Das Adlernest

Über einer kleinen Stadt hing ein hoher, karger Berg, der auf allen Seiten so steil in den blauen Himmel ragte, dass sich noch niemand der kahlen Spitze hatte nähern können. Auf dieser Spitze hatte eine Adlerfamilie ihr Nest gebaut, – und über diese Adlerfamilie hat Bjørnstjerne Bjørnson eine kurze Geschichte geschrieben, die ich jedoch auf eine etwas andere Weise gehört habe und daher hier erzählen werde.

Also: Auf diesem Berggipfel hatte eine Adlerfamilie ihr Nest gebaut und seit Menschengedenken war das große, braune Adlerpaar ein Schrecken für die gesamte Umgebung gewesen. Mal schnellten sie auf Ziegen und Schafe nieder, die friedlich auf der Heide grasten, mal hackten sie die Augen der Hirten aus, wenn diese versuchten, mit ihren Stöcken ihre Herden zu verteidigen; ja, manchmal passierte es, dass sie sich auf die Kinder hinabstürzten, die in der Kirchstraße spielten, und sie mit sich hoch über die Berge trugen, um sie dort fallen zu lassen, sodass sie auf den spitzen Klippen zerschellten.

Seit jeher war es der stolze Traum aller gesunden jungen Männer gewesen, hoch zu dem Nest zu kommen, um das königliche Räuberpack zu verjagen und dem Dorf Frieden zu bringen. Von Kindesbeinen an übten sie, die Klippen auf und ab zu klettern, und fast nirgendwo sonst fand man daher so kühne und stolze Burschen wie hier. Meist waren sie nicht einmal zwanzig, wenn sie die Reise hoch auf den Adlerberg wagten; da keiner als richtiger Mann galt oder von den Mädchen ins Bett gelassen wurde, bis er bei einem Kampf mit dem Erzfeind seine Männlichkeit bewiesen hatte.

Das Adlernest erreichten sie jedoch nie. Manche kamen nicht weiter als bis zum ersten Vorsprung in der Felswand, bevor ihnen schwindelig wurde beim Anblick des spitzen Kirchturms im Dorf, der direkt unter ihnen wie ein Speer aufragte. Andere schafften es mit Glück zum zweiten Ruheplatz, etwa auf halbem Wege zum Gipfel: Aber wenn sie von hier aus weiter nach oben kriechen wollten, verloren sie den Halt in dem spröden Schiefer – mit ansteigender Geschwindigkeit rollten sie den Berg herunter und näherten sich der Erde mit gebrochenen Gliedern und aufgeplatztem Kopf. Ein einzelner hatte einmal den dritten Vorsprung erreicht; aber hier war er plötzlich hintenüber gekippt, als ob ihn eine unsichtbare Hand vor die Brust gestoßen hätte. Mit einem Schrei fiel er ein Stück durch die Luft wie ein angeschossener Vogel, wurde dann von Fels zu Fels geworfen, bis er in drei Stücken in das Dorf rollte.

In diesen Tagen trug es sich zu, dass ein neuer Pfarrer in die Gemeinde kam, und als dieser von dem wahnsinnigen Kampf der Bevölkerung mit den Adlern erfuhr, begann er empört, sich von der Kanzel über dieses anmaßende Spiel mit Leben und Tod aufzuregen. Das sei – rief er – Gott zu versuchen, der in seiner Weisheit den Menschen Grenzen gesetzt habe, die niemand ungestraft überschreiten dürfe. Und während er in Richtung des Adlernests zeigte, fügte er hinzu, dass dieses von Gott dort für die Gemeinde platziert worden sei als ein Symbol für all das, was dem menschlichen Streben spottet.

"Denn es ist gut, wenn doch etwas so hoch hängt, dass kein Mensch es erreichen kann!"

Unter den Älteren in der Gemeinde fiel die Rede des Pfarrers auf fruchtbaren Boden. Denn es ließ sich kaum ein Haus im Dorf finden, in das kein Sohn als Krüppel vom Berg heimgebracht wurde oder wo keine alten Leute über den Verlust von Trost und Heil im Alter weinten. Aber bei der Jugend traf die Rede des Pfarrers auf taube Ohren. Es war, als ob der hohe Gipfel sie mit einer unwiderstehlichen Macht anzog, und es dauerte dann auch nicht länger als bis zum nächsten Sonntag, bevor gemunkelt wurde, dass ein achtzehnjähriger Bursche, der einzige Sohn einer armen Witwe, die Reise auf den Berg wagen wollte.

