Von einer Nordlandreise

I. Die Mitternachtssonne

Eine vierundzwanzigstündige Dampfschiffreise nordwärts von Trondheim bringt einen zum Polarkreis. Betreten wird er vor einer kleinen, emporragenden Felseninsel, Hestmannøy, die sich – von Osten betrachtet – vor dem Himmel wie eine behelmte Gestalt abzeichnet, die mit wehendem Umhang nach Süden reitet. Auf den Touristenschiffen wird dieser Moment gerne mit Kanonenschüssen verkündet. Und es gibt auch Anlass, das Gemüt in feierliche Stimmung zu versetzen. Hier gleitet man schließlich auf den Abschnitt der Erdoberfläche, wo die Sonne zur Sommerzeit nie untergeht, und wohingegen die Wintermonate ohne Tage sind. In anderen Worten befindet man sich auf der Schwelle zu einer abenteuerlichen Welt, wo selbst die Schöpfungsworte "und es wurde Abend, und es wurde Morgen" ihre bedingungslose Gültigkeit verloren haben.

Es könnte wie eine bloße Kuriosität wirken, dass die Sonne einfach so Tag wie Nacht am Himmel bleibt. Für gewöhnlich erhofft man sich auch keine starken Eindrücke von diesem Phänomen, so sehr wie der Unterschied zwischen den Tageszeiten in Wahrheit schon weit unterhalb des Polarkreises verblasst. Sogar schon in einem so südlich gelegenen Ort wie Molde nimmt man zum Mittsommer kaum eine Dämmerung wahr. Man hat also wie so oft Zeit, sich mit dem sonderbar unwirklichen, opalähnlichen Schein vertraut zu machen, der in einer solchen hochnordischen Sommernacht wie ein verhexter, verklärter Tag über dem Meer weilt.

Und dennoch! Sieht man die Sonne in ihrem Niedergang zum ersten Mal plötzlich über dem goldenen Streifen, der die Grenze zwischen dieser Welt und der Unendlichkeit bildet, stehenbleiben und daraufhin wie nach kurzer Bedenkzeit wieder in die Höhe steigen, gibt es einen Augenblick, in dem man unwillkürlich die Luft anhält. Dieser Moment, in dem Abend- und Morgenrot zu einem Blutsee zusammenfließen und den neuen Tag gebären, hat wahrlich etwas Märchenhaftes an sich. Man hat das Gefühl, die Zeit selbst entstehen zu sehen, der Geburt der Ewigkeit beizuwohnen.

Vor Støtt – einer Landspitze vor dem großen Gletscher "Svartisen" – wurden wir zum ersten Mal Zeugen dieses sonderbaren Naturschauspiels. Hier öffnet sich der Schärengarten in Richtung Eismeer genau dort, wo die Sonne um Mitternacht steht, also im Norden. Wir waren an Bord eines der großen Touristenschiffe oder vielmehr schwimmenden Hotels, die zu dieser Jahreszeit zweimal wöchentlich einen bunten Schwarm aus aller Welt von Trondheim zum Nordkap bringen.

Das Wetter war außergewöhnlich. Man spürte kaum Seegang. Das Meer lag wie ein hellblauer Seidenteppich ohne Falten oder Kräusel bis hin zum blinkenden Horizont, wo die Sonne groß und klar Gold in die Seide webte. Eine Gruppe Delfine war um das Schiff herum aufgetaucht. Sie hielten Abstand; aber man konnte deutlich ihre großen, dunklen Körper sehen, wenn sie sich in dieser anmutig ausgelassenen Wellenbewegung, die diesen plump gebauten Tieren eigen ist, über das Wasser hoben. Ihr Treiben strahlte eine wunderbare Lustigkeit aus. Es sah aus, als würden sie übereinander Bockspringen. Dann verschwanden sie mit einem Mal.

Unter den Passagieren herrschte eine heitere, feierliche Stimmung. Man schätzte sich glücklich, gutes Wetter zu haben, das schließlich Voraussetzung für den Anblick der Mitternachtssonne war. Bloß ein klein wenig Nebel im Norden, und man würde nichts Außergewöhnliches mehr erleben. Jetzt war kein einziger Wolkenfetzen am Himmel zu sehen, und in der Luft lag keine Bewegung, die nicht vom Schiff hervorgerufen wurde.

Doch das Nordmeer ist kalt. Wenn die Sonne sich senkt, braucht man hier all seinen Pelz. Drei kleine, kakaobraune Inder mit langen Pferdezähnen spazierten jedoch in gewöhnlicher europäischer Sommertracht ohne auch nur einen Mantel umher. Sie kommen direkt aus Kalkutta und tragen, wie sie sagen, die Wärme noch in sich. Der eine, wahrscheinlich ein hinduistischer Priester, hat ein prächtiges, blassrotes Seidentuch wie einen Burnus über Kopf und Schultern geworfen; scheinbar aber mehr aus unschuldiger Koketterie als zum Schutz vor der Kälte. Er ist ein schöner, jüngerer Mann mit leuchtenden Augen und rabenschwarzem Bart. Vermutlich haben die Blicke der Damen ihm verraten, dass ihm die Drapierung nicht schlecht steht.

Während wir uns allmählich auf Mitternacht zubewegen, wächst die Erwartungshaltung. Das Schiff ist beflaggt worden, und damit sich der Schärengarten nicht schon zu früh wieder um uns legt, wird die Fahrt verlangsamt.

Auf der sonnengewandten Schiffsseite stehen die Leute mit ihren Fotoapparaten, bereit, die Platte um Punkt Zwölf zu belichten.1 Diese unseligen Dinger sind ja heutzutage fester Bestandteil einer standesgemäßen Reiseausrüstung. Hier an Bord verbringen manche Leute den ganzen Tag mit Fotografieren und Postkartenschreiben. Besonders eine unermüdliche Amerikanerin jagt ununterbrochen über das Schiff, damit ihr ja keine Beute entgeht. Jede noch so kleine Hütte am Ufer, jeder jämmerliche Bergbach, der den Felsen hinabtröpfelt, jedes Fischerboot – alles muss rein in ihren schwarzen Kasten. Wenn solche Leute irgendwann heimkommen und diese Bilder in ein Album kleben, werden sie einen verlässlichen Katalog über alles besitzen, was sie nicht gesehen haben.

Doch der große Augenblick naht. Überall vergleicht man seine Uhren. Und man wird sich einig, dass noch fünf Minuten bleiben.

Es ist also noch genug Zeit, um sich umzusehen. Zumindest für diejenigen, die ihren Fotoapparat im Kopf haben, wo er sich schnell einstellen lässt. Die Sonne blendet aber, man muss sich dem Land zuwenden. In diese Richtung sollte man in diesem Augenblick ohnehin schauen, und zwar nicht nur, um dieser menschlichen Dummheit den Rücken zuzukehren. Rundherum auf dem nun fast bernsteinfarbenen Meer schwimmen zart geformte Felseninseln im Mitternachtsschein. Es sind aber keine echten Felsen. Wie violette Schatten weilen sie auf dem Wasser, stofflos, geisterhaft – Gespenster der schweren, grauen und kargen Felsmassive, die tagsüber erdrückend wirken.

Ja, das ist das Märchenland! Ein Traum, ein Gedicht, eine Offenbarung. Oben auf den schneebefleckten Gipfeln liegt das Sonnenrot wie Licht aus dem Jenseits.

Da aber erschallt ein dröhnender deutscher Bass.

"Zwölf!"2

Gleichzeitig klickt und knarrt es in gut fünfzig Amateurapparaten. Von der Brücke ertönt ein Kommando. Das Schiff salutiert.

Die Sonne steht in diesem Augenblick eine Handbreit über dem Rand der Erdkrümmung. Sie ist groß und rötlich. Wendet man ihr die Wange zu, ist die Wärme deutlich spürbar. Über einem Bergkamm auf der anderen Seite des Himmels steht der Vollmond, als hätte man ihn in die Ecke gestellt. Ein Mondgespenst. Ein blassgrünes, armes und brüchiges Ding, all seiner romantischen Vergoldung beraubt, total entblößt. Bekanntlich haben moderne Astronomen den Mond als alten Käse zum Ammenmärchen erklärt; hier aber sieht man es mit eigenen Augen.

