Höflichkeit

Seit jeher ist das dänische Volk – und nicht zuletzt die Kopenhagener – für seine Höflichkeit berühmt gewesen. Männer mit einem etwas größeren Bekanntenkreis müssen sozusagen mit dem Hut in der Hand durch die Stadt gehen. "Danke", "Vielen Dank", "Herzlichen Dank" und "Tausend Dank" gehören zu unseren meist verwendeten Redewendungen. Gebildete Leute verlassen keine Straßenbahn, ohne verhältnismäßig herzlich Abschied vom Schaffner zu nehmen und dieser beantwortet den Abschiedsgruß, indem er für jeden einzelnen Fahrgast die Hand zur Schirmmütze führt.

Die dänische Höflichkeit ist – im Gegensatz zur französischen Galanterie – schwerfällig und umständlich. Während der Zweck der gegenseitigen Höflichkeit doch sein sollte, den Umgang zwischen verschiedenartigen Menschen zu erleichtern, trägt die dänische Form bloß weiter dazu bei, sie zu erschweren. Wie viele ältere, kahlköpfige Herren nehmen nicht gerne in Kälte und Wind einen langen Umweg in Kauf, um die Flanierstraßen Østergade und Vimmelskaftet zu umgehen? Und wer hat nicht mindestens eines dieser Wesen in seinem Bekanntenkreis, die einen mit ihrer unerschütterlichen Artigkeit zu Tode quälen; die nicht ein Wort sagen können, ohne sich zu verbeugen, sich kaum trauen auf den Boden zu treten aus Furcht davor, Anstoß zu erregen, und die mit all ihrer unerträglichen Rücksichtnahme und unabwendbaren Fürsorge mittlerweile auch uns zu allerhand törichtem Brimborium zwingen, um nicht undankbar oder grob zu erscheinen.

Leider ist uns diese Artigkeit in letzter Zeit derart ins Blut übergegangen, dass es fast als unhöflich betrachtet wird, eine andere Meinung zu haben als der Nachbar. Erlaubt man es sich, eine solche Ansicht auszusprechen, von der man weiß, dass sie weder Onkel Paul noch Tante Malle teilen, ist es ein Zeichen schlechter Erziehung, und verficht man es obendrein mit einiger Überzeugung, wird das schlicht und ergreifend eine Brutalität genannt.

Der geziemende Anstand – danach strebt jeder anständige junge Däne.

Es passiert dann und wann, dass sich einzelne stur aufführen und ganz das Gefühl für den guten Anstand vergessen. Das sind die so genannten Radikalen.

Aber die sind in Dänemark ganz ungefährlich. Sie fallen nämlich immer schnell und sicher zurück in Tante Malles Arme. Man kann immer sicher sein, denjenigen, der das eine Jahr wie der Rücksichtsloste der Jakobiner auftritt, im nächsten Jahr als den korrektesten der Korrekten anzutreffen.

Es liegt ihnen im Blut. Sie können auf Dauer nicht auf Onkel Pauls Anerkennung verzichten; und man erinnere sich, dass das Erste, was wir hier zu Lande als Kind lernen, ist, um Verzeihung zu bitten.

Verzeihung! – mit dem Hut in der Hand und diesem kleinen Wort auf den Lippen kann man in der dänischen Gesellschaft weit kommen. Mehr muss man nicht verstanden haben, um den Fuß des Thrones erreichen.

Urbanus.