Tagebuch

Dragør, 8. August

Ich wohne hier in einer kleinen Stadt, die eine drollige Mischung aus Handelsstadt, Fischersiedlung und Dorf ist. Die Straßen sind gepflastert, und es gibt so viele davon, und die meisten sind so klein und eng und so ineinander verwoben, dass ein gewisser Teil der Stadt ein vollkommen verwirrendes Labyrinth bildet, von dem man hier draußen sagt, dass sogar die alten Dragør-Bewohner sich manchmal darin verlaufen können, selbst wenn sie nicht gerade aus einem der Gasthäuser kommen.

Das Stadtleben spielt sich am Hafen ab. Hier riecht es angenehm nach Tauwerk und Teer, Lotsenboote schippern den ganzen Tag über in der Hafenmündung ein und aus, und nachmittags, wenige Stunden vor Sonnenuntergang, hisst eine ganze Flotte fremder Fischerboote auf einmal ihre weißen oder lohfarbenen Segel und setzt den Kurs in Richtung Flinterenden1. Das Hafenbecken selbst ist zur Hälfte mit einem Schoner gefüllt, der auf der Seite liegt, um gekielholt zu werden; drumherum stehen Lotsen und alte, zermürbte Skipper, und überall sieht man rostige Anker und lange rote Ketten, die davon zeugen, was es manchmal kostet, ein Schiff in Drogden2 längsseits zu legen.

Ich denke mir, dass alle unsere kleinen Hafenstädte einmal ähnlich ausgesehen haben wie Dragør. Im Gegensatz zur aristokratischen Steife von Store Magleby3 herrscht in Dragør überall eine gleichmäßige, altmodische Bürgerlichkeit. Von den Veränderungen der Sitten und der Kultur in den letzten hundert Jahren ist wenig zu spüren. So sind die Felder der Stadt noch nicht eingeebnet, sondern stehen als große Allmende zur freien Verfügung, und jeden Abend sieht man den Dorfhirten ("Hjoren")4, der das gesamte Vieh des Ortes heimwärts durch die Straßen treibt, wo jedes Tier die Herde von allein an der Gasse oder Ecke verlässt, wo es hingehört.

Es ist seltsam, dass sich die Kopenhagener Sommerfrischler nicht längst gierig auf diesen Fleck gestürzt haben. Ich sage das nicht, weil ich sie vermisse, obwohl ich es den armen Schluckern, die sich jeden Sommer zu beiden Seiten des mörderischen Strandvej5 bis zur Erstickung zusammendrängen, gönnen würde, hier in Dragør eine Woche lang ihre Ellenbogen frei bewegen zu können. Es ist so friedlich, so frisch und angenehm, und die Einwohner behaupten, dass in keiner Stadt Dänemarks die Menschen so alt werden wie hier.

Der Strand ist flach, das ist wahr. Es gibt weder romantische Böschungen noch schattige Bäume. Aber hier gibt es die schon erwähnten weiten Allmenden, auf denen sich jeder frei tummeln kann und über die immerzu eine Meeresbrise streicht. Überall hat man freie Sicht auf die Meeresenge mit ihren Seglern, die hier der Küste ganz nah kommen und sich manchmal so zahlreich an diesem Ort versammeln, dass sie buchstäblich den Kanal füllen; und schließlich bekommt man hier ein Bad, das so frisch und kühl ist wie nirgendwo zwischen Kopenhagen und Helsingør.

Der Grund, warum Dragør bisher in so einer ungestörten Ruhe liegen durfte, ist wohl die verhältnismäßig beschwerliche Anreise. Mehrere Male wurde angedacht, eine Eisenbahnstrecke von Sundby über Kastrup nach Dragør anzulegen, ein Plan, der jedoch unter anderem am Widerstand des Kriegsministeriums scheiterte. Zwischen Kastrup und Dragør befinden sich nämlich die Schießpulvermagazine der Armee, und man hat es nicht gewagt, diese der Gefahr auszusetzen, die eine vorbeifahrende Dampflok mit sich bringen würde.

Dragørs größte Rolle ist die einer Lotsenstation. Die Lotsen sind die Würdenträger der Stadt, und im Lotseninspektor gipfelt die Vornehmheit.

