Paul Ernst til Henrik Pontoppidan
Sendt fra Sonnenhofen, Post Königsdorf, Ober Bayern. 27. december 1920

Sonnenhofen, Post Königsdorf, O. Bay.
27. Dez. 20

Sehr geehrter Herr, für Ihre freundlichen Zeilen sage ich Ihnen meinen herzlichsten Dank. Dass auch bei Ihnen in Dänemark die Dinge schon so weit gediehen sind, dass das geistige Leben in Gefahr kommt, hat mich tief bewegt; ich hatte gedacht, diesen Vorteil hatten Länder wie Dänemark wenigstens in dieser Zeit des Zusammenbruchs der Cultur, dass in ihnen das geistige Leben sich für spätere Zeiten erhalten könnte. – Der Nobelpreis scheint auch mir ungeschickt vertheilt. Von Hans E. Kinck1 wusste ich Nichts; ich bin, wie wohl fast alle meine Landsleute für die nordischen Sprachen auf Übersetzungen angewiesen und es ist wohl Nichts von ihm übersetzt.√. Knut Hamsun2 scheint mir nicht ein sehr bedeutender Mann zu sein. Seine Dramen sind einfach schlecht, und in seinen Romanen streift er doch bei unleugbarer Begabung naher an die Unterhaltungslitteratur. Bei Spitteler3 kann ich ganz bestimmt sagen, dass er masslos überschätzt wird. Er ist als Persönlichkeit offenbar nichtig, hat ein kleines Talent, das ihn zur Idylle berechtigen würde und lässt sich durch die Eitelkeit zu einer grossen Aufgabe verführen, der er in keiner Weise gewachsen ist. Nun, es geschieht wohl selten, dass solche Preise immer an die Richtigen kommen, besonders, wenn Gelehrte über Dichtungen urteilen sollen.

Sie haben recht, dass Deutschlands Schuld an der gegenwärtigen Katastrophe mir besonders schmerzlich ist. Aber vielleicht darf ich das genauer umschreiben. Die Schuld liegt nicht da, wo sie uns von unseren Feinden zugeschoben wird, besonders von den Engländern und Franzosen, deren Lügen die ganze Welt beeinflussen. In dem Sinn, wie unsere Feinde es sagen, liegt überhaupt keine "Schuld" vor, und ich würde sehr traurig sein, wenn meine Arbeiten den Eindruck machten, als ob ich den Vorwürfen unserer Feinde beistimmte.

Sie werden als Däne keine freundliche Gesinnung gegen uns haben wegen der Ungeschicklichkeiten, welche die Deutschen in den dänischen Theilen von Schleswig begangen haben. Aber ich appelliere an Ihr Gerechtigkeitsgefühl. Die Ursache war ein falsches Princip der inneren Verwaltung in Preussen. Ich bin von Geburt Hannoveraner, auch in meiner Heimath haben die Preussen viel zerstört, aus demselben Grund. Es wird immer Grenzbevölkerungen geben, denn die Grenze kann nie genau mit der Sprachgrenze übereinstimmen. Solche Grenzbevölkerungen müssen doppelt verständig verwaltet werden. Die preussische Verwaltung aber war völlig bürokratisirt, und 2 die Beamten waren dumm, anmassend und eingebildet. Sie haben recht, das hätte nicht sein dürfen. Aber unser Volk hatte politisch furchtbar schwere Aufgaben zu erfüllen, die Kraft hat nicht dazu gelangt, hier die notwendigen Reformen zu machen. Nur: denken Sie daran, was England in Irland gethan hat und thut, dann werden Sie gewiss zugeben, dass Ungechick von böswilliger Unterdrückung und Ausbeutung unterschieden werden muss. Wir haben nur Feinde in der Welt gehabt – wir haben sie ja noch – und jeder Fehler, den wir begangen haben, wurde zehnmal vergrössert in der ganzen Welt verbreitet. Ich glaube, dass ich die Fehler meines Volkes genau sehe; aber ich glaube, ich darf auch sagen: von den grossen Völkern ist das Deutsche den andern Völkern gegenüber das gerechteste; und ich darf sagen: es hat auch vor dem Krieg nie nach unrechtem Gut verlangt.

Der Krieg ist gekommen als notwendige Folge der capitalistischen Concurrenz, welche die Deutschen den Engländern machten. Die Engländer haben es verstanden, die andern Staaten und Völker auf ihre Seite zu ziehen: Frankreich, welches das deutsche Land wieder haben wollte, das wir ihm 1871 abgenommen hatten – denn nur etwa 1/10 von Elsass-Lothringen ist französisch – und Russland, dessen Bourgeoisie gleichfalls von der deutschen Concurrenz bedrückt wurde; Amerika hat man Etwas vorgelogen. Wir hatten das Unglück, einen Narren als Kaiser zu haben, der durch seine thörichten Reden – die bei uns Jeder verlacht – bei den andern Völkern den Eindruck erweckte, dass wir sie bedrohten, und die Englische Agitation hat alle diese Dummheiten gut ausgenutzt. Aber weshalb sollten wir irgend ein Volk bedrohen? Ich habe durch Verwandtschaft und Freundschaft Beziehungen zu allen Theilen unsern Volkes, ich kann auf Ehre und Gewissen behaupten: Nirgends habe ich eine Neigung verspürt, andere Völker zu unterjochen. Die Energie und Intelligenz unseres Landes hatte sich fast völlig in die Wirtschaft begeben; man dachte daran, immer mehr Fabriken zu bauen, immer mehr Märkte zu erobern, aber das war alles. Das ging so weit, dass man sich in fast allen Kreisen, ich möchte sagen, absichtlich vor der Einsicht verschloss, dass diese wirtschaftliche Expansion zu einer allgemeinen Feindschaft der andern Völker führen musste.

