Paul Ernst til Henrik Pontoppidan
Sendt fra Sonnenhofen, Post Königsdorf, Ober Bayern. 10. maj 1918

Sonnenhofen, Post Königsdorf, O. Bayern
10 Mai [1918]

Sehr geehrter Herr,

für Ihren freundlichen Brief vom 28.4, den ich soeben erhalte, sage ich Ihnen meinen herzlichen Dank. Es bekümmerte mich sehr, zu erfahren, dass Sie diesen Winter über krank gewesen sind; ich hoffe, dass Sie sich nun wieder völlig erholen werden, wo das Frühjahr nun endlich naht. Gern würde ich Ihnen Etwas von der Sonne, deren wir uns hier erfreuen, in Ihr nördliches Land schicken. Ich habe mir hier einen Bauernhof gekauft, als der Zusammenbruch Deutschlands klar wurde, denn alles Geistige muss unter solchem Zusammenbruch ja zuerst leiden, und ich wäre mit meiner Familie längst verhungert, wenn ich nicht hier selber erzeugte, was wir brauchen. Ein Pfund Butter kostet jetzt 35 Mark, und so sind alle übrigen Preise. Meine Freunde verzehren ihr kleines Vermögen; beim einfachsten Leben hat eine uns befreundete Familie von Mann, Frau und Kind im vorigen Jahr 40.000 Mark gebraucht, die sonst vielleicht 5.000 Mark brauchte. Wenn das geistige Leben bei uns jetzt ganz erlischt, so möge sich das übrige Europa nicht wundern, denn wir sind so verarmt, dass wir keinen Geist mehr haben können. Und die schwersten Zeiten werden noch kommen. Mit dem Zusammenbruch unserer Industrie ergiebt es sich, dass wir 20-30 Millionen Menschen in Deutschland haben, die wir nicht ernähren können. Ehe diese nicht verschwunden sind, durch Hunger, Bürgerkrieg, Krankheiten und eventuell Auswanderung, wird Deutschland nicht in Ruhe kommen. Das ist auch der eigentliche Grund für die revolutionären Unruhen, wie die letzte war. Die armen Menschen sind verzweifelt, denn sie sehen keine Rettungsmöglickeit, es ist auch keine.

Das preussische Deutschland hat an Ihnen sehr unrecht gehandelt, genau wie an den Polen und den Elsassern. Aber glauben Sie mir, das Unrecht, das Deutschland gethan hat, und das von seinen höheren Geistern stets bekämpft wurde, ist Nichts im Vergleich zu dem, was Frankreich und England uns und der übrigen Welt zugefügt haben und zufügen. Macht bewirkt immer, dass mittelmässige Menschen die in ihnen liegende specifische Art von Unsittlichkeit 2 äussern, und wenn Völker als Völker handeln, so handeln die mittelmässigen Menschen in ihnen. Deutschland war mächtig und hat so seine ihm eigentümliche Unsittlichkeit gezeigt, welche in der Missachtung der Freiheit Anderer beruht, in einer Überschätzung der äusseren Lebensgüter, und in einer Mischung von Kleinlichkeit und Hochmuth. Es wird schwer genug bestraft, und das Ergebnis wird ein Unglück für ganz Europa sein. Das sicherste Ergebnis des Krieges ist die Vorherrschaft von Amerika und Japan.

Es wird mir eine grosse Freude und Ehre sein, wenn ich Ihnen die noch folgenden Bände meiner gesammelten Schriften senden darf; der Gedanke, dass Sie, den ich als Meister verehre, mit Anteilnahme sie lesen, erfüllt mich mit dem höchsten Stolz.

Meine hauptsächlichste Arbeit liegt in meinen Dramen. Wenn Sie ein Drama einmal auf der Bühne sähen, so würden Sie einen ganz anderen Eindruck haben, denn sie sind für die Aufführung geschrieben, und gelesen wirken sie so, wie die Zeichung eines Architekten statt des fertigen Baus. Aber ein heutiger Dramatiker hat es sehr schwer: es fehlt ihm die Bühne, die Schauspieler, das Publikum, und – wenigstens in Deutschland – die Nation. Denn wir Deutschen sind noch keine Nation, unser gegenwärtiges Unglück zeigt es wieder. Ich hoffe aber, dass wir es werden, und zwar auf dem Wege, auf dem unsere klassische Dichtung es hat erreichen wollen: auf dem Wege zur Menschheit. Wenn mich Eines über das Unglück meines Volkes trösten kann, so ist es dieser Gedanke, dass wir nun, wo unser Machttraum ausgeträumt ist, uns wieder auf unsere wahre Bestimmung besinnen müssen; und die Hoffnung, auf welche ich mein ganzes Leben aufgebaut habe, ist, dass meine Dramen ein kleiner Beitrag zu dieser Arbeit sein können. Heute hassen uns die Völker; ich hoffe, dass die Zeit kommen wird, wo sie uns wieder lieben werden, wie sie uns liebten zur Zeit unseres classischen Idealismus und uns lieben würden, wenn dieser Idealismus nicht zusammen gebrochen wäre.

Mit dem Wunsche, dass es Ihnen gesundheitlich wieder gut gehen möge, in Ehrerbietung Ihr

hochvll Ebnr [hochachtungsvoll Ergebener]
Dr. Paul Ernst