Theaterbrief

Berlin, den 30. November 1890.

"Damals, als ich ein ganz junger Mensch war" – sagte einmal ein Mann – "liebte ich nichts mehr, als ins Theater zu gehen. Oft aß ich nur ein trockenes Weißbrot oder ein Stück Mille-feuille1 zu Mittag, um genug Geld für eine Theaterkarte zusammensparen zu können. Hunderte Male wanderte meine Silberuhr zum Pfandleiher, wenn wieder eine Ankündigung auf dem Plakat prangte, und mein einziges Vatererbe, eine kleine Meerschaumpfeife mit Silberbeschlag, verkaufte ich zuletzt im Theaterhunger für ein Parterre-Billett. Ich beneidete die Statisten, ja selbst die Kartenabreißer und die Garderobièren, die jeden Tag in den heiligen Hallen verkehren konnten, und ich brannte mit Sehnsucht nach der Zeit, wenn ich – genau wie mein reicher Vetter Kristian – es mir würde leisten können, mich jeden Abend auf dem Samt des Parketts von dem Streit und der Mühe des Tages wegzuträumen. Aber als diese Zeit kam – denn sie kam wirklich – war es plötzlich, als ob mich die Lust verließ, als ob die magische Zauberkraft des Theaters verschwand. Obwohl ich eigentlich überhaupt kein unpoetisches Gemüt habe, sondern mit großem Interesse allem im Bereich der Literatur und Kunst beiwohne, tausche ich nun, offen gesagt, höchst ungern meine eigene Chaiselongue gegen die Lehnstühle im Parkett. Dort überfällt mich sofort eine verwunderliche Schläfrigkeit: So stark die Leidenschaften auf der Bühne auch lärmen und schluchzen, es kostet mich Anstrengung, meine Augen offenzuhalten und ich leugne nicht, dass ich es vorziehen würde, neben meinem Freund Emil Poulsen2 bei einem bürgerlichen Glas Bier zu sitzen oder zusammen mit Frau Eckardt3eine Partie Whist beim Großhändler Møller zu spielen, anstatt sie auf den Dielen als Prinz von Illyrien4 oder Königin von Saba herumstolzieren zu sehen.

Oft habe ich an die Worte jenes erfahrenen Mannes denken müssen; und sie sind mir ein Trost gewesen, wenn ich zuweilen befand, dass man sich gewiss eine bessere Erheiterung denken könnte, als die, die man in unseren Kopenhagener Theatern geboten bekommt. Und unwillkürlich habe ich gedacht: Was kann wohl der Grund für diese Gleichgültigkeit sein, die heute gewiss die meisten gegenüber heimischen Theatergenüssen empfinden, wenn sie älter werden? Es liegt doch sicher nicht am mangelnden Talent unserer Schauspieler. Weit gefehlt! Auch die Inszenierung, das Zusammenspiel usw. werden sicher im Allgemeinen angemessenen künstlerischen Anforderungen gerecht. Ob wir unsere Schauspieler wohl zu gut kennen? Haben wir sie schon so oft gesehen, dass sie es nicht mehr vermögen, uns zu überraschen? Wir kennen ihre Interpretation schon im Vorhinein; wir sind so vertraut mit ihrer Darstellung – ihrem Mienenspiel, ihren Bewegungen, ihrer Stimme, sogar bis zum schwächsten Tonfall – dass ihre Kunst für uns nicht mehr länger etwas anderes ist, als ihre Manier. Wir haben sozusagen von Kindsbeinen an dieselben zehn bis zwölf Schauspieler und Schauspielerinnen gesehen, um die sich das gesamte Kopenhagener Theaterinteresse dreht; wir treffen sie täglich auf den Straßen und in den Gassen, und wir kennen all ihre Verhältnisse so genau, dass sie, ganz gleich wie sehr sie sich auch im Theater maskieren, für uns Herr Poulsen, Herr Zangenberg5, Frau Eckhardt usw. bleiben. Es fällt uns nicht ein, dass das mit dem Prinzen von Illyrien oder der Königin von Saba ernst gemeint sein soll. Selbst wenn sie am Abend im Trikot6 oder orientalischem Gewand über die Bühne schreiten, sind sie immer noch dieselben Personen, die wir tagsüber im Café sahen oder die mit uns in der Straßenbahn auf dem Gammel Kongevej7 fuhren.

