Aus ländlichen Hütten

(Ein alter Tagebucheintrag)

Das kleine Dorf war so idyllisch gelegen, dass man sich zwangsläufig auf den ersten Blick in es verliebte. Es lag tief unten in einer Schlucht und ein Bach teilte es in zwei ungefähr gleich große Teile, verbunden durch vier oder fünf schmale Stege. An dem einen Ende des Dorfes befand sich eine größere Brücke für Fahrzeuge.

Wenn es im Winter stürmte, füllte sich die Schlucht so sehr mit Schnee, dass man aus der Ferne nur noch die rauchgeschwärzten Schornsteine des Dorfes sehen konnte. Im Sommer aber und besonders im Frühjahr, wenn alle Obstbäume in den kleinen Gärten der Häusler in voller Blüte standen, wurde einem von dem anmutigen Anblick ganz warm ums Herz, und es konnte der Wunsch aufkommen, das eigene Leben an einem so lieblichen Fleck zu verbringen.

So dachte man besonders, wenn man aus der Stadt hierher kam, aus der großen Stadt, die wie eine Hölle aus Kohlenoxyd, Straßenbahnen, Lärm, Geschrei und Dreck war und über die so häufig in Zeitschriften und Romanen geschrieben wird. Dass sich in einer derartigen Menschenansammlung viele gebrochene Existenzen, viel Grauen, Not und Elend, viele schreckliche Laster, viel bodenloses Verderben und noch einiges mehr finden ließ – das konnte man verstehen. Aber hier! Unter der heiteren Sonne Gottes! In einer solch paradiesischen Umgebung! Hier mussten doch auch die Menschen aus reinerem Material sein! Hier mussten doch alle Regungen des Herzens in unverfälschter Edelheit bewahrt werden.

So ungefähr beschrieb es auch die Zeitung, die ich auf der Bahnfahrt von Kopenhagen gelesen hatte. Und die Zeitung war sehr wütend auf einige Autoren, die von Landbewohnern berichtet hatten, deren Gefühle nicht diese unverfälschte, achtzehnkarätige Edelheit besaßen, und deren Herzen unter Gottes strahlender Sonne auf eine unbegreifliche Art und Weise vom Verderben heimgesucht worden waren.

Jedoch wagte ich nicht zu glauben, dass die Zeitung recht hatte; und würde ich den Namen der Zeitung nennen, würde man verstehen, dass dies eine Vermessenheit war. Aber ich kannte sowohl das Dorf als auch die Bewohner von früheren Besuchen, und ich wusste, ich würde kaum lange in der Gastwirtschaft sitzen, bis ich von Begebenheiten hörte – oder diese selbst erlebte – die mir einen kalten Schauer den Rücken hinunterrieseln lassen würden.

Und so kam es auch! Genau in diesen Tagen hatte sich folgende Begebenheit ereignet.

In einer Lehmhütte am einen Ende des Dorfes wohnte ein Häuslerehepaar mittleren Alters. Die Frau war groß, dickbauchig und mit aufgedunsenem Gesicht, der Mann war klein, schmächtig, bleich und sah aus wie ein halbes Hemd. Beide lebten sie fast ausnahmslos von Branntwein, den sie beim Kaufmann in einer großen Holzflasche holten. Wenn sie so viel Geld erbettelt, ertauscht oder ergaunert hatten, dass sie die Flasche voll bekamen, schlossen sie ihre Tür ab und legten sich auf das Bett, die Flasche in der Mitte. Solange diese noch einigermaßen voll war, herrschte zwischen ihnen das beste Einvernehmen. Aber sobald sie sich dem Boden der Flasche näherten, war Krieg. Sie rissen sich gegenseitig an den Haaren und rollten auf dem Bett oder auf dem Boden herum – zur großen Belustigung sowohl ihrer eigenen als auch der anderen Kinder des Dorfes, die vor dem Fenster auf den Zehenspitzen standen und hineinschauten.

Das strebsame Ehepaar hatte nämlich mehrere Kinder, die alle gleich blass und mager waren und aussahen als wären sie etwa sieben oder acht, obwohl sie in Wahrheit zwischen zehn und vierzehn Jahren alt waren.

So hatten diese beiden Menschen bis vor zehn Tagen gelebt. Nach einem außergewöhnlich heftigen Streit um die Flasche war der Mann dann plötzlich verschwunden. Niemand hatte ihn gesehen und niemand wusste, wo er hin war. Seine letzten Worte zu seiner Frau waren gewesen, dass er nun gehen würde, um sich zu erhängen; und obwohl er schon häufiger damit gedroht hatte, meinte man, dass er nun endlich Ernst gemacht habe.

