf? Und wie wollen Sie leben? Zum Beispiel können Sie doch wohl kaum allein dort wohnen. Wer soll sich denn um den Haushalt kümmern … Oh! Da geht mir ein Licht auf! Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie in letzter Zeit beim alten Anders Jørgen ein- und ausgegangen sind. Anders Jørgen hat eine Tochter, wenn ich mich recht erinnere – die schöne Karen, wie sie genannt wird. Sie denken doch nicht etwa – – Ich kann gar nicht glauben, dass Sie in diesem Ausmaß – –"

"Ich muss den Propst bitten, Fremde aus diesem Gespräch herauszuhalten", sagte Emanuel schnell, während seine Wangen verräterisch erröteten.

"Oh! Da haben wir vielleicht des Rätsels Lösung!"

"Das habe ich nicht gesagt!", fuhr Emanuel verwirrt fort. "Und da der Propst mir nun nichts mehr zu sagen hat, erlaube ich mir, mich von Ihnen zu verabschieden. – –"

Kurz darauf war er zur Tür hinaus. Wie versteinert sank der Propst auf einen Stuhl.

"Oh, die Jugend von heute!", rief er und streckte die geballten Fäuste gen Himmel.

 
[1] Schulbibel. Im Dänischen: Balslevs lille Bibelhistorie. Vermutlich ein Verweis auf Bibelhistorie tillige med lidt af Kirkens Historie efter Apostlenes Dage, til Brug for Almueskoler von 1844, einer Bibelausgabe, die besonders auf dem Land in Schulen und zur Konfirmationsvorbereitung verwendet wurde. tilbage
[2] drei Ellen. Etwa 1,89 m. tilbage
[3] die allerältesten Patriarchen. Die Erzväter Israels, u.a. Abraham, Isaak und Jakob. tilbage
[4] vgl. Römer 13,4. tilbage
[5] Absolutismus. In Dänemark 1660-1849. tilbage
[6] Eule. Obwohl die Eule oft mit Weisheit und Klugheit verbunden wird, ist die Bezeichnung hier als Beleidigung zu verstehen. Sie bezieht sich auf ihre, hier negativ zu verstehende, Sonderstellung, den starren Blick und das zerzauste Aussehen. tilbage
[7] Jesus, deine Gaben. Vgl. inhaltlich 1. Korinther 12. tilbage
[8] Pelerinen. Eine Art Schulterumhang, meist dekorativ. tilbage
[9] Styrvolt. Ein Kartenspiel. tilbage
[10] ohne weißen Kragen. Im 19. Jahrhundert war es für höhergestellte Personen üblich, unter dem Kragen oder Halstuch ein weißes Stück Stoff zu tragen, dessen Rand hervorragte. tilbage
[11] Polkafrisur. Eine Langhaarfrisur, unterhalb der Ohren gerade abgeschnitten. tilbage
[12] bis ins fünfte und sechste Glied. Überspitzter Verweis auf Generationenflüche, in denen Nachkommen für die Sünden ihrer Vorväter bestraft werden (u.a. 2. Mose 34,6-7). Biblisch erstreckt sich die Strafe nur bis ins dritte und vierte Glied – der Propst ist also strenger als Gott selbst. tilbage
[13] Opfertage. Tage, an denen die Bevölkerung ihrem Pfarrer Opfer bringt. tilbage
[14] Kabinett. Ein kleines Nebenzimmer. tilbage
[15] Bodenwellen. Wellenförmige Erhebungen in der Landschaft. tilbage
[16] fünf Tonnen Land. Veraltete Maßeinheit aus der Landwirtschaft in Skandinavien und Norddeutschland. In Dänemark betrug eine Tonne Land ca. 5500 Quadratmeter. tilbage
[17] eine Meile. Ca. 7,5 km. tilbage
[18] Grundtvig, Tscherning. Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783-1872), u.a. dänischer Politiker, Pfarrer, Pädagoge und Philosoph. Politisch gesehen galt er ab ca. 1848 als liberal und setzte sich unter anderem für Religionsfreiheit ein. Anton Frederik Tscherning (1795-1874), dänischer Offizier und Politiker. Unter anderem Kriegsminister und ein Befürworter der Bauernbewegung. tilbage
[19] Falsche Schildkröte. Aus England stammender Eintopf aus gekochtem Rindfleisch, oft mit Kalbskopf und Innereien. Eine Nachahmung echter Schildkrötensuppe. In Dänemark auch mit Fisch. tilbage
[20] Madam. Anrede einer verheirateten Frau, deren Mann keinen Rang hat. tilbage
[21] Förtchen. Kugelförmiges, in Fett gebratenes Gebäck. In Dänemark und Norddeutschland traditionell besonders zur Weihnachtszeit verbreitet. tilbage
[22] Holmgang. Altnordischer Zweikampf mit festen Regeln.

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