Die Lotsen bilden – hier wie an allen Lotsenstandorten – eine Gilde, deren Verdienst nach Abzug der Renten und eines festgesetzten Betrages für die Anschaffung von Werkzeugen und die Instandhaltung unter den Mitgliedern entsprechend ihres Dienstalters geteilt wird. Die Gilde wird vom Lotseninspektor geleitet, der von den Lotsen bezahlt wird, aber – seltsamerweise – vom Staat berufen wird. Dieser Staat! Die Stellen der Lotseninspektoren werden nämlich sozusagen ausschließlich mit entlassenen Seemannsoffizieren besetzt, denen der Staat daher keine Rente mehr zahlen muss. Für den Staat ist es recht bequem, die Lotsen seine ausgedienten Seekrieger versorgen zu lassen. Ob das ebenso nobel ist, dürfte eine andere Frage sein.

Die Tätigkeit der Dragør-Lotsen beschränkt sich – wie auch die der Kopenhagener Lotsen – mehr und mehr auf Drogden selbst, das schwierige Fahrwasser zwischen Amagerland und Saltholm. Die gen Norden fahrenden Schiffe nehmen den Lotsen in der Regel am Drogden-Feuerschiff6 an Bord und setzen ihn wieder in Kopenhagen ab, da die meisten Schiffe es inzwischen vorziehen, auf eigene Gefahr aus der Meeresenge hinauszufahren.

Das ist einer der Gründe, weshalb die Lotsentätigkeit hier nicht länger so lukrativ ist wie in früheren Zeiten. Eine andere und wesentlichere Ursache hierfür ist jedoch, dass die Zahl der Lotsen in letzter Zeit erheblich gestiegen ist. Vor bloß einer Generation war ein alter Dragør-Lotse gleichbedeutend mit einem Krösus, wohingegen es jetzt im Großen und Ganzen mit dem Wohlstand so eine Sache ist.

Denn um die Fischerei ist es auch nicht besser bestellt, wie überall sonst im Öresund. Schon vor etwa hundert Jahren klagte der alte Pfarrer Junge7 darüber, dass Kronborg den Hering mit Kanonen an die schwedische Küste getrieben habe. Die berühmten kronborgischen Kanonen sind heute schon fast verstummt; aber umso fröhlicher donnert es in unseren Tagen von den Kopenhagener Seefestungen, und es gibt vorläufig kaum Aussicht auf Frieden für die Fische im Öresund.

... Vor einigen Nächten wurde ich aus meinem besten Schlaf durch ein ohrenbetäubendes Tuten geweckt, vermischt mit lauten, gleichklingenden Rufen von Männern, die durch die Straßen eilten, beinahe wie auf dem Land bei einem Feuer.

Dass hier jedoch heitere Dinge der Grund für den Alarm waren, erkannte ich an den halbbekleideten Gestalten, die bald aus allen Türen strömten, manche nur in Hosen und mit einem Gurt über den Schultern.

Es stellte sich heraus, dass ein Segelboot auf Grund gelaufen war und Hilfe benötigte, und bei einer solchen Gelegenheit kann sich jeder Mann in Dragør an den Bergungsarbeiten beteiligen und seinen Anteil am Erlös beanspruchen, der manchmal eine beträchtliche Summe bilden kann.

Doch dieses Mal kehrte man mit enttäuschten Erwartungen zurück. Es war ein schlechter Handel gewesen, nur ein paar tausend Kronen.

Aber nun hoffen sie auf eine baldige Revanche.

Urbanus.

 
[1] dänische Wasserstraße auf Amager. tilbage
[2] Fahrwasser zwischen Amager und Saltholm. tilbage
[3] wird auch Holländerdorf genannt, weil sich hier zur damaligen Zeit die ersten holländischen Siedler niederließen. tilbage
[4] anderes dänisches Wort für einen Hirten. tilbage
[5] "Strandvej" ist ein Eigenname und wird daher nicht übersetzt. tilbage
[6] Das "Drogden Fyrskib", Dänemarks zweitälteste Feuerschiffstation, liegt in der Nähe des "Drogden Fyr", einem Leuchtturm, zwischen Amager und Saltholm am südlichen Eingang zum Öresund ca. fünf Kilometer südöstlich von Dragør und ist nur per Schiff erreichbar. Es dient als Schifffahrtszeichen der Navigation. tilbage
[7] Joachim Junge verfasste 1798 das Buch Den Nordsiellandske Landalmues Character, Skikke, Meeninger Og Sprog (dt. Charakter, Sitten, Meinungen und Sprache der Landbevölkerung von Nordseeland). Pontoppidan bezieht sich in einem Brief an Cavling vom 17. Dezember 1905 und im Interview vom 19. Dezember 1905 erneut auf Junges Buch. tilbage