Die Passagiere haben sich vorn auf dem Promenadendeck versammelt, wo die Aussicht am besten ist. Nur der junge hinduistische Priester hält sich auf dem Achterschiff auf. Hier hat er eine Zeitlang mit einem winzigen Gebetsbuch hinter dem Steuerrad gesessen, einer Westentaschenausgabe, in der man ihn im Lauf des Tages häufig lesen sah. Jetzt steht er auf, entblößt den Kopf und hält Andacht, der aufgehenden Sonne zugewandt.

Auf dem Vordeck wird der Moment derweil auf europäische Art gefeiert. Man trinkt Champagner. Es wird angestoßen; und die Deutschen, die wie immer wie eine Familie unter sich bleiben, singen Vaterlandslieder. Ein junger Engländer hält ein Brennglas in der Hand und versucht respektlos, seine Pfeife an den Strahlen der Mitternachtssonne zu entzünden. Andere schreiben Postkarten.

Nach und nach fällt der Betende immer mehr Leuten auf. Vor allem der Amerikanerin, die sofort mit ihrem teuflischen kleinen Kasten zur Stelle ist. Der Mann hat sich nun hingekniet; und obwohl ihm die wachsende Aufmerksamkeit unmöglich entgehen kann, lässt er sich augenscheinlich nicht davon beirren. Seine dicken, roten Lippen bewegen sich unaufhörlich im Gebet: Die Sonne scheint direkt in sein erhobenes Gesicht.

Das schön gefärbte Seidentuch fällt über seine Schulter, und man kommt kaum umhin, ihn auch hier der Koketterie zu verdächtigen. Doch vielleicht tut man ihm Unrecht. Diese Kinder des Südens, die dem Naturzustand näherkommen als wir und aus ihrer Heimat den Anblick jeglicher Nacktheit gewohnt sind, besitzen wohl auch nicht die Seelenscham, aus der die stillen Kämmerlein des Nordens gebaut sind. Wie dem auch sei: Die europäischen Damen finden ihn in seiner naiven Andacht offenbar hinreißend. Als er sich schließlich bückt und dreimal das Deck küsst, hat er jedes weibliche Herz an Bord erobert.

Inzwischen ist es halb eins geworden. Man sieht sich um – und alles scheint verwandelt. Ein neuer Tag ist geboren. Die Berge, noch vor wenigen Augenblicken wie im Traum des Abendrots versunken, baden sich jetzt im goldenen Morgengrauen. Auch die Meeresoberfläche wirkt auf einmal lebendiger. Es ist, als wäre die Natur aus einem unmerklichen Schlummer erwacht, erfrischt und verjüngt.

Auch in unserer eigenen, kleinen Welt spüren wir einen Wandel, ein Erwachen. Lerchengesang und Spatzengezwitscher lösen das nächtliche Sausen ab, das einem vor kurzem wie der Hauch zottiger, lautloser Flügel durch den Geist schwirrte. Man fühlt sich erholt und ausgeruht, als hätte man richtig geschlafen. Die Vorkommnisse der vergangenen Stunde sind auf sonderbare Weise schon weit in die Erinnerung gesegelt. Man erinnert sich gerade noch so.

Natürlich ist das im Wesentlichen nur Einbildung, gegen die man sich aber kaum wehren kann. Unser Bewusstsein verlangt den gewohnten Stimmungswechsel und vollstreckt ihn im Notfall selbst. Und das fällt ihm nicht schwer. In Nordland hat die Vorstellungskraft es in sich. So landflüchtig die Nacht zu dieser Zeit auch ist – sie spukt dennoch gegen Mitternacht mit ihren Träumen umher.

II. Am Vestfjord

Die Schönheit Norwegens ist von der Art, die jedem ins Auge fällt. Sie erobert Fremde im Sturm und lässt sie in Begeisterung ausbrechen. Ganz getrost können die Norweger ihr Land der Neugier preisgeben; es gibt keinen Grund zur Angst, wie sie ein Däne zum Beispiel oft vor den Touristenscharen empfinden muss, die uns eine andauernde Werbekampagne in den letzten Jahren eingebrockt hat. Zu Hause kann einen der Anblick dieser erwartungsvollen Engländer und Amerikaner ganz verlegen machen. Mit suchenden und verständnislosen Blicken spazieren sie an den uns allerliebsten Orten umher und leben erst auf, wenn sie den Weg in den Tivoli3 oder in eines der großen Hotels an der Küste gefunden haben.

Der dänischen Natur muss man ihre Schönheiten erst entlocken. Man muss sie sozusagen in einem der Augenblicke überraschen, wo sie ihr Staub- oder Nebelgewand ausgezogen hat und, wie es in der Strophe heißt, "die errötende Braut der Sonne" ist4. Und selbst da lässt den Betrachter nichts die Augen aufsperren. Im Gegenzug aber wird man der Natur auf eine vertraulichere, befruchtendere Weise nähergebracht, anders als in Norwegens ungeheuerlichen Steinwüsten, wo man geradewegs abdriftet, ob in Träume und Gedichte oder in reines Erstaunen. Mit solch einer endlosen, wüsten Bergweite ist es wie mit dem Sternenhimmel oder dem Meer; der Anblick kann einen überwältigen und verzaubern, aber tief im Innern hinterlässt sie uns im Grunde gleichgültig und kalt. Uns fehlt hier die Verknüpfung, ein Organ – das innerliche und lebendige Gefühl der Zugehörigkeit, das uns gegenüber allem, was da wächst und welkt, ergreift.

Die Norweger selbst zweifeln nicht daran, dass sie das schönste Land der Welt besitzen. Erwähnt man zum Beispiel die Schweiz in der Gegenwart eines Westländers, wird er in jedem Fall höhnisch lächeln. Die Schweiz! Liegt die Schweiz etwa am Meer? Bietet denn die Schweiz oder irgendein anderes Land der Christenheit Fremden eine 300 Meilen5 lange Küste wie die zwischen Fredrikshald und Varanger? Eine unendliche Bergkette, stetig höher, festlicher und wilder, je weiter man nach Norden kommt! Hat die Schweiz einen Schärengarten mit tausenden Inseln, Fischerplätzen, Vogelklippen und Walherden? Oder hat sie Fjorde wie Hardanger, Sogn, den Søndfjord, Nordfjord und hunderte weitere verzweigte Meeresarme zu bieten, die sich ins Land strecken – allesamt verschieden, jeder mit seinem eigenen Charakter, manche breit, hell und festlich wie das Meer selbst, andere eng, kalt und bleich wie eine Einfahrt zur Unterwelt?

Hierauf lässt sich antworten, dass einen die Hochalpen dafür dem Himmel und der Ewigkeit näherbringen, dass die schweizerischen Binnenseen die norwegischen Fjorde durchaus aufwiegen, dass die Vegetation reicher und der Gegensatz zwischen der Eiswüste auf den Gipfeln und der Fruchtbarkeit in den Tälern einnehmender ist, dass man alles in allem die Nähe des Südens spürt, was die Eindrücke vielfältiger macht und langfristig ein üppigeres und bedeutsameres Gefühlsleben weckt als die endlose, von arktischen Stürmen verbrannte Felsenküste.

Doch der Norweger hat noch einen letzten Trumpf im Ärmel. Breitbeinig und mit geballten Fäusten in den Taschen fragt er:

"Aaaber … gibt’s da auch die helle Sommernacht … hm? Und die Mitternachtssonne?"

Da bleibt einem nichts anderes übrig, als zu schweigen. Selbst wer eine alte Jugendliebe für das helvetische Hochland hegt, muss eingestehen, dass die sommerliche Lichtgewalt Norwegen den Vorrang gibt, zumindest als Touristenland. In dieser glühenden Polarnacht liegt unwiderstehliche Magie. Sie lässt uns aus uns heraustreten, aus der Zeit und Ewigkeit, hinein in eine Traumwelt, die einer Fata Morgana ähnelt, einer farbenfrohen Luftspiegelung der Wirklichkeit.

Schon Anfang Mai gehen die Leuchttürme an den Fahrwassern in Nordland aus und werden erst Ende August wieder angezündet. Fast vier Monate lang herrscht ununterbrochen Tag, und man versteht, weshalb das Eismeer seit Anbeginn der Zeit die Seeleute des Nordens hergelockt und den ärmlichen Ost- und Westküsten eine so lange und reiche Geschichte verliehen hat. Der Winter soll nicht einmal so dunkel sein, wie man ihn sich vorstellt. Ist die Sonne fort, scheinen Mond und Sterne mit einer anderenorts nie dagewesenen Klarheit. Auch die Schneemassen leuchten. Und Nordlichter jagen in wechselnden Farben über den Himmel, in Gelb, Grün und dem schönsten Rot.