Und schließlich haben wir entdeckt, dass wir damit eigentlich ganz gut bedient sind, unsere lieben, bekannten Schauspieler außerhalb des Theaters anzutreffen, im Café oder in der Straßenbahn. Oder ist Olaf Poulsen8 zum Beispiel jemals göttlicher, als wenn man ihn zur Mittagszeit an einer Ecke des Kongens Nytorv9 stehen sieht, gestützt auf einen Stock, mit leicht gekreuzten Beinen, einen grauen Zylinder, etwas schief auf dem Kopf und einem Zigarrenstumpf im Mundwinkel, zufrieden lächelnd über sein ganzes charakteristisches Antlitz, in dem sich eine strahlende Genialität und eine gewisse Schuhmacher-Verschmitztheit so wunderbar miteinander vermischen? Spielt Frau Hennings10 besser Komödie, als wenn sie, elegant in eine Droschkenecke gefläzt, im Sonnenlicht Routen11 durchfährt? Oder ist Frau Poul Nielsen12 je hübscher oder einnehmender, als wenn sie am Vormittag mit sicheren, langsamen Schritten in einem kleinen, koketten Jackett dunkelblauen Samtes durch die Bredgade wandert – lächelnd, gewissermaßen sanft mitleidig, bei den vielen verliebten Blicken, die sich von den Männern auf der anderen Straßenseite zu ihr hinüber stehlen?

Aber wenn man unsere Schauspieler somit jeden Tag in ihren allerbesten Rollen auf den Straßen und in den Gassen zu sehen bekommen kann – warum sollte man sich dann am Abend noch in ein Theater bemühen, um sie auf Bühnen zu sehen, die sie augenscheinlich weitaus weniger interessieren?

Es wurde vor einiger Zeit in verschiedenen Kopenhagener Zeitungen vorgeschlagen, dass die Schauspieler des Königlichen Theaters zu gewissen Zeiten des Jahres ihre Tätigkeit in die Provinz verlegen sollten. Sollte dieser Plan in die Tat umgesetzt werden, wäre es vielleicht sachdienlich, dass im Gegenzug die besten Kräfte des Provinztheaters zur selben Zeit ihre Zelte auf dem Kongens Nytorv aufschlagen würden. Genauso klar, wie es für Kopenhagener Schauspieler dann und wann günstig sein könnte, sich bei einem neuen Publikum Gehör zu erkämpfen, könnte es lehrreich für die Kopenhagener Theatergänger sein, sich einmal zwischendurch von Angesicht zu Angesicht mit ganz unbekannten Schauspielern zu befinden.

Man merkt es, sobald man herauskommt. Es ist ganz sonderbar, wie das Theaterinteresse wieder in einem erwacht, wenn man sich gegenüber unbekannten Darstellern befindet. Eine fremde Bühne ist keine Aneinanderreihung von Brettern, auf denen man auf eine ganz unnatürliche Art seine alten Bekannten wiedersieht. Das ist wirklich eine andere Welt, die sich dem Publikum auf der anderen Seite der Lampenreihe eröffnet – eine Welt, in der das Märchen vom Prinzen von Illyrien lebendig wird, und wo die Königin von Saba ihre seidenbestickte Pracht entfaltet, ohne dass man sofort an die Rechnungen der Schauspielerinnen bei Wessel & Vett13 denken muss. Erst danach wendet man sich Rat suchend an das Plakat, um herauszufinden, was für ein Fräulein Petersen sich da unter dem königlichen Purpur versteckte.

Gestern Abend führte das Lessingtheater in Berlin eine Inszenierung von Dostojewskis berühmten Roman "Raskolnikow"14 auf. Es könnte gewagt erscheinen, ein Dichterwerk zu inszenieren, in dem das Gewicht besonders auf der minutiös ausgestalteten Seelenmalerei liegt, und dessen dramatischer Mittelpunkt ein hässlicher Mord an einer alten Pfandleiherin ist. Trotzdem zeigte die gestrige Aufführung, dass es wirklich möglich ist, ein zusammenhängendes Theaterstück aus diesem Buch zu extrahieren, auch wenn die gewählte Inszenierung nicht überall gleich gut gelungen war. Der erste Akt, in dem die im Stück auftretenden Personen in einem Kaffeehaus nach und nach aufeinandertreffen, war besonders wirkungsvoll. Man hatte hier von Szene zu Szene dasselbe Gefühl wie bei den ersten Akten eines Schauspiels von Ibsen. Trotz des ganz alltäglichen Charakters der Gespräche merkte man, wie das Unheimliche zwischen den Kulissen aufstieg, während sich die Abgründe unter den Handelnden immer weiter auftaten.

