Der Flug des Adlers

Eine Erzählung von Henrik Pontoppidan.

Dies ist die Geschichte von dem jungen Adler, der als gelb-geschnäbeltes Küken von ein paar Jungen im Wald gefunden und zum Pfarrhof gebracht wurde, wo er – so wie das hässliche Entlein aus dem Märchen – zwischen schnatternden Enten, gackernden Hühnern und blökenden Schafen aufwuchs. Seine übliche Warte hatte er auf einem alten Plankenzaun hinter dem Schweinestall, wo er saß und aufpasste, wenn die Magd den Abfall aus der Küche warf. Und allmählich fühlte er sich so wohl in dieser Umgebung, dass er groß und breit wurde, ja – wie der Pfarrer zu sagen pflegte – "sich förmlich einen Bauch zulegte."

Niemals kamen Gäste zum Pfarrhof ohne den fremden Vogel – "Klaus", wie man ihn getauft hatte, – zu betrachten. Selbst die Damen trotzten dem Morast um den Jauchepfuhl herum und hüpften mit hochgerafftem Kleid von Stein zu Stein, den einmal vereinbarten Tribut mitbringend: ein kleines Stück Fleisch auf einer Gabel. Und sobald "Klaus" eben diese Prozession erblickte, warf er sich von seinem Zaun hinunter und watschelte dieser Gesellschaft im burlesken Sacklauf entgegen, mit dem sich die Königskinder der Lüfte auf dem festen Land bewegen.

Es kam schon das eine oder andere Mal vor, dass besonders an Tagen, an denen sich die Stürme in ihrer ganzen Macht erhoben, eine unbestimmte Sehnsucht im Herzen des gefangenen Königsspross erwachte, ein nebelhaftes Gefühl des Heimwehs, das ihn dazu brachte, einen ganzen Tag vollkommen in sich gekehrt zu sein und sich weder zu rühren noch Nahrung zu sich zu nehmen. Es kam auch vor, dass er plötzlich seine Flügel ausbreitete und sich rasch in die Lüfte emporschwang, … aber es wurde stets nur ein Flug von kurzer Dauer. Die Flügel waren sorgfältig gestutzt und nach einem Moment unbeholfenen Flatterns fiel er auf die Erde. Hier tat er – zunächst etwas benommen – ein paar kleine Hüpfer seitwärts, worauf er mit hervorgestrecktem Hals weglief und sich in einem dunklen Winkel versteckte, um sich zu schämen.

So hatte er ein paar Jahre gelebt, als der Pfarrer plötzlich starb, und in dem Durcheinander, das deshalb auf dem Pfarrhof, ja im ganzen Dorf, entstand, vergaß man völlig, sich um "Klaus" zu kümmern. Er watschelte wie üblich zwischen den anderen Hausvögeln umher, allzeit friedfertig, fast etwas ängstlich, weil er es gewöhnt war, von den Pfarrerstöchtern etwas auf den Schnabel zu bekommen, wenn er seine angeborene Übermacht dem Kleingefieder gegenüber geltend machen wollte. Aber eines Tages, als ein frischer Südwind Wärme und Frühling über das Land blies, befand er sich plötzlich auf dem Dachfirst der großen Scheune, ohne dass es ihm möglich gewesen wäre, zu erklären, wie er dort hingekommen war. Er hatte – wie schon so oft davor – auf seinem Zaun gesessen und geträumt; und in einem Anfall von schwermütiger Freiheitssehnsucht seine Flügel zum Flug ausgebreitet. Aber anstatt in den Hof zu purzeln, war er in die Luft hinauf getragen worden mit einer solchen Fahrt, dass er sich ganz perplex beeilt hatte, wieder den Boden unter den Fängen zu finden.

