Henrik Pontoppidan til Paul Ernst
Sendt fra København. 14. juni 1921
ein halbwildes Volk
Kopenhagen, den 14. Juni 1921.
Sehr geehrter Herr Doktor!
Trotz meines langen Schweigens haben Sie mir das Vergnügen gemacht, mir Ihr neues Buch zu senden, und ich bringe Ihnen hiermit meinen herzlichsten Dank für das eigenartige Werk, in welchem Sie Ihre allerbesten Eigenschaften entfaltet haben. Ich las es im Krankenhaus, das anscheinend für mich ein zweites Heim werden soll. Dort las ich auch vor ein paar Jahren in klösterlicher Stille Ihr "Der Zusammenbruch des deutschen Idealismus"1. Es sind Trigeminus-Neuralgien, woran ich leide, welche infolge der heftigen Ohren- und Gesichts-Schmerzen, die diese Krankheit charakterisieren, mir oft2 das Leben zu einer Last machen. Sie müssen mir glauben, dass ich sonst nicht Ihren letzten, so offenherzigen Brief unbeantwortet gelassen hätte, wenngleich ich gestehen muss, dass ich von einem fortgesetzten Meinungsaustausch über die unglückliche3 Lage Ihres Vaterlands vielleicht auch von der Furcht, gegen meinen Willen verletzend zu wirken, zurückgehalten wurde.
Beim Lesen Ihrer "Erdachten Gespräche"4 hat sich der Gedanke aufs neue mir aufgedrängt, dass der grösste Teil unserer nordischen Schriftsteller im Vergleich mit einem Verfasser wie Sie ein halbwildes Volk, ohne Kenntnisse und mit unentwickeltem Denkvermögen ist. Im Gegensatz zu Deutschlands Dichtern überhaupt (die jetzt wie früher fast alle gelehrte Doktoren sind) sind wir durchgehends ganz unstudierte Leute; ja es giebt nicht wenige (und im übrigen nicht die schlechtesten), die direkt 2 vom Pfluge oder vom Handwerk in die Dichterzunft gesprungen sind. Selbst Ibsen hatte ja trotz seines Doktortitels nur die Ausbildung eines Apothekerlehrlings hinter sich. Es kann ja natürlich seine Vorteile haben, nicht zu stark mit Buch-Gelehrsamkeit belastet zu sein auf der Wanderung den Parnass hinauf; doch kommen die Leichtbeinigen, die blind auf das Gnadengeschenk der Unmittelbarkeit vertrauen, doch auf die Länge zu kurz, und es scheint mir, dass die nordische Litteratur der Gegenwart mit Ihren vielen ungepflegten Naturbegabungen im Begriff ist in der Selbstzufriedenheit der Einfältigkeit stecken zu bleiben. Deshalb beklage ich doppelt, dass Werke wie die Ihrigen infolge der schwierigen augenblicklichen Lage des Büchermarktes nicht in unsere Sprache übertragen werden können. Die Kosten für Druck und Papier sind so kolossal gestiegen, dass z.B. ein kurzes Werk von 90 kleinen Seiten, welches ich im Winter herausgab, geheftet 6 Kr. kostet, welches 60 deutsch. Mark entspricht. Unter diesen Umständen haben unsere Verleger eigentlich nur Interesse für Reiselektüre; die in etwa fünfzigtausend Exemplaren verlegt werden kann.
Vor einigen Tagen sprach ich mit einem unserer Litteraturprofessoren über diese Dinge und nannte in dieser Verbindung auch Sie und Ihre gedankenreiche5 Produktion. Er kannte Ihren Namen, aber nicht Ihre Bücher. Als er von mir ging, hatte er daher ein paar von Ihren Werken unter dem Arm; hoffentlich wird er dieselben jetzt zum Gegenstand einer Besprechung machen, sodass wenigstens die studierende Jugend dafür interessiert wird Sie kennen zu lernen.
Ich sende Ihnen meine besten Wünsche.
Ihr ergebener
Henrik Pontoppidan