Raskolnikow wurde von Kainz15 gespielt. Seine bleiche Maske, seine kleine, schmächtige, von Überspanntheit erschlaffte Person – alles war gleichermaßen vorzüglich. Er sprach zu Beginn gähnend, geistesabwesend – wie einer, der des Denkens überdrüssig ist, ermattet davon, dieses erbärmliche Leben zu leben – um so plötzlich zusammenzufahren, als hätte ihm eine unsichtbare Stimme etwas über all die Herrlichkeit zugeflüstert, die ihn und all die anderen Armen, die er liebhat, erwarten würde – seine arme Mutter, seine Sonja und ihrer Geschwister – im Falle, dass er den Mut aufbringen könnte, "das Wunderbare" zu wagen, die blutige "Rechtfertigungstat", die in seinem Hirn umhergeistert. Im Laufe des Aktes fühlt man, wie der Beschluss zum Mord in ihm heranreift – aber unglücklicherweise hat man, um dies wirklich klarzumachen, zu einigen unheimlich langen Monologen und abwegigen Äußerungen gegriffen, die in einem sonst so durchgängig realistischen Schauspiel unvorteilhaft wirken.

Im zweiten Akt geschieht also dann der Mord in der Wohnung der Pfandleiherin. Man hatte jedoch nicht den Mut gehabt, ihn den Mord auf offener Bühne ausführen zu lassen; er geschah in einem Nebenzimmer und geräuschlos. Man war offensichtlich ängstlich, das nicht sonderlich freundlich gestimmte Publikum zu kränken – aber dadurch ging auch ein Großteil der Wirkung verloren. Dazu trugen auch die Monologe bei, die man Raskolnikow an dieser Stelle besonders unglücklich in den Mund gelegt hatte; er ist schließlich allein auf der Bühne. Man hätte sich mit der mimischen Darstellung begnügen sollen. Mörder pflegen in einem solchen Augenblick gewiss nicht sehr gesprächig zu sein. Und man hätte das getrost tun können, weil gerade Kainz' Mimik so wunderbar aussagekräftig ist. Welch' Geisterfurcht in seinem Gesicht! … Und wie er weinte! So rührend wie ein Kind, das nicht weiß, was es tut.

Der Rest des Stückes war weniger interessant, weil die Darstellerin der Sonja, Jenny Gross16, ganz und gar unmöglich war. Lauter widerliches Augenrollen, süße Tränen und ekelhafte Seufzer. Merkwürdigerweise soll diese Dame der Liebling der Berliner sein. Wir Dänen sind einfach nicht so naschhaft.

Leider schien diese Interpretation von Sonja als eine Art Halleluja-Mädchen zuletzt auch auf Kainz abzufärben. Der letzte Akt, in dem er sich reuig zu Boden wirft und sein Verbrechen gesteht, erinnerte unheimlich an ähnliche Heulszenen in Räumlichkeiten der Heilsarmee in der Zinnsgade und der Frederiksberg Allé.

Zu solch einem Effekt gehört selbstverständlich bengalisches Feuer. In der letzten Szene gruppiert sich eine Menge Menschen höchst unmotiviert in Raskolnikows kleiner Dachkammer und strömt malerisch um den Untersuchungsrichter, während Raskolnikow sein Verbrechen gesteht. Mit diesem Tableau der Erbauung wird die böswillige Kritik zufriedengestellt. Die Leute klatschen und die Zeitungen sind froh.

Es besteht kein Zweifel, dass das Stück – vielleicht besonders in dieser Zeit – in Kopenhagen Anklang finden könnte, gäbe es dort einen Schauspieler mit ein wenig von Kainz' unheimlich nervösem Temperament. Aber den gibt es sicher nicht. In plumpen Händen würde Raskolnikow ja dazu degradiert werden, schlichtweg ein Verbrecher zu sein, und das Stück dadurch jegliche Anziehung verlieren.

Aber Kainz hat ja seine Ankunft in Kopenhagen angekündigt – wie die Zeitungen vermelden. So wird er selbst vielleicht Raskolnikow mitbringen. –17

