Selbstgespräch

Ach ja, die ersten Provisorienjahre!1 Heute habe ich mich wieder an jene goldenen Tage erinnert, jene glückliche und fruchtbare Zeit, zu der auch ich meine Taufe auf den demokratischen Glauben empfing, dem ich – Gott und den Konservativen sei Dank – niemals abschwören werde.

Ich weiß noch genau, wie es geschah; wie ich begann, mich selbst voll und ganz als Liberaler zu verstehen.

Es war ein Tag am Ende des ersten Provisorienjahres oder vielleicht auch am Anfang des zweiten. Am Morgen – einem herrlichen Frühlingsmorgen – war ich mit einem Ranzen auf dem Rücken und einem Eichenstock in der Hand losgezogen, um die Sonne im Land willkommen zu heißen. Den ganzen Tag war ich durch Wald und Flur gestreift und stand schließlich gegen Abend – müde und durstig – auf einem Hügel, von dem aus ich mich in der weiten, flachen Landschaft vor mir orientieren wollte. Meine Augen suchten nach Kirchdörfern. Ich wusste, dass ich dort die größte Aussicht auf ein Gasthaus hätte, in dem ich übernachten könnte. Doch der einzige Kirchturm in Sicht lag weit weg am Horizont, gewiss einige Meilen entfernt.

Ich stieg von der Höhe und begab mich zu einem nahe gelegenen Haus, um nach dem Weg zur nächsten Herberge zu fragen. Es war klein, lag direkt am Weg und verriet sich durch seine Kletterstangen und eine Strickleiter als eine dieser kleinen privaten Freischulen2, auf die man in Gegenden mit einer aufgeklärten Bevölkerung hin und wieder stößt. In der Stube rechts vom Eingang hörte ich eine Frau ein Kind in den Schlaf singen; das Schulzimmer zur Linken war leer und still. Als ich an die Tür klopfte, verstummte der Gesang. Ich hörte ein zögerndes "Herein."

In einem Lehnstuhl am Kachelofen saß eine dunkelhaarige Mutter von etwa dreißig Jahren, breitschultrig und starkknochig, aber mit dem etwas bleichen und eingefallenen Gesicht, das oft vom vielen Stillen kommt. Eine Korbwiege mit einem einjährigen Kind stand vor ihr. Unter dem Fenster lagen ein paar weitere Kinder auf dem Boden und schnitten Puppen aus Papier aus.

Ich weiß nicht, wie es kam, doch trotz der rotbackigen und zufrieden aussehenden Kinder schlug mir aus der kleinen Stube eine seltsam ernste Stimmung entgegen. Sofort bekam ich dieses Gefühl, das einen auf unerklärliche Weise immer dort ergreift, wo Trauer herrscht. Beim Anblick des schwarzen Kleides der Mutter kam mir der Gedanke, dass hier unlängst der Tod zu Gast gewesen sein musste.

"Ist Ihr Mann zu Hause?", fragte ich, nachdem ich gegrüßt hatte.

Sie sah mich lange misstrauisch und feindselig an, bevor sie antwortete.

"Nein", sagte sie dann.

Obwohl die Antwort recht abweisend klang, fiel mir ein, dass ich, falls der Weg bis zum nächsten Gasthaus zu weit wäre, vielleicht ja hier übernachten dürfte, was mir wesentlich lieber wäre, als beim nächstbesten Bauern einquartiert zu werden, weil hier alles so sauber und ordentlich aussah. Ich wusste, dass Freischulleute den Ruf genossen, gastfreundlich zu sein, und im Notfall könnte ich ja auf einer der Bänke im Schulzimmer schlafen.

"Wenn ich fragen darf – erwarten Sie Ihren Mann bald?", fragte ich deshalb.

"Nein."

"Erwarten Sie ihn vielleicht heute Abend gar nicht?"

"Nein."

Ihre kurzen Antworten wirkten derart scharf und bissig, dass ich unwillkürlich stutzen musste. Mein vielleicht etwas aufdringliches, aber ansonsten vollkommen respektvolles Auftreten schien mir kein gebührender Grund für einen so herausfordernden Ton. Vermutlich hatte sie mir meine Beleidigung angesehen und daher selbst einen Anlass gefunden, sich zu erklären, denn plötzlich sagte sie, ohne dass ich weiter nachgefragt hatte:

"Mein Mann sitzt im Gefängnis."

Die Worte waren für mich wie ein Stich ins Herz. Wie von selbst schweifte mein Blick durch die saubere und freundliche kleine Stube. Nicht im Geringsten hatte ich das Gefühl, mich im Haus eines Verbrechers zu befinden. Dann erinnerte ich mich jedoch, in den Zeitungen vor einiger Zeit von der Festnahme eines Freischullehrers gelesen zu haben, dem Mitschuld am Aufkommen der äußerst friedlich gesinnten, aber bei den argwöhnischen Machthabern unbeliebten Riffelbewegung3 vorgeworfen wurde. Ich hatte darüber gelesen, wie ich damals beim Mittagessen auch über so viele andere Fälle von brutaler Unterdrückung las, ohne mich davon stören zu lassen. Hier stand ich nun zum ersten Mal einer dieser nicht erfundenen Tatsachen gegenüber, Angesicht zu Angesicht mit einem wirklichen Opfer dieses Niederschlagungswahns, dieser durch schlechtes Gewissen hervorgerufenen Nervosität, die die Regierung ergriffen hatte.

