Tagebuch

6. August.

Ich stieg heute in eine Straßenbahn, um zu meinem Barbier zu fahren.

Auf der Bank hinter mir, ganz hinten am anderen Ende des Wagens, saßen zwei Männer.

Einer der beiden war eine große, hübsche Person, dessen beginnende Fülligkeit und äußerst gepflegtes Äußeres ihn als einen fröhlichen Lebemann verrieten. Der andere war klein, hatte ein rundes Mondgesicht mit hellem Bart, einen breiten Hut auf dem Kopf und einen Regenschirm zwischen seinen runden Knien und sah im Ganzen wie ein anständiger Dorfpfarrer aus.

Er sprach auch unnötig laut, wie Dorfleute es zu tun pflegen, wenn sie in die Stadt kommen; und da wir allein im Wagen waren, konnte ich, ohne die Ohren übermäßig zu spitzen, deutlich ihrem Gespräch folgen.

Anlässlich – ich glaube – eines Kopfnickens des ersten, das einer zweifelhaft aussehenden Dame, die gerade auf der Straße vorbeiging, galt, sagte der Pfarrer anklagend:

"Arthur! … Du hast dich also gar nicht verändert."

"Was meinst du?"

"Das weißt du genau, geliebter Freund! Und du sollst auch wissen, wie beunruhigt und betrübt ich oft beim Gedanken an deine Lebensweise werde."

"Na und? Ich kann es mir doch leisten. Warum sollte ich da nicht meinen Gelüsten folgen?"

"Leisten können! … Findest du denn nicht selbst, bester Arthur, dass dies sündige Sprache ist?"

"Ich weiß immer noch nicht, was du meinst."

"Ich meine, mein Freund, dass obgleich du – was ich ja leider hinreichend weiß – nicht an die Läuterung deiner eigenen Seele denkst, so solltest du doch zumindest an deine Opfer, an die Unglücklichen, denken, die du ins Verderben stürzt."

"Nichts für Ungut, Eberhardt", sagte nun der zweite mit offensichtlich lang zurückgehaltener Ungeduld. "Ich freue mich sehr über deinen Besuch und hoffe, dass du als mein Gast keinen anderen Eindruck bekommen hast. Aber du musst es mir gestatten dir zu sagen, dass du dir, wie die meisten deiner Standesgenossen, eine leicht unangenehme Angewohnheit zugelegt hast, nämlich, immer als Prediger aufzutreten. Besonders in diesem Fall kommen mir deine Ermahnungen auffallend schlecht angebracht vor. Es scheint mir, ehrlich gesagt, dass ich – wenn wir unbedingt moralisieren sollen – dir mit genauso viel Recht vorhalten könnte, dass du deine Gelüste so ungeniert zufriedenstellst, obwohl dein Anliegen an mich heute deutlich beweist, dass du allen Grund dazu hast, in dieser Hinsicht selbst ein bisschen hauszuhalten. Du wirst natürlich sagen, dass du verheiratet bist und dir deswegen keine Einschränkungen auferlegen musst, sondern die Verantwortung für alle Folgen auf Unseren Herrgott übertragen kannst. Aber ich kann dir schlicht nicht zugestehen, dass ein Trauschein den Menschen Erlaubnis geben soll, ohne Skrupel Kinder in die Welt zu setzen, denen sie keine passende Erziehung zu geben vermögen. Ich muss dich wohl doch, unter uns, daran erinnern, dass es gerade der neue Zuwachs in deiner bereits recht ansehnlichen Schar war, der dich wieder in Verlegenheit gebracht hatte, und aus der ich dir mit Freude herausgeholfen habe. Wenn du dir deswegen – wie so viele andere gute Ehegatten heutzutage – solche Sorgen um uns Junggesellen und unseren unmoralischen Lebenswandel machst, so will ich dir sagen, dass auch ich Lust dazu haben könnte, eine Vereinigung zu gründen, deren Zweck sein sollte, zu Abstinenz innerhalb der Ehe aufzurufen. Die Leichtfertigkeit ist hier in Wirklichkeit viel größer, schädlicher und gemeingefährlicher als sonst wo. Hier kann man mit mehr Wahrheit von den "unglücklichen Opfern" in der Kinderschar sprechen, die Eheleute gedankenlos in die Welt setzen, woraufhin sie vernachlässigt werden, um schließlich im Zuchthaus oder in der Prostitution zu enden. Möchte man also die Sittsamkeit hierzulande reformieren, muss man bei den Ehen ansetzen. Hier liegt die Verantwortung, und die dürft ihr wahrhaftig nicht von euch abwälzen."

Der anständige Dorfpfarrer saß wie aus allen Wolken gefallen. Vor Entsetzen entglitt ihm beinahe sein Regenschirm.

"Du willst doch nicht etwa sagen," stammelte er schließlich. "Du meinst doch nicht im Ernst, dass Angelica und ich … wir sollten …, dass wir nun nicht … ich meine …"

Mehr hörte ich nicht. Die Straßenbahn hatte den Barbier erreicht und ich musste aussteigen.

Urbanus