Und jetzt saß er dort auf dem hohen Dachfirst, ganz erstaunt über das, was gerade geschehen war. Niemals zuvor hatte er die Welt von einer solch hohen Warte aus gesehen. Neugierig drehte er seinen Kopf, bald zur einen, bald zur anderen Seite, und da die erste Verwirrung sich verzogen hatte, breitete er noch einmal die Flügel aus und stieß sich mit seinen Fängen ab. Immer höher stieg er dem klaren Himmel entgegen, zunächst vorsichtig prüfend, bald wagemutiger, sicherer, … bis er sich mit einem lauten Freudenschrei in einem großen Bogen geradewegs durch die Luft schwang. Mit einem Mal fühlte er, dass er ein Adler war.

Dörfer, Wälder, wilde Klippen und sonnenbeschienene Seen glitten unter ihm hinweg, während er königlich durch den blauen Äther segelte, vom weiten Horizont und der Stärke seiner Schwingen berauscht. Doch plötzlich stockte er und wurde unruhig. Er konnte nicht länger den Zaun oder einen anderen Ruhepunkt in seiner Nähe erblicken. Um ihn herum breitete sich nur die große, stille Leere aus, und er blieb in diesen ungewohnten Gefilden nicht von einem Schwindelgefühl verschont.

Nach einer kurzen Weile erreichte er jedoch glücklich den Vorsprung einer Klippe, wo er sogleich mit der Sorgfalt für sein Äußeres, die er von den Tauben zu Hause auf dem Strohdach gelernt hatte, damit anfing, seine zerzauste Tracht zu ordnen. Aber es wurde ihm ganz merkwürdig zumute, als er sich umsah, um den Pfarrhof und den First der Scheune zu finden, den er kürzlich verlassen hatte. Sein Blick wandte sich nach beiden Seiten über ein vollkommen fremdes Land, und die ganze Welt lag so schwindelerregend tief unter ihm, dass nicht der geringste Laut zu ihm heraufdrang. Um sich herum hatte er nur den kargen, stummen Fels und hinter ihm war ein dunkler, finsterer Wald, aus dem er dann und wann ein unheimliches Knacken vernahm, das er sich nicht erklären konnte. Allein und verlassen saß er da, weit weg von allem Leben. Die Sonne ging im Westen hinter blutroten Unwetterwolken unter, und als die klammen Nebel der Dunkelheit emporstiegen und die Erde allmählich einhüllten, schlich sich eine beständig stärker werdende Beklommenheit in das klopfende Herz des Königssohnes. Mit gesenktem Schnabel und den Kopf zwischen die Flügel gezogen saß er dort auf der kalten Klippe und dachte an seine warme Ecke zu Hause hinter dem Schweinestall und an den Misthaufen, das gemütliche Plappern und Schnattern der Hühner und Gänse, das Grunzen der Schweine und die milden Töne der Kirchenglocke, die verkündete, dass nun das Küchenmädchen Ane mit dem Abendessen kam.

Da sauste es in der Luft über ihm. Erschrocken sah er auf. Eine Adlerdame kreiste droben und stoppte mit einem Mal direkt über seinem Kopf. Im Nu war alle Mutlosigkeit wie weggeblasen und im nächsten Augenblick schwang er sich kraftvoll in die Lüfte.

Und nun begann eine wilde Jagd über die Felsen … Die Adlerdame beständig zuvorderst und am höchsten, "Klaus" etwas beschwerlich hinterher, wild mit den Flügeln flatternd, vor Atemlosigkeit keuchend.

"Ach, würde sie sich doch setzen", dachte er, als er plötzlich ins Hintertreffen geriet. Er bekam schon fast keine Luft mehr, und seine Flügel fühlten sich so schwer an, so schwer.

Sie waren zwischen die Hochfelsen gekommen. In der späten Abenddämmerung schwebten sie über eine wilde, bodenlose Schlucht, von der aus das dunkle Sausen der Wälder, vermischt mit dem teuflischen Schrei der Nachteulen, zu ihnen emporstieg.

"Was sie wohl hier sucht?", dachte Klaus und wagte es gar nicht, nach unten zu sehen. "Hier ist’s doch so unheimlich. Und jetzt kann ich gleich nicht mehr."