Ja, der Norweger hat Recht. Norwegen ist das auserwählte Land. Seine gezackte Felsenküste ist die Krone Europas, glänzend wie Gold und Edelsteine.


Seit zwei Tagen fahren wir, abgesehen von einem kleinen Schwenk in den kurzen Holandsfjord, ununterbrochen Richtung Norden, vorbei an Fosen, Helgeland und schließlich den schneebedeckten Felswänden von Salten. In der Fjordmündung ragt Nordlands gewaltiger Gletscher Svartisen ins Wasser, das hier von der charakteristischen blassgrünen Farbe ist, die von der Nähe eines Eisbruchs zeugt. Der Weg zum Gletscher verläuft über Kiesbänke und Felsblöcke, die das Eis mit sich gebracht hat. Einer nach dem anderen liegen sie wie Ausscheidungen des Hochgebirges auf dem Talboden.

Schon aus weiter Ferne spürt man die Kälte des sechzehn Quadratmeilen6 großen Eisfelds. Da konnte die Sonne noch so scheinen, wir mussten uns an unsere Decken klammern. Nach und nach legten sich die Berge um uns, jetzt konnten wir den Gletscher deutlich klagen hören.

Beständig tönt ein dunkles, bedrohliches Brummen, das ab und zu in ein dröhnendes Donnern übergeht. Dann ist in der gewaltigen Masse, die unter ihrem eigenen Gewicht von Schnee zu kristallklarem Eis wird und aus dem gleichen Grund unaufhörlich, wenn auch unmerklich in Richtung Tal strebt, etwas zusammengebrochen.

Nun fallen uns aber vier Kleinkinder ins Auge, vier Albinos, die auf einem Stein neben dem Pfad sitzen. Sie sind mucksmäuschenstill und ihre verblichene Filzkleidung hat die gleiche Farbe wie der Stein – deshalb haben wir sie erst gesehen, als wir direkt vor ihnen standen. Sie ähneln einem Wurf verlassener oder verirrter Trollkinder, wie sie mit ihren offenen Mündern und runden, ängstlichen, farblosen Augen so dasitzen.

Da entdecken wir einen kleinen Hof am Fuß der Felswand. Es leben wirklich Menschen in diesem Todestal!

Unwillkürlich sah ich zu dem blassgrünen Gletscher auf, und der Gedanke an ein Leben vor diesem knurrenden Eisschlund ließ mich erschaudern – immerzu im Anblick dieser gefrorenen Einöde, eingesperrt zwischen unüberquerbaren Felsmauern. Aber irgendwo in der Nähe muss es wohl eine kleine Weide für ein paar Kühe und Ziegen geben. Deshalb wurde der Hof hier gebaut. Und sein Bauer wird sich wohl kaum beschweren. Solange er sich nur den Hunger vom Leib halten kann, dankt er seinem Gott sicher Tag für Tag aufrichtig für seine Gaben.

Nichts verleiht der Kargheit Norwegens und den ihr im Schicksal ergebenen Bergbewohnern besser Ausdruck als diese vielen einsam gelegenen, nahezu abgeschnittenen und den Launen der Natur ausgesetzten Höfen, die man überall, vor allem in den Küstenregionen, sieht. Der norwegische Bergbauer ist nicht im Geringsten ein Arbeitsmensch im amerikanischen Sinn. Wie der Bär hat er keine Lust, seine Kräfte zu nutzen. Aber er ist so wie er an diesem Ort sein muss. Er ist als Abbild seines Landes geschaffen, hat genau die Geduld, den gottergebenen Starrsinn, die Einfalt des Herzens und die unvergleichliche Genügsamkeit, wie man sie hier braucht. So wie sich die norwegische Tanne an die steilste Klippe klammert, solange ihre Wurzeln nur einen annähernd feuchten Spalt finden, baut auch der Bergbauer sein Haus zwischen den Wolken oder unter den Gletschern, solange er nur einen kleinen Fleck fruchtbarer Erde findet.

Die große Katastrophe7 von der schönen Felswand "Loen" im Nordfjord unter dem Jostedalsbreen, wo eines Winters fünfzig Menschen bei einem nächtlichen Gletscherbruch ertranken und spurlos verschwanden, ist gewiss noch allseits bekannt. An diesem Ort sind schon viele Male zuvor schwere Unfälle durch Bergsturz geschehen. Nun baut man die zerstörten Höfe trotzdem an Ort und Stelle wieder auf, obwohl die Felswand dahinter ab und zu immer noch bröckelt. Als wir einen der Überlebenden fragten, warum sie trotzdem dort bleiben wollten, sah er uns verständnislos an. Wir lasen seine Gedanken. Ihnen bleibt doch keine Wahl!

An einem anderen Ort bei Dovre – oder war es in Sogn? – sahen wir einen Hof wie einen Adlerhorst auf dem Vorsprung eines zwei- bis dreitausend Fuß hohen Felsens, der sonst senkrecht zum Wasser stand. Vom Schiffsdeck aus wirkte es, als wäre dort oben gerade genug Platz für die Gebäude. Unmittelbar dahinter hob sich der Fels wieder und wurde von einem gewaltigen Schneefeld gekrönt. Der Steuermann kannte sich dort aus und erzählte, dass die Leute die Reise zur Siedlung im Tal nur einmal im Jahr antraten, um in die Kirche zu gehen, so weit und so schwer war der Weg. Von Fahren war gar keine Rede. Wenn dort oben jemand starb, wurde die Leiche auf den Friedhof "manövriert", das soll heißen: Sie wurde – entweder in einem einfachen Sarg oder auf einem Brett – auf einem Pferderücken festgezurrt und weggeführt. Passierte das im Sommer, eines heißen, stillen Tages, war von dem Toten nicht mehr viel übrig, wenn man das Tal endlich erreichte.


Jetzt haben wir den breiten Vestfjord erreicht. Vom Meer aus sehen wir die Lofotenwand im Norden blau werden. Bis dahin sind wir fast ausnahmslos an den Schären entlanggesegelt, haben uns durch ein Labyrinth aus Meerengen geschlängelt, uns durch so schmale Fahrrinnen gequetscht, dass die von den Klippen rauschenden Bergbäche auf das Deck spritzten, sind über eine Art Binnensee getuckert, auf dessen ruhiger, friedlicher Wasseroberfläche sich eine wilde, imposante Schneelandschaft spiegelte. Hin und wieder hat sich das Land zum Meer hin geöffnet. In anderen Momenten hat es sich um uns aufgetürmt, sodass wir nicht mehr wussten, wo es weiterging.

Hier und da passierten wir ein paar Fischerhütten mit einem auffälligen Laden hinter dem Steg oder gar ein ganzes Dorf samt Kirche und Häusern mit Schieferdächern. An einem einzigen Ort – im Tjeldsund – vernahm man außerdem Fruchtbarkeit und Wohlstand. Doch wie meistens fuhren wir von Stunde zu Stunde an einer vollkommen kargen und leblosen Küste entlang, lauter Steine, Schnee und Sonne. Wachte man in seiner Kajüte auf und schaute – vielleicht noch benommen von heimlichen Träumen – aus dem Bullauge, konnte der Eindruck entstehen, man schaue auf einen fremden, einen ausgestorbenen Planeten.

Nun, ganz so unbewohnt und verlassen, wie das Land von der See aus glauben lässt, ist es nicht. Wie an der gesamten norwegischen Küste muss man in die Tiefe der Fjorde vordringen, um die Oasen dieser Steinwüste zu finden. Selbst auf den Schneefeldern des Hochgebirges gibt es menschliches Leben. Hier leben die Lappen, die Ureinwohner des Berglands, mit ihren Rentierherden und Hunden, im ständigen Kampf mit Wölfen und Bären.