In der Kirchstraße sammelten sich zu der vereinbarten Zeit alle Dorfbewohner in murmelnden Grüppchen, während sie hin und wieder einen Blick durch den Sonnendunst auf die graue Bergwand warfen, wo der Sohn der Witwe bereits auf dem Weg war, schon weit über den ersten Vorsprung hinweg. Auf diesem hatte er sich nicht einmal Zeit gegönnt, um sich auszuruhen, sondern hatte bloß die Mütze geschwungen und der Mutter einen Gruß zugerufen, die mit offenem Haar am Fuße des Berges kniete und ihm unter Schluchzen und Gebet verzweifelt die Arme entgegen streckte … Auch den zweiten Vorsprung erreichte er spielend. Hier aber setzte er sich und trocknete sich den Schweiß von der Stirn, während er mit dem Blick den Abstand über sich abmaß.

Unter der versammelten Menge richteten sich alle Augen auf ihn, als er kurz danach wieder aufstand, seinen Gürtel spannte und langsam begann, auf Händen und Füßen weiter zu kriechen, wie eine Katze. Denn der Berg war hier steil und der Stein vom Winterfrost brüchig geworden. Mehrmals rutschte er aus, und zahlreiche ältere Männer schüttelten bereits den Kopf und schielten bedeutungsvoll zur Mutter hinüber, die in einer Gruppe Frauen nahe der Bergwand in Ohnmacht gefallen war.

"Das geht doch nicht gut", – murmelten sie und entfernten sich ein wenig. – "Er ist zu jung!"

"Und zu ungestüm!", fügten andere hinzu.

Aber auf einem kleinen Hügel stand ein junges Mädchen allein in einem roten Kleid, mit blondem, geflochtenem Haar und mit den Händen hinter dem Rücken verschränkt. Viele ältere Frauen, die an ihr vorbei gingen, sahen mit einem dunklen und drohenden Blick zu ihr auf. Denn das war die Verlobte des Sohns der Witwe, und alle wussten, dass sie es gewesen war, die nach altem Brauch diesen Beweis für seinen Mut und seine Männlichkeit gefordert hatte. Sie selbst war unberührt von der Unruhe und Missstimmung um sie herum, und lächelnd folgte sie mit dem Blick ihrem Freund, der dort oben zwischen Himmel und Erde hing – in ihrem schönen, jungen Gesicht lag der stärkste Glaube, dass er weiter kommen würde, dass genau ihr Freund das schaffen würde, was noch nie jemand vermocht hatte.

Auf einmal entwich der Versammlung ein verwundertes Rufen. Indem er hastig ein Stück im Zickzack an der Bergseite hinauf gekrochen war, hatte der Bursche den dritten und höchsten Vorsprung erreicht. Aber sie dachten auch, dass damit seine Kräfte erschöpft sein müssten. Obwohl er nicht viel größer aussah als eine Fliege, konnte man deutlich erkennen, wie sein Körper schwer auf den schmalen Steinrand sank.

Ein Mann mit einem langen Fernglas, um den viele Menschen versammelt waren, schüttelte den Kopf und sagte:

"Da kommt er nicht mehr lebend runter … Er ist kreidebleich und hat blutige Hände."

Kurz darauf verstummten alle. Er hatte sich dort oben wieder aufgerichtet, und der Mann mit dem Fernglas konnte sehen, wie er sich den Gürtel wieder fester um den Körper zurrte, während er zur nackten, glatten Steinwand aufblickte, die sich senkrecht bis zu dem Adlernest auf dem Gipfel zu erheben schien. So sah man ihn vorsichtig Halt für Hand und Fuß suchen … dann fuhr ein Schauder durch die Menge … er kletterte wirklich weiter!

Plötzlich lösten sich einige Steine unter ihm und er rollte den Berg hinunter.

Jetzt fällt er!, dachten alle – und mehrere riefen es in ihrer Aufregung laut aus.

Aber er hatte schnell beide Hände in eine Spalte bekommen und hing so, bis er wieder eine Stütze für den Fuß gefunden hatte. Dann kroch er langsam und vorsichtig weiter …

Es vergingen wohl ein paar Minuten, in denen die Menge auf der Wiese stand und ratlos hoch schaute, da der Schatten vom Gipfel ihn einen Augenblick lang verdeckte. War er vielleicht doch abgestürzt? … Dann erhob sich plötzlich ein hundertstimmiges Rufen, als man seinen Oberkörper über die oberste Felskante aufsteigen sah, deutlich abgezeichnet gegen den hellblauen Himmel.

Im selben Augenblick flog das Adlerpaar ruhig durch die Luft – aber schnell bekam der Bursche einen von den Neststöcken zu fassen, und mit einem Ruck stürzten Nest und Eier den Berg hinunter. Genau über dem Gipfel stoppte das Adlerpaar seinen Flug wie in stummem Schrecken. Dann stießen sie beide auf einmal einen gellenden Schrei aus – und flohen mit langen Flügelschlägen über die Weiten.

Aber unten auf der Wiese brach ein solcher Jubel aus, wie man ihn schon lange nicht mehr gehört hatte. Nur der Pfarrer schlich leise davon und "verstand es nicht".

Denn es hängt nichts so hoch oben, dass der zähe, gebündelte Wille der Menschen es nicht eines Tages erreichen würde!