Selbstgespräch

Montag.

Wie wenig wir doch über uns selbst und unseren Nächsten wissen, allgemein über den Mechanismus, den wir Mensch nennen! Während wir die ausladenden Bahnen der Himmelskörper genau zu bestimmen vermögen, auf die Sekunde angeben können, wann Licht und Schatten auf den entferntesten Planeten wechseln, hat noch niemand die Gesetze für das doch sicher ebenso geregelte Wirken des Menschengeistes gefunden ergründet, für die Stimmungswechsel, für die Höhen und Tiefen der Veranlagungen, für die plötzlichen Störungen, die scheinbar ohne Ursache die Maschinerie aus dem Gleichgewicht bringen und wie eine Erbse in einer Bornholmer Uhr den Lauf ins Stocken oder ganz zum Stehen bringen.

Ich komme gerade von einer Abendgesellschaft. Mir schräg gegenüber saß ein jüngerer, großer und fetter Herr, der während der gesamten Mahlzeit außerordentlich eloquent war. Ich hörte ihn mit seiner Tischdame über alle Fragen konversieren, die im Augenblick auf der Tagesordnung stehen, über die Affären der Griechen, über König Georgs weltgeschichtliche Mission, über die neuesten Theaterstücke und den möglichen Abgang des Reedtz-Thott Kabinetts1. Sein Mund stand nicht eine Minute still. Mit der Serviette unterm Kinn fesselte er nach und nach auch die Aufmerksamkeit der Ringsumher- und Gegenübersitzenden durch den Wortreichtum und die Überlegenheit, mit denen er jedwedes Thema behandelte, das zur Sprache kam. Er war wirklich ein vollendetes Konversationstalent.

Als er nun gerade dabei ist, seine Auffassung über die Haltung der Großmächte und die Lage Europas darzulegen, erhebt sich am Tischende der Gastgeber und bringt einen Trinkspruch auf ihn aus, indem er ihn anlässlich seines Antritts als achter Direktor in einer neu gegründeten Aktiengesellschaft beglückwünscht. Auf diesen Trinkspruch muss natürlich geantwortet werden. Kurz darauf schlägt deshalb auch er an sein Glas, tupft sich mit der Serviette den Mund ab, und während sich alle Blicke erwartungsvoll auf ihn richten, erhebt er sich langsam. Aber mit dieser kleinen Veränderung von der sitzenden zur stehenden Position wird er plötzlich ein ganz anderer Mensch.

Was ist geschehen? Wie er dort mit dem Glas in seiner nervös zitternden Hand steht, kommt lange kein einziges Wort über seine Lippen. Er stockt und stammelt, sucht nach den gewöhnlichsten Ausdrücken, wird abwechselnd rot und bleich… es ist, als sei ihm die Gabe der Redegewandtheit mit einem Mal gestohlen worden. Und dass es sich dabei nicht um eine zufällige Indisposition handelt, die ihn nur kurz überkommen hat, offenbart seine kleine magere Frau, die ausgerechnet zu meiner Linken sitzt, und die ebenfalls plötzlich von einer Nervosität ergriffen wird, sodass ich förmlich spüren kann, wie der Stuhl unter ihr wackelt. Die Situation sieht einen Moment lang wirklich genauso gefährlich aus wie jene europäische, die er eben noch so überlegen beschrieben hat. Endlich schafft er es doch die notwendigen Phrasen hervorzustammeln, und mit schweißbedeckter Stirn sinkt er zurück auf seinen Stuhl. Einen Augenblick später ist er wieder voll auf seiner Höhe.

Was war das? Was war das für eine Lähmung, die die sonst so flinke und ungenierte Zunge dieses Mannes plötzlich fesselte? Was ließ seine Gedanken so erstarren, dass für einen Augenblick das Schloss zu seinem reichen Wortschatz verschlossen war?

Ich zweifle nicht daran, dass die Psychologen, wenn ich sie um Rat fragen würde, sofort zehn ellenlange Antworten parat hätten. Falls ich mich um der Frage willen in die Seelenwissenschaft unserer Zeit vertiefen würde, so wie sie von dichterischen Philosophen und philosophischen Dichtern vertreten wird, würde ich gewiss sehr klug werden und eine erschreckende Menge zu hören bekommen, ausgenommen genau das, was ich wissen will. An Stelle einer kurzen und bündigen Antwort, die einzige die mich interessiert, weil nur diese überhaupt eine Antwort ist, würde man sehr subtil und mystisch über die Reflexbewegungen des Inneren faseln, über das sogenannte unbewusste Seelenleben, über die gegebenen Gemütsrührungen usw. Statt Licht in die Sache zu bringen, würde man mich dunkle Gänge hinunter zur "Schwelle des Bewusstseins" führen und hier vor mir mit der geheimnisschweren Miene eines Hexenmeisters den Abgrund der Dunkelheit aufdecken, wo sich halbschlummernde Gefühle und unausgereifte Gedanken übereinander in der Tiefe wälzen; und ich wäre schließlich so verängstigt, mir wäre so unbehaglich zumute und ich empfände künftig mein Inneres als einen solch grausigen Gespensterkeller, dass ich besser den Himmel bitten sollte mich davor zu bewahren, zu häufig eine derart unbesonnene Frage zu stellen.

Nein, die Philosophen werde ich nie mehr um Rat fragen! Ich habe das ein paar Mal gemacht, aber jedes Mal fühlte ich mich wie jener Knabe Søren, der in den Holzschuppen ging um ein Hölzchen zu schnitzen, dass er unter ein wackelndes Tischbein legen wollte, aber beim Herausziehen eines Holzscheits der ganze Stapel auf ihn stürzte und er ein Krüppel für den Rest seines Lebens ward.

Denn wenn es wahr ist, dass wir noch immer nur wenig über uns selbst und unser Leben wissen, dann ist es umso mehr wahr, dass man auch zu viel Aufhebens um des Daseins Unergründlichkeit machen kann. Zwischen Himmel und Erde der Philosophie gibt es sicherlich weit mehr, als sich Gott jemals erträumt hat.

H. P.

 
[1] Reedtz-Thott Kabinett: baron Reedtz-Thott war dän. Ministerpräsident bis auf 23.5.1897. tilbage