Am Vestfjord spüren wir die Dünung des Ozeans zum ersten Mal unter das Schiff rollen. Zwischen Trondheim und Hammerfest ist das der einzige Ort, wo man sich für längere Zeit auf offenem Meer befindet. Die "Falte" vor Namsos ist sicher auch bei ruhiger Wetterlage kein allzu angenehmer Aufenthaltsort für Leute mit Hang zur Seekrankheit, aber die Fahrt dauert bloß wenige Stunden. Wenn der Wind von Westen kommt und Nebel oder Stürme zur Küste treibt, macht es auch nicht gerade Spaß, den Vestfjord zu passieren. Ja, schon der Name hat einen üblen Klang in den Ohren norwegischer Seefahrer. Hier sollen auch Wiedergänger, der Klabautermann und andere maritime Spukgestalten, wie wir sie aus norwegischen Seefahrerromanen kennen, ihr Unwesen treiben. Ich habe sie allerdings noch nicht gesehen. Aber der Wind kommt ja auch von Osten, die Sonne scheint, der Himmel ist fantasielos klar, und das Meer so ruhig wie an allen vierzehn Tagen, seit wir von Stavanger aus in See gestochen sind.

Wie spät ist es? Ich schaue auf meine Uhr. Der Stundenzeiger steht auf der Sechs. Aber daraus werde ich auch nicht schlau. Ist es Morgen oder Abend? Ich frage die Sonne um Rat. Sie steht 45 Grad8 über dem Horizont und gibt mir auch keine verlässliche Antwort. Hier oben, wo Bezeichnungen wie Gestern, Heute und Morgen keine Verwendung finden, führt einen die Zeit in die Irre. Man schläft, wie es sich ergibt, ohne sich nach der Uhrzeit zu richten. Ohne die regelmäßigen Mahlzeiten an Bord wüsste man weder aus noch ein. Will man wissen, wie spät es ist, muss man seinen Magen zu Rate ziehen. Und der sagt mir, dass der Morgenkaffee jetzt fertig sein müsste.

III. Tromsø

Es geschah nach einer gut überstandenen Mahlzeit, als an die fünfzig Passagiere, die einzige Ladung des großen Schiffes, in den Korbstühlen auf dem zweistöckigen Deck dösten – plötzlich, nach einer Kurve des wieder sehr engen Gewässers, kam eine Stadt in Sicht.

"Eine Stadt!", schallte es in verschiedenen Sprachen. Und die Leute stürzten zur Reling, um sie zu sehen.

Es war Tromsø.

Hier würden wir anlegen, und die Aussicht, an Land zu kommen, erweckte ganz neues Leben an Bord.

Nicht dass es auch nur ansatzweise Anlass gab, sich nach festem Boden unter den Füßen zu sehnen. Wir hatten bisher nur sporadisch zu spüren bekommen, dass wir uns auf schwankenden Wegen befanden. Doch wie sich der Vogel seiner Gefangenschaft erst in dem Moment bewusst wird, wenn man den Käfig öffnet, schienen nun alle Passagiere auf einmal wahrzunehmen, dass sie seit drei Tagen ihrer Bewegungsfreiheit beraubt gewesen waren. In ihren eingeschlafenen Beinen begann es zu kribbeln.

Zuletzt hatte man auch spüren können, wie das Interesse für all die leblose Natur nachließ. Obwohl die Fjorde immer größer und mächtiger wurden, waren die Fotoapparate beiseitegelegt worden, jedenfalls kamen sie nur zum Einsatz, wo die Natur in ihrer wilden Schönheit die Aufmerksamkeit trotz allem auf sich zog. Stattdessen hatte sich eine wachsende Empfänglichkeit für die materiellen Genüsse der Reise geäußert. Die üppigen Mahlzeiten zogen sich immer mehr in die Länge, man machte eifrig Gebrauch von den warmen Salzwasserduschen in den Badezimmern, und das Personal musste rund um die Uhr für Erfrischungen jeglicher Art sorgen. Doch besonders galt die Aufmerksamkeit nun den Mitreisenden. Die weltmännische Gleichgültigkeit, mit der man einander anfangs begegnet war, war nach und nach einer allgemeinmenschlichen, kleinbürgerlichen Neugier gewichen. Um sie zu stillen, versuchten selbst die noch so steifen, würdevollen Engländer verzweifelt, Sprachbarrieren zu überwinden.

Jetzt aber galt die Aufmerksamkeit wieder der Außenwelt, ganz besonders, da in der kleinen nordländischen Stadt offenbar etwas im Gang war. Der Kai war voller Menschen. Was diesen Auflauf aber verursachte, fanden wir nicht einmal mit dem Fernglas heraus.

Tromsø liegt auf der Ostseite der Insel, die der Stadt ihren Namen gegeben hat – einer kleinen, flachen, mit vereinzelten, kleinen Birken bewachsenen Insel, die durch einen schmalen Sund von der steilen Festlandküste getrennt wird und vollkommen von schweren, schützenden Felsmassiven eingeschlossen ist. Vom Wasser sah die Stadt im Wesentlichen aus wie einer der vielen norwegischen Küstenorte, an denen wir vorbeigekommen waren. Hinter länglichen Lagerschuppen und Fischständen, die man wegen Ebbe und Flut auf Stelzen gebaut hatte, verteilten sich die einheitlichen Holzhäuser in aufsteigenden Reihen um eine Kirche, ganz oben standen ein Pavillon und ein Fahnenmast. Sogar die großen Werbeschilder an den geteerten Bretterwänden der Schuppen schienen die gleichen wie die, die uns seit Stavanger an jedem Hafen ins Auge gestochen waren.

Überhaupt war es schwer zu begreifen, dass man sich hier in arktischen Gefilden befand. Ein uniformierter Polizist, der vor der Menschenmenge auf dem Kai Wache hielt, machte sogar einen recht vertrauten Eindruck, vor allem weil er so verwirrt autoritär mit seinem Stock nach den Beinen der Kinder schlug, ganz besonders nach denen der kleinsten und schwächsten.

Als die Trosse an Land geworfen wurde, standen die Leute dicht gedrängt auf der Kaimauer. Plötzlich wurde mir klar, dass wir selbst Anlass für diesen Menschenauflauf waren, dass man unsere Ankunft mit dem gleichen Interesse erwartete, mit dem man in dänischen Dörfern eine Truppe Singhalesen oder eine Kirgisenkarawane empfangen würde.

Damit veränderte sich mein Eindruck von der Stadt. Ich hatte wieder dieses lebhafte Gefühl, mich am Ende der Welt schlechthin zu befinden. Außerdem entdeckte ich nun die ersten Lappen in der Menge, mit ihren rotgeränderten Filzgewändern und der eigenartigen Fußbekleidung. Davon abgesehen sah man Menschen aller Art. Sogar die Damen der Stadt waren erschienen. Sie standen abseits in einer kleinen Gruppe und stupsten einander vor Interesse in die Seite, wenn sie bei ihren Geschlechtsgenossinnen an Bord irgendein hochmodernes oder besonders elegantes Phänomen aus der Modewelt entdeckten.

Vermutlich wird nicht jedes Touristenschiff eine derartige Aufmerksamkeit wecken. Unser Schiff aber war das erste des Jahres. Die frühste, lebende Botschaft aus der großen, weiten Welt. Als wir an Land gingen, folgte uns der Menschenschwarm durch die ganze Stadt, trotz jeglicher Bemühungen des Polizisten, uns die Leute vom Leib zu halten.

Es war ein seltsames Gefühl, wie ein Naturphänomen betrachtet, vielleicht sogar für einen amerikanischen Milliardär gehalten zu werden. Zu meinem Glück merkten die Leute aber rasch, dass ich Letzteres nicht war, und man wandte seine Aufmerksamkeit in eine andere Richtung.

Viel Aufsehen erregten unsere drei Inder. Doch das größte Interesse galt der jüngsten Mitreisenden, einem kleinen Mädchen von elf bis zwölf Jahren, Tochter eines reichen Engländers, fürchterlich missgebildet, nur eine Elle9 lang, krumm und schief, mit einem Klumpfuß und verhutzelten Beinen. Mühselig watschelte oder hüpfte sie an der Hand ihrer Pflegerin mit einem zu kurzen Krückstock umher. Mit ihrem großen Hut und diesem hopsenden Gang ähnelte sie einem lustigen, alten Weib, einer kindlichen Hexe oder einem verhexten Kind. In einem wachsbleichen Greisengesicht mit vorstehendem Kinn und zahnlosem Mund saßen zwei junge Augen, klar und blau, mit einem Glanz wie aus einer besseren Welt.

