Der Dionysos-Knabe

Tagebuch

17ter August.

Das Casinotheater eröffnete diesen Abend seine Saison mit "Faldgruben" (Die Fallgrube), einer Bearbeitung von Zolas berühmtem Roman "l'Assommoir" (Der Totschläger)1.

Es gab eine Zeit, als Zolas Name noch das rote Tuch der Literatur war, das sogleich alle gehörnten Rindviecher dazu brachte, im Chor zu brüllen. Nun haben sich die Verhältnisse gewandelt. Jeder hat sich zuletzt vor dem mächtigen Genie verneigen müssen und nun schlecken sowohl die alten Stuten als auch die jungen Kälber die Hand des Meisters.

Und – so wie es sich im Allgemeinen verhält – haben die Kratzfüße2 der anderen schließlich auch Zola dazu gebracht, sich zu beugen. Mit "La terre" (Die Erde)3 kulminierte sicherlich sein gigantischer Trotz. Oder ist "Drømmen" (Der Traum)4 bloß die Ausgeburt einer vorläufigen Ruhe, die er nach seinem jahrelangen Kampf allemal nötig hatte? Derjenige, der sich seit zwanzig Jahren5 in die Pestlöcher der Gesellschaft versenkt, kann wohl jene Erquickung nötig haben, die darin liegt, sich eine Weile Choräle unter ehrwürdigen Kirchengewölben anzuhören.

Doch selbst wenn Zola seine Waffen für immer niedergelegt haben sollte, wäre das entschuldbar. Die Stellung der Literatur ist – nicht zuletzt in unserer Zeit – so schwierig und unnatürlich, dass sie ihren Mann leicht mit Ekel erfüllt. Während man es in allen anderen Kunstarten wagt, sich einigermaßen frei zu bewegen, wird vom Dichter gefordert, größtmögliche – für die Literatur jedoch überflüssige – Rücksicht auf das Schicklichkeitsgefühl, die herrschende Religion und viele andere Dinge zu nehmen, die nicht einmal konstant sind, sondern sich sozusagen jede Dekade ändern.

So verstieß es zu Zeiten unserer Urgroßmütter keineswegs gegen die Ehrbarkeit, wenn ein junges Mädchen seine Brust in ihrer weißen Fülle entblößte, wo doch der kleinste sichtbare Zipfel ihrer Ohren sie vor Scham schon blutrot hätte werden lassen. Der Dichter, der sich nicht der Gefahr aussetzen will, mit Schmutz beworfen zu werden, muss daher stets Hinz und Kunz vorsichtig fragen, was und wie viel er von seinen Figuren offenbaren darf, während Maler und Bildhauer es dagegen wagen, ihrer Lust frei zu folgen und ihre Figuren nach Gutdünken völlig nackt oder an eben der Stelle entblößt darzustellen, deren Schönheit sie preisen oder deren Hässlichkeit sie enthüllen wollen.

Ich muss regelmäßig daran denken, jedes Mal, wenn ich während meiner Spaziergänge zufällig durch den Ørstedspark mit seinen vielen schönen Statuen komme. Bekanntlich diese sind so gut wie alle völlig nackt, und es ist sonderbar, dass man für solche Schamlosigkeit gerade den Kinderpark der Stadt gewählt hat, besonders da dieser zugleich die Passage für so viele junge Mädchen bildet, die alle die großen Schulen besuchen, die sich ausgerechnet hier sammeln. Zu Beginn war die Nacktheit wohl teilweise bedeckt; aber vielleicht erinnere man sich noch an den Sturm der entrüsteten Stimmen, die sich dagegen erhoben und sich zuletzt in dem drohenden Ruf sammelten: Weg mit dem Feigenblatt!

Und der Ruf wurde erhört. Unsere Kinder, unsere Kindermädchen und jungen Töchter laufen nun täglich diese Spießruten splitternackter Männer. Vor allem gibt es da eine anmutige Hermaphroditsfigur, vor der die Ammen regelmäßig, wenn sie sich unbeobachtet fühlen, in erstauntes Betrachten verfallen.

Jedes Mal, wenn ich diese Statuen sehe, denke ich: sollte nur ein Mann der Literatur es wagen, seine Geisteskinder so unverblümt darzustellen! Dann würde man bald alle Sittenwächter über seinen sündigen Kopf herfallen sehen, und der Polizeichef selbst würde seine Tür eintreten und sagen:

"Hören Sie, mein junger Mann, es steht wohl nicht ganz richtig um Ihren Schädel! Falls Sie wünschen, einem längeren Aufenthalt in meinem dunkelsten Kittchen zu entgehen, würde ich Sie ersuchen, unseren königlichen Hofschneider so schnell wie möglich von ein paar ordentlichen Beinkleidern für Ihren verehrten Herrn Silén mit dem Bacchuskind Maß nehmen zu lassen. Genauso bitte ich Sie, anständige Kleidung für die Person zu beschaffen, der den Namen des sterbenden Fechters zu geben Ihnen gefiel, und was das zweideutige Wesen angeht, das unter dem Namen Hermaphrodit öffentlich zur Schau zu stellen Sie sich nicht scheuten, so bitte ich Sie hiermit, diese Ausgeburt Ihrer schmutzigen Phantasie unverzüglich zu entfernen, weil dies Sie, selbst in der tadellosesten Kleidung, als das unverbesserliche Schwein verraten wird, das Sie sind". –

Wie erklärt sich diese Sonderbarkeit, dass es gegenüber Figuren im Ørstedspark oder Thorvaldsens Museum keineswegs zum guten Ton gehört, Empörung zu zeigen, wohingegen es als ein Zeichen der tiefsten Demoralisation aufgefasst wird, sich positiv über entsprechende dichterische Erzeugnisse zu äußern? Zur einen Kunstart sagt man: Weg mit dem Feigenblatt! Zur anderen: Zieh doch wenigstens Schwimmhosen an! Vielmehr sollte es doch umgekehrt lauten. Denn zum Bücher lesen wird doch niemand gezwungen, wohingegen man es nicht so leicht umgehen kann, auf bildliche Darstellungen zu stoßen.