Und hier ist es, wo die Schuld meines Volkes liegt. Es hat seine Seele vergessen über den äusseren Gütern. Aber auch nur hier liegt sie. Und es ist mir bewusst, dass das nur deshalb den Engländern und Franzosen gegenüber Schuld ist, weil wir eine höher geartete Seele haben, die auch höher verpflichtet. Denn alles, was wir Schlechtes gethan haben, haben die beiden Andern auch gethan, nur mit weniger Fleiss und 3 Tüchtigkeit, und sie haben noch andern Schlechtes hinzugefügt, das auch im allgemeinen Sinn schlecht ist. Denn wenn man seine Seele vergisst über den äusseren Gütern, so muss man auch ganz gemein werden wie die Engländer und Franzosen. Das sind wir aber nicht geworden.

Es war uns während des Krieges klar, dass das unterliegende Volk Furchtbares leiden musste. Eines musste unterliegen; ich habe meinem Volk den Sieg nicht gewünscht, weil mir seine Seele höher steht, wie sein äusseres Glück. Aber glauben Sie mir: wenn die Deutschen gesiegt hätten, das Unglück für Europa wäre weniger schlimm geworden, denn nie würden die Deutschen den Sieg so ausgenutzt haben, wie die Engländer und Franzosen, welche etwa die Hälfte unseres Volke zum Hungertod verurteilen – mit allen furchtbaren Folgen für die überlebende Hälfte.

Sie rollen in Ihren grossen und tiefen Werken selber das furchbarste Bild der Europäischen Zersetzung auf. Dem Dichter Pontoppidan brauche ich nicht zu sagen, wo die Schuld des deutschen Volkes liegt: darin, dass es an der Zersetzung teil genommen hat. Vielleicht ist es auch thöricht, dass ich dem Menschen Pontoppidan zutraue, dass er sie noch anderswo sucht. Aber es kann ja geschehen, dass die Anschauung nicht kämpfen kann gegen den geformten Begriff, deshalb wollte ich doch lieber Sie noch bitten, diese Worte zu lesen. Ich habe den Eindruck, dass Sie Vertrauen zu mir haben. Sie und noch einige wenige andere Menschen heute sind das Gewissen der gegenwärtigen Menschheit; kaum fünf Menschen ausser Ihnen wüsste ich noch. Das wollte ich Ihnen nur sagen: Glauben Sie nicht unsern Feinden; Niemand kennt uns in der Welt; wir selber kennen uns nicht; wir sind seit der Mitte des 19. Jahrh. in einer unerhörten inneren Wandlung gewesen, die uns verwirrt hat; vielleicht bin ich einer der ganz Wenigen heute in Deutschland, die einen wenigstens annähernden Begriff vom deutschen Wesen haben. Und dazu haben unsere Feinde bewusst seit Jahzehnten die ungeheuerlichsten Lügen über uns verbreitet.

Sie deuten in Ihrem letzten Roman ganz entfernt eine neue religöse Beziehung an, wenn Sie den Helden in seinem Testament von Forschungen über die Beziehungen der Gestirne zu unseren menschlichen Ereignissen sprechen lassen. Ich weiss nicht, ob Sie Theod. Fechners "Zend-Avesta"4 kennen. Fechner5 ist in den 80er Jahren gestorben und danach von Niemanden verstanden. Die occultistische und spriritistische Bewegung ging von Amerika und England aus 4 und fand den stärksten Widerstand bei der deutschen Wissenschaft. Ich glaube mit Recht. Aber gerade die deutsche Wissenschaft hat in Fechner gezeigt, wie man auf ehrlichem Wege zu neuem Glauben kommen kann; und ich bin überzeugt, dass der tiefste Grund für die Unsicherheit des deutschen Volkes heute das ist, dass bei uns der neue Glaube der Menschheit sich bildet. Vielleicht ist dazu nötig, dass unsere Cultur zerschlagen wird.

Ich hoffe, dass dieser Brief Sie zu Neujahr erreicht und wünsche Ihnen herzlich alles Gute zum neuen Jahr: vor allem das Beste, das es gibt, innerlich gelingende Arbeit.

Mit vielen Empfehlungen
hochvll Ihr ergber
Paul Ernst

 
[1] Kinck: se HPs brev til Paul Ernst 8.12.1920 og HPs korrespondance med Kinck. tilbage
[2] Knut Hamsun: (1859-1952) norsk forfatter, fik Nobelprisen i litteratur 1920. tilbage
[3] Spitteler: Carl Spitteler (1845-1924) schweizisk forfatter, fik Nobelprisen i litteratur 1919. tilbage
[4] "Zend-Avesta": Zend-Avesta oder über die Dinge des Himmels und des Jenseits (1851). tilbage
[5] Fechner: Gustav Theodor Fechner (1801-87) tysk psykolog, fysiker og naturfilosof. tilbage