Das kleine Wesen hatte für einen gewissen Schrecken an Bord gesorgt, als es zum ersten Mal auf dem Deck aufgetaucht war, aber rasch alle Herzen erobert. Sie war mit ihrem Vater und vier kleinen Cousinen, die ihrer Unterhaltung dienen sollten, unterwegs; und es entstand der Eindruck, dass sich der alternde Mann allein des Kindes wegen auf diese weite Nordlandreise begeben hatte. Ihm selbst gefielen die prächtigen Schneelandschaften augenscheinlich am besten, wenn sie sich auf der Oberfläche seines Whiskys spiegelten. Davon abgesehen beherrschte ihn die Fürsorge für den kleinen, vermutlich mutterlosen Krüppel, den er in die Welt gesetzt hatte, vollkommen. Offensichtlich blieb keine bezahlbare Zerstreuung unversucht, um die Tochter ihre Behinderung vergessen zu lassen. Bisher schien das auch gelungen zu sein. Sie machte nicht im Geringsten den Eindruck, als fühlte sie sich von ihrem Schicksal bedrückt. Sie nahm es auf kindliche Weise als selbstverständlich hin, konnte selbst herzhaft über ihre Unbeholfenheit lachen, ja, brachte zuweilen eine nahezu stürmische Lebensfreude zum Ausdruck. Immer wieder hörte man irgendwo auf dem Schiff kurze, durchdringende, vogelartige Schreie – ihr Lachen. Zusammen mit ihren vier Spielkameradinnen tollte sie überall herum. Oder sie tauchte plötzlich dort auf, wo man es am wenigsten erwartete, ganz allein, auf ihren Krückstock gestützt wie ein freundlicher, kleiner Schiffskobold.


Tromsø hat man schnell beschrieben. Die Stadt ist erst knapp hundert Jahre alt, sie ist die Hauptstadt Nordnorwegens, hat sechstausend Einwohner, darunter einen Amtmann und einen Bischof, und – was so weit im Norden ungewöhnlich ist – eine Lateinschule. Die Stadt ist ein wichtiger Handelsplatz. Im Hafen oder eher auf der Reede – denn so tief im Schärengarten braucht man keinen richtigen Hafen – liegen lauter kleine Schiffe und Yachten. Besonders Russen halten sich hier viele auf. Sie kommen vom Weißen Meer, um Fisch zu holen, und bringen dafür Korn und Mehl. Trotz der spärlichen Bevölkerung läuft der Handel in solchen Gegenden verhältnismäßig rege, wo das meiste Lebensnotwendige von außerhalb kommen muss, während hingegen der Großteil dessen, was das Land selbst hervorbringt, fortgebracht wird. Wir befinden uns hier nämlich auf der Grenze, wo der Ackerbau aufhört. Ein wenig Vieh wird noch gehalten, ansonsten sind die Menschen aber auf die Fettigkeit des Meeres angewiesen.

Das spiegelt sich im Straßenleben wider. Es wird komplett von Seeleuten beherrscht. Kein Wagen ist zu hören. Und das verleiht der Stadt eine feierlich wirkende Stille – es ist, als spürte man in dieser Schweigsamkeit die Nähe des ewigen Eises. Auch das Geschäftsleben ist eigentümlich. Der Geruch nach Fisch und Tran schlägt einem überall entgegen. An den Hökerständen stößt man auf Eier von Seevögeln, genauer gesagt von Eiderenten, anstatt von Hühnern. Seehundfelle, Walrosszähne und Eisbärenpelze gibt es in jedem Laden.

Am meisten beschäftigt den Fremden aber der Anblick der Lappen. In seinem Unwissen wundert man sich überhaupt darüber, diesen mongolischen Nomaden als sesshaften und norwegisch sprechenden Bürgern zu begegnen. Auch ihr Aussehen verblüfft. Die meisten sind bleiche, verkommene, arme Leute, die so gar nicht den Erwartungen von diesem halbwilden Naturvolk entsprechen, die Bären und Wölfen mit einem einfachen Speer in der Hand hinterherjagen, und die vor nicht allzu langer Zeit ihren heidnischen Göttern noch heimlich Blutopfer brachten.

Zieht man mündliche und schriftliche Quellen zurate, findet man heraus, dass es in Norwegen zwei Arten von Lappen gibt, die Berglappen und die Seelappen, und dass nur erstere ein Nomadenleben führen. Sie sind freiherrliche Landbesitzer von Bergweiten auf beiden Seiten der norwegisch-schwedischen Grenze und können wohlhabende Leute mit bis zu tausend Rentieren sein. Die Seelappen hingegen leben an der Küste, oft in Lehmhütten, genau wie ihre Vorfahren aus der Steinzeit. Sie sind Fischer und haben nicht viel. Sie machen den größten Teil der norwegischen Lappen aus; allerdings mischen sie sich durch Eheschließung immer mehr mit dem Rest der Bevölkerung und ziehen auch in die Städte.

Richtige Berglappen soll es nur noch ein paar hundert geben, und es werden immer weniger. Nur selten kommen sie zu den Handelsplätzen, um ihre Rentierhäute, Wolfspelze und was sie sonst noch abzugeben haben, gegen Mehl, Kaffee, Sirup und Tabak zu tauschen; die letzteren beiden sind ihr Manna dort in der Schneewüste. Man braucht eine Prise Glück, um sie zu Gesicht zu bekommen, wenn man sich nicht mit denen für Touristen tableauartig errichteten Lappenlagern, wie sie auch uns weiter im Norden zur Schau gestellt werden, zufriedengeben will. Doch genau eine solche Prise Glück hatten wir, und das schon in Tromsø.

Bei einem Stadtrundgang hatten wir unter anderem das Museum besucht, den ganzen Stolz der Bevölkerung, ein Raritätenkabinett im Stil der umfangreichen natur- und volksgeschichtlichen Sammlungen in Bergen. Gegen Mitternacht erreichten wir wieder den Kai, wo in der Zwischenzeit ein kleiner Dampfer festgemacht hatte. Er war mit einer Lappenfamilie an Bord von einem der Fjorde in der Finnmark gekommen.

Wir fanden sie in einer Ecke auf dem Hafenplatz, wo sie ihre Ladung aufgestapelt hatte, im Wesentlichen Häute und Säcke mit Heu oder Moos, außerdem einen Haufen Krempel, wahrscheinlich Haushaltsgegenstände. Insgesamt waren es zehn Personen beiderlei Geschlechts und unterschiedlich alt. Die Männer luden noch mehr Bündel vom Schiff, die Frauen hatten sich mit ihren Kindern hingesetzt. Eine hatte ihr Jüngstes auf ihrem Schoß in einer ungewöhnlichen Wiege liegen, einer Art großem Holzhorn, in dem das Kind stramm festgezurrt war, ohne sich bewegen zu können, und das die Mutter sachte mit dem Knie zum Schaukeln brachte.

Hier bekamen wir, was wir bei den anderen vermisst hatten: die gelbraune Haut, die Fellkleider, das lange, sonnengebleichte Haar und den Wildgeruch – alles unverkennbar naturnah. Außerdem deutete die scheue Verlegenheit dieser Leute ausreichend darauf hin, dass es kein Theater war, zumindest noch nicht. Diese Verzagtheit war besonders den Kindern anzumerken. Ein kleines Mädchen von drei, vier Jahren, hatte die heimatliche Bergwüste offenbar zum ersten Mal verlassen. Es schluchzte vor Angst vor all dem Fremden, vergrub das Gesicht im Rock der Mutter und war nicht wieder davon loszubekommen. –

Die Lappen sind ein Zwergenvolk. Neben den Norwegern und besonders ihren Sprachverwandten, den Kvenen10, die man oft unter den Seeleuten sieht, sind sie nur halb so groß. Doch nicht nur die Kleinwüchsigkeit prägt sie als Volk, das sich in all seinem wilden Mut selbst überlebt hat. Auch ihre flachen, mumienartigen Gesichter zeugen von einem langsamen, einem tausendjährigen Verwelken.

Wer weiß? Vielleicht ist der Tag nicht mehr fern, da der letzte, zähe Rest von den Ureinwohnern des Nordens verschwunden sein wird, da "der letzte Nomade"11 in einem Marktzelt auftritt, wo er vor einem hoch verehrten Publikum alte Runenlieder singt und zum unwiderruflich allerletzten Mal die guten und bösen Berggeister mit seiner Zaubertrommel beschwört.

IV. Der große Kirchentag

In einer Bucht zwischen nahezu senkrechten und vollkommen nackten Felswänden stehen einige Häuser hufeisenförmig um einen Hafen herum, in dem lauter norwegische, finnische und insbesondere russische Fischereifahrzeuge liegen. Das ist Hammerfest. Ein winziges Dorf und doch jedem Schulkind ein Begriff, weil es das nördlichste Dorf der Erdkugel ist.

