Eine Erinnerung aus der Heide
Ich spazierte gerade aus Viborg, wo ich den alten Granitdom besichtigt und mir die von Würmern zerfressenen Zähne des ermordeten Erik Glipping angesehen hatte, die zusammen mit ein paar anderer seiner Hinterlassenschaften in der Kirche aufbewahrt werden, und war nun auf Wanderung in Richtung Süden – ein frischer Sommermorgen mit Aussicht auf einen klaren Tag mit stiller Wärme.
Ich kam an einer Plantage vorbei, lief durch eine teils mit Heidekraut, teils mit Gras bekleidete Hügellandschaft, durch die Überbleibsel eines alten Eichenwalds, und blieb zuletzt inmitten des kleinen Paradieses rund um den Hald Sø1 stehen, der den idyllischen Eingang zu den dunklen und goldenen Ebenen der Heide formt.
Alles war still. Kein Lüftchen war zu spüren. Der See schien zu schlummern, und in der vor Wärme flimmernden Luft sahen Hügel und Wälder aus, als würden sie hinter einem feinen Schleier aus Gold liegen. Ab und zu zog eine Wildente schnatternd über den Wasserspiegel und verkroch sich wieder im Schatten der Böschung.
Es war schon spät am Tag, als ich Grønhøj erreichte – einer der melancholischsten Flecken in der trüben Alhede – wohin die dänische Regierung vor gut einem Jahrhundert zweihundertfünfundsechzig schwäbische Familien – Männer, Frauen und Kinder – gelockt hatte, um die Erschließung der Heide zu fördern.
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Die Nachkommen dieser Kolonisten – die sogenannten "Kartoffeldeutschen" – leben hier immer noch in dem kleinen Dorf Frederikshøj, aber obwohl sie lange Zeit völlig isoliert waren und noch bis ins Jahr 1870 in der Dorfkirche auf Deutsch gepredigt wurde, ist jede ihrer fremden Eigenheiten so gut wie verschwunden.
Es ist eigenartig, wie die heutige Generation diese fremde Herkunft nun als Scham empfindet und versucht, sie so gut wie möglich zu verbergen. Die deutsche Sprache ist unter der Bevölkerung nicht mehr zu hören und nicht einmal ihr Dialekt verrät sie.
Nur die Allerältesten können insgeheim noch die alten schwäbischen Lieder summen und ein Gebet in dem bald gänzlich in Vergessenheit geratenen deutschen Gebetsbuch lesen.
Da es mich interessierte, in welchem Ausmaß die Erinnerungen aus dem Mutterland noch bewahrt wurden, fragte ich einen Mann, den ich im Wirtshaus traf, wo denn der älteste Mensch im Dorf wohne.
Man verwies mich auf einen Hof am Ortsrand und dort fand ich dann auch, in einer Bettnische liegend, eine arme alte Mumie, ein Frauenzimmer, dessen erstarrtes Gesicht vor Alter ganz gelb war und das mit großen, kohlrabenschwarzen Augen und dem unheimlich toten und leeren Blick der Halbblindheit vor sich hinstarrte.2
Am Fenster erhob sich ein älterer breitschultriger Bauer3 von der Truhe, auf der er Mittagsschlaf gehalten hatte. Er sah mich etwas verlegen an, befragte mich zu meinem Namen, meiner Herkunft und noch mehr, und bat mich zuletzt, Platz zu nehmen.
Wir kamen bald über allerhand unbedeutende Dinge ins Gespräch.
Währenddessen lag die Alte – die Mutter des Bauern – da und starrte mich aus dem Halbdunkel des verhangenen Betts mit einem äußerst unfreundlichen, beinahe hasserfüllten Blick an. Es war unverkennbar, dass sie Fremde nicht leiden konnte und im Stillen herzliche Flüche auf mich herabregnen ließ.
Aber als ich daraufhin zu ihr ging und mich auf Deutsch nach ihrem Wohlbefinden erkundigte, kam eine merkwürdige und entzückende Veränderung über ihr Gesicht. Die erstarrten Züge wurden mit einem Mal lebendig; die dunklen, trüben Augen begannen förmlich zu leuchten … Ein verklärtes Lächeln glitt über ihre dünnen, blutleeren Lippen; sie versuchte sogar, sich mit den Ellenbogen aufzustützen, und da sie zu alt zum Reden war und nur noch schwach lispeln konnte, nickte sie bloß weiter, während sie mich mit einer Dankbarkeit anblickte, die mir noch lange im Gedächtnis blieb.
Am Fenster war der Bauer rot angelaufen und schaute verlegen auf einen seiner Holzschuhe hinab.