Tagebuch

Ein Berliner, Herr Otto Rieß, hat eine Reisebeschreibung herausgegeben, die unter anderem auch Kopenhagen umfasst.

Er ist mit der Bahn durch Ostjütland nach Frederikshavn gereist und von dort aus über Schweden nach Kopenhagen gekommen. Damit glaubt er, Dänemark gesehen zu haben und gibt sofort eine Beschreibung über Land und Leute heraus.

Trotz manch schwungvoller Begeisterungsausbrüche, die er als Deutscher allzeit auf der Zunge parat hat, vernimmt man deutlich, dass Herr Rieß sich bei uns – wie die meisten anderen fremden Touristen – überhaupt nicht wohlgefühlt hat. Es geht fast schon ein erleichtertes Aufseufzen durch das Buch, wenn der Verfasser von seiner Ankunft beim Dampfschiff erzählt, das ihn an die schwedische Küste bringen soll.

Mit der Naturschönheit unseres Landes ist er jedoch nicht unzufrieden. Im Gegenteil inspiriert ihn diese oft zu recht wilden Verzückungsausbrüchen. Den Vejle-Fjord, Den Himmelbjerget und vor allem das Meer findet er himmelreizend.

Es sind die Bevölkerung, die Hotels und – insbesondere – die Verpflegung, denen all seine Wehklagen gelten. Er schildert seinen Landsleuten die Leiden, die er durchmachen, und die Opfer, die er kühn bringen musste, so als wäre die Rede von einer neuen Stanley-Expedition durch einen stockfinsteren Kontinent.

Dieses Dänemarkbild ist gewiss nicht ungewöhnlich bei den paar Fremden, die sich dann und wann in unsere Gefilde verirren.

Vor zehn Jahren fuhr ich auf einem der italienischen Seen mit einem viel gereisten Belgier, der, als er hörte, dass ich Däne sei, mich mit einem unnachahmlichen Lächeln, das aufrichtiges Mitgefühl und gleichzeitig diese Freude ausdrückte, mit der man mitunter überstandener Leiden gedenkt, fragte, ob man in meinem Vaterland noch dieses "Rötgröt" esse.

Ich glaube, dass man einmal in ein paar hundert Jahren mit etwa dem gleichen Lächeln einen Grönländer fragen wird, ob er Tran trinke.

Dieses durchgehende Missfallen der Fremden, namentlich gegenüber unseren Provinzhotels, hat seine Berechtigung, und wenn Dänemark wirklich das Touristenland werden soll, von dem manche träumen, muss in dieser Hinsicht eine bedeutende Veränderung stattfinden. Unsere neugegründete Touristenvereinigung, die im Stillen bereits viel Anerkennungswürdiges geleistet hat, muss sich dieser Sache ganz besonders annehmen. Es ist kein unbilliges Verlangen der Fremden, die wir zum Besuch bei uns einladen, dass sie ein Bett haben möchten, in dem sie schlafen, und ein Mahl, das sie auch essen können. Vielleicht weil wir ein Abendessen als delikat betrachten, das aus Kirschsuppe und Pfannkuchen mit Marmelade besteht, dürfen wir uns nicht darüber wundern, dass fremde Mägen sich schon allein beim Gedanken daran wieder abwenden. Falls wir wirklich einmal ausländische Touristen bei uns im Land begrüßen dürfen, sollten wir uns aber auch intelligentere wünschen als den genannten Herrn Otto Rieß.

Man bekommt jedenfalls keine hohe Meinung über die derzeitige publizistische Tätigkeit der Deutschen, wenn ein solcher Baedeker-Tourist seine Erlebnisse drucken kann, jedoch mit einer Minderbegabung, die es hierzulande nur selten gibt. Der Stil des Buches erinnert an Schulaufsätze wie "Meine Pfingstferien" oder "Beim Nüssesammeln". Unablässig schwankt der Verfasser zwischen hohlstem Pathos und flachstem Humor, und man kann alle hundertneununddreißig Seiten durchblättern, ohne eine einzige treffende Äußerung über die Dinge zu finden, die er zu beschreiben glaubt. Nicht einmal für Kopenhagen findet er anschauliche oder bezeichnende Worte. Lauter aufgebauschte Floskeln aus dem Reisebuch, pflichtschuldige Begeisterung für das Thorvaldsen-Museum und folgende Fantasieschilderung des Platzes vor Schloss Amalienborg: "Keine Seele zeigt sich. Nur die gebückte Gestalt eines uniformierten Kammerherrn mit hinten hängendem Schlüssel geht leise tretend von einem der Paläste in den andern über den Platz".1

Dass er als echter Deutscher die Brust drei Zoll höher trägt als kleidsam, ist selbstverständlich. Was ihn am meisten erstaunt (und ärgert), ist die gewisse Kühle, die ihm überall begegnet. Er kann offenbar nicht verstehen, dass einem Dänen beim Anblick eines bärtigen Sohnes aus dem "großen Vaterland" nicht der Neid aus allen Poren dringt. Erst als er eines Tages auf dem Runden Turm einen Mann trifft, der als dänischer Soldat bei Dybbøl in Gefangenschaft geraten war und daraufhin 1866 und 70 in den deutschen Reihen gekämpft – "also thatkräftig inmitten der grossen weltbewegenden Ereignisse unserer Tage gestanden" hatte – schmilzt er dahin. Dieser Mann öffnet dem edlen Berliner sein Herz.

"Vertrauensvoll führte er uns durch die Reihe der Empfindungen, die seine Brust bewegten, und ihn, den ehemaligen Feind, zu unserer Freude zum begeisterten Anhänger unseres grossen deutschen Vaterlandes gemacht hat."

Ganz und gar töricht tritt Herr Rieß' empfindlicher Nationalstolz in der Schilderung der Vorstellung eines Varietétheaters hervor. Eine französische Chansonette trug hier unter stürmischem Jubel ein Lied vor, das die Schönheit der dänischen Frau pries, was ihn in vollstem Ernst zu folgender köstlicher Äußerung bewog: "Ich habe nichts dagegen! Aber dieses Lob stellte alle anderen Frauen auf Gottes weiter Erde in den Schatten" – also auch die deutsche!

Das war zu viel für Herrn Rieß. Er endet mit den Worten: "Mir ward das Bier im Glase sauer!" – – sagte der Fuchs.2

Urbanus

 
[1] Bei den in Anführungszeichen wiedergegebenen Passagen handelt es sich um deutsche Originalzitate aus dem Artikel Pontoppidans, welche dieser wiederum direkt aus Otto Rieß' Reisebeschreibung übernahm. tilbage
[2] An dieser Stelle wird eine Verbindung zur Äsop'schen Fabel "Der Fuchs und die Trauben" deutlich, die den unehrlichen Umgang mit der Niederlage thematisiert und in der es über den Fuchs, der die begehrten Trauben nicht erreichen kann, heißt: "Der Fuchs biss die Zähne zusammen, rümpfte die Nase und meinte hochmütig: 'Sie sind mir noch nicht reif genug, ich mag keine sauren Trauben.' Mit erhobenem Haupt stolzierte er in den Wald zurück." tilbage