 
[1] Auch bekannt als "Tausendblätterkuchen". Es handelt sich dabei um ein französisches Gebäck. tilbage
[2] Emil Poulsen: (1842-1911), Schauspieler. tilbage
[3] Josephine Eckardt (1839-1906) kam vom Ballett zur Schauspielerei am Königlichen Theater in Kopenhagen, wo sie 50 Jahre jenen Rollentypus spielte, den sie von Johanne Louise Heiberg in "einer Galerie von blonden, hochgewachsenen jungen Frauen, überlegenen Burgfräulein oder stolzen Königinnen" (DBL3/Det Biografiske Leksikon, Bd. 3) erbte. Bekannt wurde sie vor allem durch zwei Rollen, von denen HP mit Sicherheit die erste gesehen hat: Abigael in Molbechs Ambrosius (1878). tilbage
[4] Figur in Holger Drachmanns "Es war einmal" (Orig. Der var engang), eine Märchenkomödie, aufgeführt im Königlichen Theater am 23.1.1887, jährlich bis 1898. Der Prinz wurde eine von Emil Poulsens Glanzrollen. tilbage
[5] Christian Zangenberg (1853-1914) debütierte als 20-Jähriger in einer Inszenierung von Fritz Reuters "Das Leben auf dem Lande" (Orig. Landmandsliv), einer Tournee-Theatervorstellung, die am 16.2.1873 in Randers gastierte und dort womöglich von HP angesehen wurde (vgl. "von Kindsbeinen"). HP hat ihn dann sicher auch in seinem Kopenhagener Debüt im Oktober 1876 als Halling in Hostrups Komödie "Ein Sperling im Kranichreigen" (Orig. En Spurv i Tranedans) im Casino (ehem. Theater in Kopenhagen) gesehen. In diesen Jahren wurde er durch seine "einnehmenden persönlichen Eigenschaften" (DBL3) sehr beliebt in der Hauptstadt. Von 1881 an war er am Königlichen Theater, wo er es nicht so richtig vermochte, zu dem älteren Rollentypus zu wechseln. tilbage
[6] Hier ist das Trikot höchstwahrscheinlich als ein eng am Körper anliegender Anzug gedacht, den man heutzutage aus Sportarten wie zum Beispiel dem Ballett oder der Akrobatik kennt. tilbage
[7] Der Gammel Kongevej ist die älteste Straße von Frederiksberg in Kopenhagen. Sie existiert bereits seit 1600. tilbage
[8] Olaf Poulsen (1849-1923), Halbbruder des oben genannten Emil Poulsen, wurde der größte Holberg-Schauspieler seiner Zeit (Henrik, Per Degn, Jeppe). tilbage
[9] Kongens Nytorv (dt. Königs Neumarkt): der größte Platz in Kopenhagen Er befindet sich zwischen Strøget und Nyhavn. tilbage
[10] Betty Hennings (1850-1939), die auch vom Ballett am Königlichen Theater kam, wurde 1879 die weltweit erste Nora in Henrik Ibsens "Nora oder Ein Puppenheim" (Orig. Et Dukkehjem), eine Rolle, die sie bis 1907 hunderte Male spielte, und HP hat sie zweifelsohne darin gesehen. Sie spielte dreizehn weitere Ibsen-Rollen: "Die Frau vom Meer", "Hedda Gabler" und Frau Alving in "Gespenster" und viele andere. In Es war einmal spielte sie 182 Mal die Prinzessin. tilbage
[11] Die Straße Strøget in Kopenhagen vom Kongens Nytorv (Königs Neumarkt) bis Amagertorv oder Gammeltorv. (Flaniermeile) tilbage
[12] Poul Nielsen (1862-1931)s Frau war die Kollegin Emma Thomsen (1863-1910). Es ist nicht klar, warum HP sich dazu entschloss, sie so zu nennen. Sie heirateten 1888. Sie debütierte am Königlichen Theater 1883 in Hostrups Komödie "Abenteuer auf der Fußreise" (Orig. Eventyr paa Fodrejsen), in der HP sie wohl gesehen haben könnte. Für ihre Schönheit wurde sie gefeiert, aber sie tat sich schwer mit einem Durchbruch, und das kann der Grund dafür gewesen sein, dass HP sie so bezeichnet. Einen späten Durchbruch erlangte sie in Edvard Brandes' "Nach dem Gesetz" (Orig. Under Loven) (1900). tilbage
[13] Kaufhaus gegenüber vom Königlichen Theater, heute "Magasin". tilbage
[14] Alternativer Titel von "Schuld und Sühne". tilbage
[15] Der Österreich-Ungar Josef Kainz (1858-1910) trat von 1883-99 in Berlin auf, hauptsächlich, aber nicht ausschließlich am Deutschen Theater. Kainz war um den 1.8.1888 herum zum Gastspiel in Kopenhagen, am Dagmartheater (und am 2.8. berichtete Herman Bang in Politiken (dän. Tageszeitung) von der Rede, die Georg Brandes für Kainz nach der letzten Vorstellung hielt. Bang selbst schrieb über das Gastspiel in der (ehemaligen) Zeitschrift Ny Jord (Band 3, S. 353-79, abgedruckt mit wenigen Korrekturen in Teatret (1892). 1910 gab Bang eine Monographie über Josef Kainz auf Deutsch heraus (86 Seiten). tilbage
[16] Jenny Groß (1861 oder 1863-1904) spielte bis zur Jahrhundertwende am Lessingtheater. tilbage
[17] Kainz trat im Mai 1891 wieder in Kopenhagen auf, aber nicht in Raskolnikow. tilbage