Tagebuch

Ich hatte vor kurzem einen Ausländer zu Besuch, dem ich nach bestem Vermögen die verschiedenen Sehenswürdigkeiten der Stadt vorgezeigt habe. Unter anderem besichtigten wir auch unseren nicht gerade unbekannten Reichstag.

Beim Anblick des Folketings stutzte er sichtlich, und als ich ihn fragte, was er von der Versammlung hielt, antwortete er bloß:

"Man sieht, dass Dänemark ein demokratisches Land ist."

Berg1 verwunderte ihn augenscheinlich am meisten. Er hatte – sagte er – sich die Führer des Radikalismus als dunkle, wilde Gestalten vorgestellt, halb zerfressen vom heiligen Feuer, das in ihrer Brust loderte. Als ich ihm obendrein noch erzählte, dass der Abgeordnete kürzlich eine sechsmonatige Strafe bei strenger Gefängniskost abgesessen hatte, war er zuerst schwer verblüfft und sagte sodann mit einem leichten Lächeln:

"Die dänische Gefängniskost muss wohl sehr nahrhaft sein."

Inzwischen hatten sich die Minister in einer Ecke des Saals versammelt.

Der Fremde kannte vom Sehen her nur den Außenminister2, dem er sich direkt bei seiner Ankunft in der Stadt hatte vorstellen müssen. Ich fragte ihn nun, ob er mir auch Estrup zeigen könne.

Er betrachtete die hohen Herren eine Weile prüfend und sagte dann, indem er auf den Premierminister deutete:

"Das muss dieser distinguierte Gentleman dort sein. Oder nicht?"

"Doch, das stimmt. Aber wo ist dann der Kriegsminister?"

"Der Kriegsminister? Oh, verflixt – das sieht man doch sofort", sagte er und zeigte auf Scavenius3. "Diese Haltung lässt keinen Zweifel zu. Sie erinnert an ein Schlachtross, das den Ruf zur Parade hört."

"Aber wo ist dann der Kultusminister?"

Der Fremde überlegte einen Moment und zeigte danach entschieden auf Bahnson4.

"Warum glauben Sie das?"

"Oh – das sieht man auch sofort an der Haltung. Vermutlich ein Mann der Wissenschaft? Ein Rektor, der es gewohnt ist, krumm an einem Pult zu sitzen. Er hat auch immer ein Lineal in der Hand. Habe ich recht?"

Ich antwortete nicht, sondern deutete auf Nellemann5.

"Sehen Sie den dort drüben?", fragte ich.

"Ist der auch ein Minister?"

"Ja – Und was glauben Sie, wofür er zuständig ist?"

Der Fremde starrte ihn lange an. Schließlich meinte er ganz verlegen:

"Das weiß ich wahrhaftig nicht. Bestimmt für etwas, für das es bei uns keine Entsprechung gibt."

 
[1] Berg: Christen Berg (1829-1891) war Anführer des radikalen Flügels innerhalb der Partei Venstre, die sich in den 1880er Jahren mehrfach spaltete und neu formierte. tilbage
[2] Außenminister: Otto Rosenørn-Lehn (1821-1892). tilbage
[3] Scavenius: Jacob Scavenius (1838-1915), Gutsbesitzer, wurde 1880 Kultusminister. tilbage
[4] Bahnson: Jesper Bahnson (1827-1909) wurde 1884 Kriegsminister, zuvor Abteilungschef und Direktor des Ministeriums. tilbage
[5] Nellemann: Johannes Nellemann (1831-1906) war Justizminister während Estrups gesamter Regierungszeit (1875-1894). tilbage