Auch ohne dieses Schulbuchwissen hätte man hier das lebhafte Gefühl, sich an einer Grenze zu befinden, einen Ort erreicht zu haben, an dem das Minimum an Komfort herrscht, mit dem sich eine zivilisierte Gesellschaft noch zufriedengibt. Viel stärker als in Tromsø merkt man hier, dass man sich in arktischen Gefilden aufhält. Die meisten Häuser haben Grasdächer, ja, am Rand des Dorfes gibt es sogar noch bewohnte Erdhütten zu sehen, richtige lappische "Koten", wie man sie aus den alten Sagen kennt. Paradoxerweise ist das Dorf aber gleichzeitig mit solch modernen Dingen wie einem Elektrizitätswerk ausgestattet. Der Anblick einer Straßenlaterne vor den steinzeitlichen Behausungen der Lappen verschiebt die weltgeschichtliche Perspektive auf eine Weise, die den Gedanken sich selbst hinterherlaufen lässt, als wäre er ein Hund, der seinen eigenen Schwanz jagt.

Wir hatten das Dorf am frühen Morgen erreicht, bevor die Bewohner richtig aufgestanden waren; das verstärkte vermutlich den Eindruck arktischer Einsamkeit und Stille. Aber auch später ließen sich nicht viele Menschen auf der Straße blicken. Das Wetter hatte sich ebenfalls verschlechtert. Zum ersten Mal seit langer Zeit war der Himmel bedeckt. Der Wind, der die letzten vierzehn Tage vom Berg zu uns gekommen war und Wärme und Trockenheit gebracht hatte, war über Nacht auf Nordwestwind umgeschlagen – und im Nu lagen Seenebel und die eisigen Wirbelwinde des Polarmeers über uns.

Es war erbarmungslos kalt. Allmählich bekam man das Gefühl, gar nichts anzuhaben, mit solch einer Macht durchdrang die Kälte Schulterdecke und Mantel, bis sie einem zuletzt sogar das Hemd vom Körper fraß. Hier brauchte man offenbar Häute und Felle. Oder die hier verbreitete fingerdicke, blaugraue Filzkleidung, die sich wie eine zottige Hülse um die Leute legt.

Gegen elf erinnerte uns die Kirchenglocke daran, dass es Sonntag war. Inzwischen war auf der Straße auch etwas mehr los. Die Dorfbewohner, darunter viele Lappen, waren mit dicken Gesangbüchern auf dem Weg zum Hauptgottesdienst. Und da kam der Pfarrer selbst, kämpfte in unserer guten, alten, dänischen Pfarrersuniform aus Talar, Halskrause, Schornsteinrohr12 und Regenschirm gegen den Sturm an. Es war eigenartig, dieser vertrauten Figur so hoch im Norden und in einer solchen Umgebung zu begegnen. Auch das eröffnete eine historische Perspektive, jedoch eine, die einen Dänen etwas wehmütig stimmt.

Der Andrang war so groß, dass die Kirche fast aus den Nähten platzte. Doch es war auch kein gewöhnlicher Sonntag. Es war ein neuer Feiertag für Norwegen, zur Zeit ist schließlich jeder Tag von historischer Bedeutung. Zu diesem Anlass sollte dem norwegischen Volk hier – wie in allen Kirchen des Landes – die Unionsauflösung vom 7. Juni durch die Verlesung des Gesetzesantrags des Parlaments feierlich verkündet werden. Deshalb waren im Lauf des Vormittags auch überall Flaggen gehisst worden. Sie flatterten mit einer nie dagewesenen Frische im Wind – als Zeichen für die große, gehobene Festtagsstimmung, in der sich die norwegischen Seelen nun nach der Aufregung und Anspannung der vorherigen Zeit ausruhen.

Die große, helle Holzkirche wurde von einer auffällig bunten Versammlung gefüllt. Darunter waren die Dorfbewohner, blasse Kaufleute und ihre Angestellten, außerdem Eismeerfischer und Seemänner, bärenartige Kampfgestalten mit mächtigen Bärten. Zuletzt die kleinen Lappen in ihren farbenfrohen Sonntagstrachten.

Neben einem solchen hatte ich einen Platz bekommen. Er war ein kleiner, dicklicher Mann von rund fünfzig Jahren, dunkel, mit kurzen Beinen und aufgequollenem, ungesundem Leib. Wir saßen auf einer der hintersten Bänke, er ganz außen am Mittelgang der Kirche. Die Art und Weise, wie er ständig seinen gelbbraunen Daumen befeuchtete, um im Gesangbuch zu blättern, ohne aber jemals die richtige Nummer zu finden, die ganze konfirmandenhafte Mischung aus Wichtigtuerei und Verwirrtheit, die er während des kompliziert ablaufenden Gottesdienstes ausstrahlte, gab mir den Eindruck, dass er ein Bekehrter war, der aus dem Ganzen noch nicht richtig schlau wurde.

Auch während der Predigt zeigte er trotz der andächtigen Miene und den gewissenhaft gefalteten Händen allzu kindliche Abgelenktheit. Seine kleinen, schrägen Augen huschten durch die ganze Kirche und landeten regelmäßig bei mir, um neugierig meinen Hut, meinen Mantel und meine Stiefel zu begutachten. Am meisten aber beschäftigte ihn offenbar das Verbot von "Tabakspucken" an allen Wänden – eine Verhaltensregel, die jeder, der einmal mit den Leuten hier im Norden zu tun hatte und die dunkelbraunen Pfützen kennt, die die Männer überall hinterlassen, wo sie sich auch nur zwei Minuten aufgehalten haben, wird nachvollziehen können. Mein kleiner Nachbar konnte diese Schilder mit einem Ausdruck anstarren, als läge all die mystische Weisheit des Christentums, ja, die Seligkeitsbedingung selbst, in diesem Verbot.

Obwohl er den Mund offenbar voller Tabak hatte, hielt er sich auch lange fromm daran. Doch ich konnte seinem immer jämmerlicheren Hundeblick die Versuchung ansehen, und dass der Verzicht nicht bis zum Schluss halten würde. Der Verdacht bestätigte sich. Mitten in der Predigt wurde er sehr unruhig, schielte zu den Leuten um sich herum, besonders zu mir, und sandte, als er sich unbemerkt glaubte, geschickt einen Spuckstrahl hinter seinen gefalteten Händen unter die Bank.

Einen Augenblick später war er wieder ein Abbild der allvergessenden Andacht selbst, mit dem Blick starr auf dem Pfarrer und den Gedanken tief im Himmelreich. Doch nun war der Pfad der Sünde betreten. Von da an hörte ich alle paar Minuten das zischende Geräusch, das einen erneuten Verstoß verriet. Er hatte sich nun eindeutig selbst aufgegeben. Er war für immer verloren.

Der Pfarrer, ein jüngerer Mann, sprach weiter; und was er sagte, war nicht schlechter als das, was man in den Kirchen meistens zu hören bekommt. Vielleicht war es sogar besser und durchdachter, denn der Mann las es Wort für Wort von einem Bogen Papier ab. Währenddessen senkte sich sanft der Himmel über den Großteil der Versammlung. Die bärtigen Fischerköpfe wurden immer schwerer, die Augenlider blinzelten vor dem irdischen Licht. Bei anderen war die Ungeduld spürbar. Diesmal war niemand in die Kirche gegangen, um sein Konfirmationswissen aufzufrischen. Jeder war einzig und allein für die frohe Botschaft des 7. Junis gekommen. Doch in der Rede des Pfarrers war nicht die geringste Spur von dem, was alle Norweger in diesen Tagen beschäftigte. Sie war voller pflichtgemäßem Ach und Weh über diese gottlose Zeit, voller gesetzlich vorgeschriebener Verärgerung über die weltliche Eitelkeit, voll von dem ganzen betrübten, anständigen Katzenjammer, zu dem der Teufel die protestantische Kirche verführt hat und der den Gottesdienst meistens zu einer Hölle der Langeweile macht, wenn man nicht von einem lieben Engel ins Himmelreich des Schlafes gelockt wird.

Endlich hörte er auf. Es wurden ein paar Lieder gesungen – und im Nu waren alle wieder wach.

Von der vordersten Bank war eine Pfarrergestalt aufgestanden, ein großer, stämmiger, älterer Mann im Ornat. Das war der Propst13. Er war zugleich der Pfarrer dieser Gemeinde – der andere war nur der Kaplan14.