Aufgrund der Schamlosigkeit von l'Assommoir (Der Totschläger), spürte Zola beim ersten Mal die Knute der Moral auf seinem Rücken. Aber der Rücken war breit, und – weit davon entfernt, sich abschrecken zu lassen – ging er wie bekannt seiner Wege. Es existierte für ihn keine andere Unanständigkeit als die künstlerische und daher wurde "La terre" (Die Erde) sein keuschestes Werk. Man wird beim Lesen dieses Buchs von einer Feierlichkeit ergriffen, die die vollkommene Nacktheit weckt – die, die nichts gegen den verlockenden Trauerflor, gegen schwarze Masken und die halb verhüllte Koketterie macht. … Herr Erik Bøgh, der auf sonderbare Weise davon lebt – zunächst die modernen fremden Autoren auszuschimpfen, um sie daraufhin zu bearbeiten, hat auch "Faldgruben" (Die Fallgrube) des Casinos auf seinem Gewissen. Es ist "l'Assommoir" (Der Totschläger), der große Schwimmhosen trägt. Herr Bøgh war immer schon ein erfahrener literarischer Schneider, der sich die Forderungen der Mode genau angeeignet hatte und exakt wusste, wie lang oder kurz die Beinkleider der Herren und die Röcke der Damen zu sein hatten.

Und er hat die Erfahrung gemacht, dass die Röcke jedes Jahr länger gemacht werden müssen.

Urbanus.

 
[1] L'assommoir war 1877 als Bd. 7 in Zolas Romanreihe Les Rougon-Macquart (Die Rougon-Macquart) erschienen. Auf Dänisch erschien sie im Herbst 1882 unter dem Titel Mukkerten in N.J. Berendsen und Vilhelm Møllers Übersetzung bei Pontoppidans Verleger Schou (und im selben Jahr als "kostenloses Zusatzblatt" im Blatt Ravnen). Diese Übersetzung wurde (anonym) von Erik Skram im Morgenbladet vom 24.10.1882 und von Johannes Magnussen in Ude og Hjemme Nr. 270, S. 116-117 Sonntag, den 3.12.1882 rezensiert. Das Blatt kam samstags heraus (an Pontoppidans erstem Hochzeitstag), und wenn nicht zuvor, so hat er hier den Roman kennengelernt; er abonnierte das Blatt, für das er selbst schrieb. Aber das Buch kann auch unter den Büchern gewesen sein, für das Pontoppidan Schou Geld schuldete (siehe dazu den Brief an denselben). tilbage
[2] Kratzfuß: veraltete Bezeichnung für eine tiefe Verbeugung (Anm. d. Übers.) tilbage
[3] La terre (1887) ist Bd. 15 in Zolas Romanserie. Er erschien vom 29. April bis zum 16. September im Feuilleton der Pariser Zeitung Gil Blas. Ab dem 10. Juni erschien er im Feuilleton von Politiken "übersetzt" von Edv. Brandes, der Jonas Lie am 5. Nov. schrieb:

Wenn Sie immer noch das Feuilleton von Politiken lesen, dann denken Sie bloß nicht, Jorden [dänische Übersetzung] sei das richtige "La terre". Das Buch ist kastriert, beschnitten, verdorben – ja Herrgott, was sollte ich tun. Das Blatt wäre 100 Mal verboten worden, wenn es wörtlich und ordentlich übersetzt worden wäre. Bereits über diesen Auszug ist die Empörung groß, und es war dumm, dass ich den Namen "Jesus Christus" stehen ließ. Doch als sie aufkam, ahnte ich nicht, was noch kommen würde. Und nachher war das Unglück schon geschehen. Na, vielleicht wissen Sie gar nichts von dieser Angelegenheit. (Briefwechsel der Brüder Brandes, Bd. V, S. 274-75.)

Als Buch erschien Jorden im gleichen Jahr (und gleicher Übersetzung?) bei Rasmussen & Olsen. tilbage
[4] Drømmen: La Rêve (1888) wurde im selben Jahr von Rasmussen & Olsen veröffentlicht. tilbage
[5] zwanzig Jahre: Der erste Band der Romanserie erschien 1871 (La Fortune des Rougon, Das Glück der Familie Rougon). Zola hatte 1868 mit Madeleine Férat die romantische Jugendphase seines Schaffens abgeschlossen. Daher kann man mit gutem Grund behaupten, dass er sein Hauptwerk danach begann. Sein berühmtes Diktum: "Ein Kunstwerk ist eine Ecke der Schöpfung, gesehen durch ein Temperament" ("Une œvre d'art est un moin de la création vu à travers un tempérament") wurde vor 1866 formuliert. tilbage