Die Adlerdame stieg höher und höher, immer weiter segelte sie hin über die Bergkämme, lockend, rufend. Klaus kam auch heil über den dunklen Schlund; danach folgte erst eine endlose Steinwüste, ohne einen Strauch, ja ohne einen Grashalm, dann ein Chaos von ungeheuerlichen Felsbrocken, die verstreut übereinanderlagen wie der eingestürzte Turm zu Babel. Ein eisiger Wind fuhr die Berghänge hinab, und plötzlich wurde die Stille der Wüste durch ein fürchterliches, geradezu unterirdisches Dröhnen unterbrochen, das die Luft zum Beben brachte.

Jetzt verlor Klaus wirklich all seinen Mut. Wie lange sollte das wohl noch dauern? Wo in aller Welt würden sie landen?

Da stoppte er mit einem Mal seinen Flug bei einer Erscheinung, die ihn vor Verwunderung und Rätsel erstarren ließ. Sie hatten den Bergkamm erreicht, und aus der chaotischen Steinwüste erhoben sich hoheitsvoll die ewigen Schneegipfel in überirdischer Ruhe, unberührt von allem Tun und Treiben von Mensch und Tier, nur das Heim der Adler und der wilden Winde. Von der untergehenden Sonne lag nur noch ein schwacher Rosaschein über dem jungfräulichen Schnee; dahinter der Himmel voll funkelnder Sterne.

"Dorthin wird sie doch sicher nicht wollen!" dachte Klaus, und allein der Gedanke brachte ihn zum Schaudern, sodass sein Schnabel klapperte. Und als die Adlerdame tatsächlich weiter aufstieg, als ob sie ihn bis zu den Sternen hinauf locken wollte, traf Klaus eine Entscheidung. Er ließ sich auf einem Stein nieder. Nun hatte er wirklich genug. Auf solche Verrücktheiten wollte er sich nicht einlassen. Das war doch Wahnsinn! … Sie musste irre sein!

Und wie er dort in dieser schrecklichen Ödnis saß, durchfroren vom eisigen Wind und entsetzt von diesem plötzlichen, unterirdischen Dröhnen, das hie und da die noch bedrückendere Stille durchbrach, wandten sich seine Gedanken wieder zurück zu dem friedlichen Leben im warmen Entenstall des Pfarrhofs. Er dachte an seine Freunde, die er verlassen hatte, und die nun auf ihren Stangen im Kuhstall saßen oder süß schlummerten mit dem Kopf unter den Flügeln draußen beim Jauchepfuhl. Wie hatte er nur jemals diesen Ort verlassen können, wo er so glücklich lebte!

Von hoch oben rief die Adlerdame noch nach ihm. Aber Klaus breitete ruhig die Flügel aus und stahl sich fort wie ein Dieb auf dem Weg, den er gekommen war … zuerst zögernd, bald schneller, ungeduldiger, gejagt von seinem Schrecken, seiner Unruhe und seiner süßen Sehnsucht – heim – heim – heim!

Erst am nächsten Morgen erreichte er den Pfarrhof, und es erfüllte ihn ein solcher Jubel, als er sein altes Heim wieder sehen konnte, dass er sich einige Augenblicke oben hielt, obwohl ihm der wilde Flug der Nacht noch in den Gliedern steckte, um das frohe Wiedersehen recht genießen und sich davon überzeugen zu können, dass alles noch beim guten Alten war! So schwebte er langsam nieder.

Inzwischen hatte der Ernteknecht ihn entdeckt, und da er noch nichts von Klaus‘ Verschwinden gehört hatte, war er sein Gewehr holen gegangen und hatte sich hinter einem Baumstamm auf die Lauer gelegt, um den vermeintlichen Hühnerräuber abzuschießen, sobald er niedrig genug war. Der Schuss fiel. Man sah einige Federn durch die Luft fliegen, und wie ein Stein stürzte der tote Klaus in den Jauchepfuhl.

Denn es hilft ja doch nichts, aus einem Adlerei geschlüpft zu sein, wenn man im Gänsestall aufgewachsen ist.