Er stellte sich in den Chor; und ob nun aus einem gemeinsamen Gedanken heraus oder auf eine Aufforderung des Propstes hin, die ich überhört hatte, erhob sich die ganze Gemeinde im selben Moment und blieb während der gesamten Verlesung stehen.

Dieser Auftritt verbreitete eine friedliche Feierlichkeit, die auch Fremde und Außenstehende mitreißen musste, und das obwohl die Verlesung des Propstes eintönig, nahezu trocken war. Vermutlich kannten die meisten Anwesenden die Verkündung des Parlaments schon Wort für Wort; doch so wie ein Kind im Auge des gemeinen Volkes nicht wirklich da ist, ehe es getauft wurde, oder ein Mann nicht wirklich tot, ehe der Pfarrer Erde auf ihn gestreut hat, so erhielt die erfolgte Scheidung für viele offenbar erst in diesem Augenblick ihre volle, unbestreitbare Gültigkeit.

Nach der Verlesung fügte der Propst nur wenige Worte hinzu:

"Gott bewahre unser Vaterland!"

Und die Feierlichkeit war vorbei.

Danach erfuhr ich, dass der Propst seinen Dienst bei diesem Anlass nicht mit voller Überzeugung geleistet hatte. Sein Name hatte sich in diesen Zeiten im Land herumgesprochen, weil er sich als einer der wenigen, ja, vielleicht als einziger Amtsträger gegen die Regierung gestellt hatte, indem er am Sonntag zuvor dem Befehl des Kirchenministeriums, künftig König und Königin in der Fürbitte auszulassen, nicht nachgekommen war. Außerdem hatte es das Gerücht gegeben, er wolle sein Mitwirken heute verweigern und von der Kanzel aus gegen den Umbruch protestieren. Im Dorf soll deswegen großer Aufruhr geherrscht haben.

Inzwischen war es ein Uhr, und ich musste mich beeilen, wieder an Bord zu kommen. Trotz Sturm und Kälte wollten wir noch weiter nach Norden – und diesmal ging die Fahrt über offene See, vorbei an den äußersten Vogelklippen, hinaus auf das Polarmeer selbst. Ein Schneeschauer zog über das Dorf, als wir den Anker lichteten. Aber die Schiffsleute trösteten uns. Sie versprachen ruhige See gegen Mitternacht, wenn wir das Nordkap passiert hätten.

V. Die Finnmark

Sollte Norwegen, wie so oft gesagt, wirklich das schönste Land der Welt sein, dann ist Lyngseidet vermutlich der herrlichste Fleck auf der Erde. Und ich bin der Ansicht, dass er das tatsächlich ist. Nur schwerlich kann man sich etwas Wunderbareres, Paradiesischeres vorstellen – falls man sich traut, diesen Ausdruck für eine Landschaft auf dem siebzigsten Breitengrad zu verwenden, die hauptsächlich aus Stein und Schnee besteht.

Wir hatten abends in der Bucht von Hornvika hinter dem Nordkap geankert. Sie ist berühmt für ihre reichen Fischbänke, und wir hielten die Angelschnüre bereit, um uns einen Stockfisch als Andenken mit nach Hause nehmen zu können. Der Sturm zwang uns aber, Schutz nahe der Küste zu suchen, wo man keinen Großdorsch mehr findet. Immer wieder jagten Schauer aus Schnee und Hagel über das Schiff, und man konnte sich kaum warmhalten. Selbst unsere Inder hatten die mitgebrachte Tropenwärme, die in ihren kleinen, schokoladenbraunen Gliedern gespeichert gewesen war, ein für alle Mal aufgebraucht – ja, da ihnen das Frieren offenbar vollkommen fremd war, wirkte sich die Kälte auf sie besonders schlimm aus. Wie kränkliche Affen saßen sie mit ihren langen, unkontrolliert klappernden Zähnen in Wolldecken gehüllt da.

Früh am Morgen lichteten wir den Anker und folgten der Küste nun weiter nach Süden. Hier fährt man ganz dicht an Norwegens größtem Vogelfelsen auf Hjelmsøya vorbei. Tausende kreischende Möwen, Alkenvögel und Lappentaucher umschwärmten das Schiff, und aus Tausenden wurden Millionen, als man einen Salutschuss in Richtung Klippe löste. Himmel und Meer wurden förmlich weiß gefärbt. Sah man nach oben, war es, als starrte man in einen unendlich großen Mückenschwarm. Dabei war die Klippe immer noch so belebt wie zuvor. Dort saßen die Jungtiere, die noch nicht flügge waren, flatterten mit den Flügeln und schrien wie die Wahnsinnigen.

Der Kapitän hatte für den Lauf des Tages gutes Wetter versprochen und hielt Wort. Als wir gegen Mittag das unruhige Loppmeer überquert hatten und auf den Lyngsfjord zusteuerten, kam der Wind wieder von Osten. Oder eher: Es gab überhaupt keinen spürbaren Wind mehr. Die Wellen hatten sich gelegt, das Meer war schwarz, und die Wolken hingen reglos und schwer über den Bergen.

Der Lyngsfjord! – Allein der Name lässt das Innere in eine solch feierliche Stille verfallen. Alles in allem entfaltet sich die norwegische Natur schließlich erst hier im hohen Norden in ihrer unvergleichlichen Gewalt und Schönheit. Wer Nordland nicht kennt, kennt Norwegen nicht. Unten in Sogn oder Sunnmøre, ja, selbst im Gebirge Jotunheimen kann man sich noch darüber streiten, inwieweit die Schweiz, Schottland oder ein anderes Bergland Norwegen den Rang ablaufen. Hier oben verstummt jeder Zweifel.

Von beiden Seiten gleiten die weißen Berge uns auf dem dunklen Wasser entgegen. Sie schlossen uns rasch mit steilen Klippen und gewaltigen Schneekämmen ein, die sich gen Himmel auftürmen und in den Wolken verschwinden. Hier haben wir die Welt der Lebenden endgültig verlassen. Dies ist das Reich der Toten. Nur noch Gestein, Schnee und windstilles Wasser.

Und kein Laut. Nicht einmal das Tosen eines Stroms, was einen sonst überall in Norwegen und der Schweiz in Einsamkeit begleitet. Das Schneefeld erstreckt sich an vielen Stellen bis zum Wasser, und durch die Bergkluften starrt man geradewegs auf den blassgrünen Gletscher, der dort mit seinen frostgesprengten Kanten hängt wie eine Reihe riesiger Orgelpfeifen.

Vor einer solchen Stelle ließ der Kapitän ein paar Mal die Dampfpfeife dröhnen. Im nächsten Augenblick bekamen die Steine um uns herum eine Stimme. Ein hundertfaches Echo erfüllte den Spalt wie ein johlender, schreiender Chor verdammter Geister. Und das Geräusch wurde von der Felswand zurück auf die andere Seite geworfen, wo es neue Stimmen hervorrief – klagende, seufzende. Zuletzt ertönte die Eisorgel. Noch lange nachdem die wilden, rauen Stimmen verstummt waren, schallte von hier ein ätherischer, langsam dahinsterbender Klang.

Vier bis fünf Stunden lang tuckerten wir durch die gleiche leblose Einöde. Ab und zu flatterte ein Seetaucher vom Wasser auf. Sonst war nichts Lebendiges zu sehen.

Vereinzelte Passagiere schienen Bedenken zu bekommen. Wo sollte das hinführen? Im Allgemeinen herrschte aber heitere Stimmung. Die Geselligkeit an Bord hatte aufgrund des ständigen und nahen Zusammenlebens das Stadium der Neugierde überschritten und die dritte, bleibende Phase zwischenmenschlicher Verhältnisse erreicht: die Eitelkeit. Mann und Frau, nach Gottes Bild geschaffen, sitzen auch auf dem siebzigsten Breitengrad hoch zu Ross. Die dumme Überlegenheit, mit der man zu Beginn der Reise auf Abstand gegangen war, war in das ebenso lächerliche Bestreben umgeschlagen, sich wichtig zu machen, ein Publikum zu bekommen, Beifall zu ernten. Ein kleiner, dicker Engländer, ein Fleischklops mit Sporthose und Schirmmütze, war stetig darauf bedacht, seine Figur mittels der Einnahme aller möglichen plastischen Stellungen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Ein anderer stolzierte summend umher, offenbar damit man seine prächtige Singstimme erahnte. Die junge Amerikanerin, anfangs noch eine so unermüdliche Fotografin, lag nun oft wie hingegossen in einem Korbstuhl, ganz unbeeindruckt von der Natur und allein damit beschäftigt, ihre schönen Füße zu präsentieren.