Ich stellte mich mit Namen und Herkunft vor, und da sich herausstellte, dass sie von meiner Familie bereits gehört hatte, bat sie mich Platz zu nehmen und bot mir etwas zu trinken an. Ich nahm die Einladung dankend an, und während sie nun zwischen dem Tisch und einem großen Eckschrank hin und her ging, um Gläser und eine Flasche Bier sowie ein paar Tassen für den unvermeidlichen Kaffee zu holen, schilderte sie in Ruhe alles, was passiert war.

Eines Vormittags – so erzählte sie – als ihr Mann gerade mit den Schulkindern gelernt hatte, hielt ein geschlossener Landauer vor ihrem Haus, und es stiegen ein Herr im Pelz sowie zwei weitere Männer aus, die sich als ein sogenannter fahrender Richter und seine Handlanger, zwei zivile Polizeibeamte, herausstellten. Ohne Umschweife erklärte der Richter ihren Mann für verhaftet und schritt dann, ungeachtet dessen Protests, zu einer umfassenden Hausdurchsuchung weiter. Weil er seine Schlüssel nicht freiwillig ausliefern wollte, wurden all seine Fächer aufgebrochen, all seine Unterlagen durchsucht, all seine Briefe gelesen, um in Kenntnis zu bringen, wer seine "Mittäter" waren. Nicht einmal ein kleines, mit einem roten Seidenband zusammengebundenes Päckchen zärtlicher, vertraulicher Briefe, die Mann und Frau einander zur Zeit ihrer Verlobung geschrieben hatten, wurde von einer gründlichen Untersuchung verschont, obgleich sie beide darum flehten und mit ihrer Ehre dafür einstanden, dass die Briefe nicht das Geringste enthielten, das Aufschluss über die Sache geben könnte, wegen der die Männer gekommen waren. Der Herr im Pelz grinste bloß und las nur mit noch gesteigerter Aufmerksamkeit.

Doch das, was ihnen am meisten zu Herzen ging und die ansonsten so ruhige Frau schließlich doch vor Hass erzittern ließ, war die Art, wie diese drei Diener des Gesetzes und der Gerechtigkeit mit einigen Spielsachen und alten Streichholzschachteln voller bemalter Kieselsteine umgegangen waren; Andenken an ihren kleinen Sohn, der im Jahr zuvor an Diphtherie gestorben war. Sie hatten in jener Schublade im Schreibtisch des Vaters gelegen, die das Kind damals wegen seines ungewöhnlichen Ordnungssinnes für seine Kleinigkeiten hatte benutzen dürfen, und sie lagen dort genau so, wie der Junge sie am Tag vor dem Ausbruch seiner Krankheit sorgfältig arrangiert hatte. Diese Schublade war den Eltern heilig, und als sie sahen, dass die Beamten Anstalten machten, darin herumzuwühlen, warfen sie sich dazwischen und baten inständig darum, sie unberührt zu lassen. Gerade das vergrößerte das Misstrauen der Herren jedoch nur noch, und sie leerten den Inhalt der Schublade auf dem Boden aus.

"Und jetzt sitzt mein Mann im Gefängnis", schloss sie ihren Bericht. "Und da ist er nun seit bald drei Monaten."

"Aber er wird ja sicher freigesprochen und bekommt dann eine Haftentschädigung", erwiderte ich eifrig; beim letzten Teil ihrer Erzählung war ich unwillkürlich aufgesprungen. "Das Ganze muss doch auf einem Missverständnis beruhen."

"Missverständnis? … Er ist verurteilt. Er sitzt jetzt gerade seine Strafe ab."

"Ist das wahr?"

– – – – – –

Als ich wenig später das Haus verließ und mich wieder auf den Weg machte, kam es mir vor, als hätte sich die sonnenbeschienene Landschaft verwandelt. Sie schien nicht mehr zu lächeln; ihr Ausdruck war dunkel und voller Sorge. Und das hat sich seither nicht mehr geändert.

H. P.

 
[1] Als Provisorienzeit (da. provisorietiden) werden die Jahre 1885-1894 bezeichnet, in denen der konservative (der Partei Højre angehörige) Ratspräsident (heute Premierminister) und Finanzminister J.B.S. Estrup "provisorische" Haushaltsgesetze gegen die Stimmen der Mehrheit des Parlaments (Venstre) erließ. Mitglieder und Unterstützer der Venstre verurteilten diese Alleingänge als verfassungswidrig. In der Folge kam es landesweit zu Ausschreitungen und Festnahmen; auch Henrik Pontoppidans Bruder Morten musste wegen seiner Kritik an der Regierung für drei Monate ins Gefängnis. Estrup trat 1894 zurück, nachdem Højre und Venstre gemeinsam das jährliche Haushaltsgesetz erarbeitet und erlassen hatten. tilbage
[2] Das dänische "Freischulgesetz" von 1855 ersetzte die bis dahin bestehende staatliche Schulpflicht für Kinder durch eine Unterrichtspflicht und ermöglichte so den Betrieb von Privatschulen. Die Pädagogik dieser "Freischulen" beruhte meist auf den Konzepten von N.F.S. Grundtvig (1783-1872) und Christen Kold (1816-1870). tilbage
[3] da. riffelbevægelse, wörtlich "Gewehrsbewegung". Militante Strömung innerhalb der oppositionellen Partei Venstre; 1885 verboten. tilbage