Dieses "sich erhängen gehen" nannte man in dem Dorf "ins Pusrøg'l hineinschauen".

"Pusrøg'l" hieß nämlich ein kleines, unheimliches und dicht bewachsenes Tannenwäldchen, das in einiger Entfernung vom Dorf oben auf den Hügeln lag und wohin nie jemand kam, außer denen, die sich hin und wieder dort erhängten. Niemals wagten sich andere weiter als einige wenige Schritte hinein in die Dunkelheit zwischen den Tannen. Man wusste, dass man immer die stinkenden Überreste von mindestens einem erhängten Mann oder einer Frau finden würde, außerdem die Skelette etlicher anderer im Laufe der Jahre "Vermisster".

Hier meinte man also auch diesen verschwundenen Mann gut aufgehoben. Und als acht Tage vergangen waren, hatte man ihn schon beinahe vergessen.

Da merkten die vorbeifahrenden Leute, dass die Pferde jedes Mal plötzlich scheuten, wenn sie an einem kleinen verlassenen Haus vorbeikamen, das zur Ruine verfallen direkt an der Hauptstraße lag. Um der Sache auf den Grund zu gehen, untersuchte man das Haus und fand so den verschwundenen Mann auf dem Dachboden, wo er sich am Giebel aufgehängt hatte.

In den letzten acht Tagen hatten die schwüle Luft und die Sonne, die auf den Giebelbrettern brütete, seine Leiche ziemlich aufgelöst und es war dieser Geruch, der die Pferde erschreckt hatte. Der Kopf des Mannes war auf den Boden gekullert, während der Körper in sitzender Haltung hinabgesunken war, den Rücken an den Giebel gelehnt.

Zwei Tage blieb er noch kopflos in dieser Position sitzen – und er saß dort noch auf diese Weise, als der Wirt mir von dem Ereignis erzählte.

Per Gesetz ist nämlich festgelegt, dass keine Leiche von ihrem Fundort wegbewegt werden darf, bevor die Obrigkeit sie besichtigt hat, … und es dauerte seine Zeit, eine Nachricht in die Stadt zu schicken und noch viel länger, bis die Obrigkeit in die Uniform kam.

Ich nahm meinen Hut, verabschiedete mich vom Wirt und ging hinaus, um den "Tatort" zu besichtigen.

Das Haus fand ich schnell. Es lag nur ein kurzes Stück vom Dorf entfernt und war eine baufällige Hütte, mit dem Giebel in Richtung der Landstraße.

Auf dieser stand eine Horde lärmender Kinder, die zum Haus schauten und darauf zeigten. Von der Straße aus war nämlich durch die breiten Spalten zwischen den morschen Brettern des Giebels ein Stück der Leiche zu sehen. Man konnte die Schnalle einer Weste ausmachen und etwas von einem weißen Hemd sowie den hinteren Teil von einem Paar Beinkleidern.

Bei meiner Ankunft verstummten die Kinder. Aber nachdem ich eine Weile zu dem kläglichen menschlichen Überbleibsel hinaufgeschaut hatte, sagte eins:

"Das ist der Vater von dem Jungen da!"

Ich drehte mich um.

Da stand wirklich eines der kleinen, bleichen Kinder des Verstorbenen inmitten der anderen Zuschauer.

"Ist das dein Vater?" fragte ich.

"Ja", antwortete er – und seine großen Augen strahlten vor Stolz.

In Anbetracht der Tatsache war er offenbar Gegenstand einer ungewöhnlichen Aufmerksamkeit seitens seiner Kameraden und fühlte sich wie ein glücklich Begünstigter.

Ich ging zurück ins Dorf.

Am Nachmittag kam endlich die Obrigkeit und nahm den Fall auf. Mit Mühe wurde die Leiche am Abend sozusagen in einen Sarg geschaufelt und weggebracht.

Aber dort wo die Leiche auf dem Boden gelegen hatte, hatte sich eine Lache Unreinlichkeit gesammelt und der Hauseigentümer forderte, dass diese fortgeschafft werden müsse. Er sandte einen Boten zu der Witwe des Verstorbenen, mit dem Bescheid, sie müsse kommen und ihrem Mann "hinterherwischen".

Sie tat dies mit dem größten Gleichmut und als sie sich auf den Weg zurück machte, sagte sie bloß, nun sei er "endlich fort".