Eine gewisse unheimliche Aufmerksamkeit hatte einer der Inder geweckt, indem er als Wahrsager und Zauberer auftrat. Er war ein älterer Herr um die sechzig, ein Plantagenbesitzer aus Ceylon. Allein sein Aussehen konnte einen schon abergläubisch machen. Er war von kleiner, breithüftiger Gestalt, hatte unnatürlich kurze Beine, lange Arme und eine gebeugte Haltung. Sein halbkahler Kopf, der Form und Farbe einer Kokosnuss hatte, saß tief zwischen den Schultern. Ein Paar großer, dunkler Dromedaraugen erschien doppelt so groß, weil man sie durch stark geschliffene Brillengläser sah. Auch sein Gang war eigentümlich. Er ging auf den Fersen, vorsichtig und äußerst unsicher, als bewegte er sich normalerweise nicht auf diese Weise. Am Unterarm, der unter der Manschette hervorschaute, konnte man sehen, dass sein ganzer Körper behaart war. Wer mit ihm ins Gespräch kam, bestand darauf, seine Zauberkräfte seien phänomenal. Aus den Linien der rechten Hand eines Menschen las er dessen Geschichte von der Geburt bis zum Tod, und was man überprüfen konnte, soll auch verblüffend oft zugetroffen haben. So üben auch die Zigeuner – wie seinerzeit ihre jütländischen Nachkommen oder deren Frauen – ihre Weissagungskünste aus, was vielleicht ein weiterer Beweis für die Korrektheit der Annahme ist, dass dieses märchenhafte Vagabundenvolk ursprünglich aus Indien stammt.

Nun war das Wetter schön geworden. Die Wolken hatten sich verzogen, die Sonne begann zu scheinen. Wellenartig bahnte sich die Wärme ihren Weg durch die Schneeluft und lockte zu guter Letzt auch die Seekranken aufs Deck.

Darunter war ein junges, deutsch-jüdisches Ehepaar auf Hochzeitsreise. Er war ein gewöhnlicher, kleiner, abgeklärter Herr aus der Textilindustrie, sie schlank und schön, träumerisch blass wie Mondlicht, eine morgenländische Märchenprinzessin mit großen, mandelförmigen Augen, deren nächtliche Dunkelheit sich in den daumenlangen Wimpern fortsetzte. Eine hinreißende Gestalt, Frau in jeder Bewegung, von ihrem Geschlecht geprägt bis hin zu dem kleinen, diamantfunkelnden Ohrläppchen, das unter den dichten Locken hervorlugte.

Ihr selbst war nicht schlecht gewesen. Deshalb machte die sanfte Fürsorge, die sie ihrem Mann in ihrer Verliebtheit entgegenbrachte, einen noch rührenderen Eindruck. Dieser hatte seiner Gesichtsfarbe nach zu urteilen die nächtlichen Qualen noch lange nicht überwunden. Wie sie da so auf einer Bank unterhalb des Steuerrads saßen – er mit dem Kopf auf ihrer Schulter und mit einem Zipfel ihres Tuches bedeckt – bildeten sie eine lebende Illustration der Szene zwischen Titania und Zettel aus "Ein Sommernachtstraum".

Gegen fünf am Nachmittag passierten wir bei strahlendem Sonnenschein eine flache Landspitze, auf der wir einige Büsche und verkrüppelte Bäume entdeckten. Es war so lange her, dass wir zuletzt ein grünes Blatt oder bloß einen Grashalm gesehen hatten, dass der Anblick Jubel weckte. Noch größer wurden Erstaunen und Entzückung, als wir um die Zunge herum in ein weites, sommerlich blaues Gewässer mit idyllisch bewaldeten Küsten glitten, überragt von einem Kranz der tollsten Schneeberge, deren weiße Kämme vor dem blauen Himmel glitzerten.

Das war Lyngseidet.

Die stärksten Natureindrücke an fremden, fernen Orten stimmen wehmütig. Indem wir uns hinreißen lassen, werden wir zur Beute einer Vorahnung der Trauer, mit der wir uns irgendwann von hier werden trennen müssen, und der Sehnsucht, mit der wir immer hieran zurückdenken werden. Der überraschende Anblick dieser Oase in der sonnigen, verschneiten Berglandschaft und deren glasklares Spiegelbild im stillen, tiefen Wasser weckten eine solch schmerzliche Freude. Darin lag etwas Verzauberndes. Alle starrten. Und jegliches Geplauder war auf einen Schlag verstummt.

Das Schiff ankerte vor Holzhäusern und einer Kirche am Waldrand, woraufhin wir mit den Booten an Land gebracht wurden. Der gesamte Aufenthalt sollte bloß ein paar Stunden dauern, und von hier würde das Schiff auf direktem Weg zurück nach Tromsø und weiter nach Süden fahren. Doch meine Begleitung und ich beschlossen hierzubleiben. Wir brachten es nicht übers Herz, uns so schnell von diesem wunderbaren Ort loszureißen.

Nun ist eine solch kosmopolitische Reisegesellschaft auf Dauer etwas eintönig, besonders für den, der das Gegenteil eines Polyglotten15 ist. Zuletzt sehnt man sich dann doch nach einer anderen Unterhaltung als die der herkömmlichen Floskeln, und besonders spürt man zunehmend das Fehlen einer engeren Verbundenheit mit der Bevölkerung des eigenen Landes.

Nachdem wir uns beim gastlichen Kaufmann16 eine Unterkunft gesichert hatten, ließen wir unsere Koffer an Land bringen und verabschiedeten uns von den Mitreisenden, um das Abenteuer Richtung Heimat auf eigene Faust fortzusetzen. Von der Böschung winkten wir dem schönen, großen, weißen Schiff ein letztes Lebewohl. Letzten Endes sahen wir es dann doch mit einer Spur Beklommenheit hinter der Landspitze verschwinden.

 
[1] Bevor sich der Rollfilm verbreitete, wurden zumeist gläserne Platten als Träger für Fotoemulsionen verwendet. tilbage
[2] Im dänischen Original auf Deutsch. tilbage
[3] Vergnügungspark in Kopenhagen, eröffnet 1843. tilbage
[4] "Die errötende Braut der Sonne": Bezug auf Christian Winthers Gedicht "Vise" (dt. "Weise") in Digte, gamle og nye, 1832. tilbage
[5] 300 dänische Meilen entsprechen ca. 2260 Kilometern. tilbage
[6] Ca. 120 Quadratkilometer. tilbage
[7] Katastrophe: In der Nacht des 15. Januar 1905 rutschte ein hundert Meter langes Stück von dem 1500 Meter hohen Ramnefjell in den See Loenvatnet. Eine bis zu vierzig Meter hohe Flutwelle riss alle sechzig Häuser in Ytre Nesdal und Bødal mit sich. 62 Menschen kamen dabei ums Leben. tilbage
[8] 45 Grad: Das entspricht dem ungefähren Sonnenstand im Vestfjord (68. Breitengrad) um 12 Uhr zur Sommersonnenwende. tilbage
[9] Ca. 63cm. tilbage
[10] Kvenen: Volk finnischer Abstammung in Finnland, Norwegen und Schweden. tilbage
[11] Hierbei könnte es sich um eine Anspielung auf Hans Sophus Kaarsbergs Untersuchung "Nordens sidste nomade" (Dt. "Der letzte Nomade des Nordens") handeln, die 1897 erschien. tilbage
[12] Schornsteinrohr: ein hoher Hut. tilbage
[13] Propst: Name unbekannt. Im Kirchenbuch benennt er sich als Gemeindepfarrer. tilbage
[14] Kaplan: Der Stiftskaplan M. F. Thomter predigte im Hauptgottesdienst in der Kirche von Hammerfest am 18.06. und 02.07.1905. An einem dieser Sonntage muss Henrik Pontoppidan dort gewesen sein. (Ministerialbuch der Gemeinde Hammerfest 1898-1905, Tagesregister S. 260-61). tilbage
[15] Polyglott: Jemand, der viele Sprachen spricht. tilbage
[16] Kaufmann: Anton Gjæver (1846-1913). tilbage