Der königliche Gast

Nachwort

Henrik Pontoppidan war der Sohn eines Pastors und wurde darüber hinaus in eine Familie hineingeboren, die seit dem 17. Jahrhundert von prominenten protestantischen Pastoren dominiert wurde. Nichtsdestotrotz – oder gerade deshalb – wurde er zu einem der bedeutendsten antiautoritären Schriftsteller der literarischen Bewegung, die in der skandinavischen Literaturgeschichte als der "Moderne Durchbruch" bezeichnet wird und unter anderem durch ihre Religionskritik geprägt war. Aus seinem protestantisch geprägten Elternhaus brachte Pontoppidan jedoch die Neigung zu ehrlichen und intensiven Diskussionen über grundsätzliche Fragen der Lebensanschauung mit. Diskussionen, die er Zeit seines Lebens unter dem Motto "ich frage, ich frage… " mit sich selbst führte.

Der Name dieser literarischen Bewegung geht auf den Literaturkritiker Georg Brandes und dessen zurückschauendes Buch Det moderne Gjennembruds Mænd (Männer des modernen Durchbruchs) aus dem Jahr 1883 zurück. Die Bewegung wurde aber bereits 1871 eingeleitet – durch Brandes' epochemachende Vorlesungsreihe über Hauptströmungen in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Damit begann eine Auseinandersetzung mit dem Idealismus und der Vergangenheitsverklärung der Romantik, in der kommende belletristische Autoren aufgefordert wurden, "Probleme zur Debatte zu stellen" – vor allem zeitgenössische Probleme wie "Ehe, Religion, Eigentum, das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und die gesellschaftlichen Verhältnisse". Die Schlagworte lauteten Freiheit (im Sinne von Befreiung) und Fortschritt. Brandes ging davon aus, dass die neue rebellische Literatur vor allem als Prosa vorgelegt würde – getrieben von einem leidenschaftlichen Engagement.

Einer der Repräsentanten dieser Bewegung ist der im Ausland weniger bekannte Vertreter des modernen Durchbruchs, der poetische und empfindsame Lyriker Holger Drachmann (1846-1908). Vermutlich wurde dieser mit seinem feierlichen, pathetischen – und dionysischen – Auftreten zum Vorbild des "Prinz Karneval" in Henrik Pontoppidans Der königliche Gast aus dem Jahr 1908. In dieser Geschichte zerstört ein unerwarteter und nicht geladener Gast geradezu überfallartig die eheliche Idylle und Geborgenheit zwischen der Ehefrau eines Arztes und ihrem Mann. Oder anders gesagt: Er erweckt deren vergessene Leidenschaft und den erotischen Funken aus den ersten Tagen ihrer Beziehung wieder zum Leben, indem er auf einem Fest, auf Spannung, auf dem Unerwarteten und Unvorhersehbaren und – nicht zuletzt – auf Kunst und Schönheit besteht. Der eintönige Alltag rückt für eine Weile in den Hintergrund, doch dafür halten Eifersucht und Disharmonie Einzug. Im Übrigen bleibt es ungeklärt, um wen es sich bei dem Fremden handelt – um einen Zugereisten, der eigentlich den Pastor des Ortes besuchen wollte, ihn aber zu Hause nicht vorfand, um einen Schmarotzer oder möglicherweise einen Repräsentanten des Übernatürlichen? Vielleicht sogar eine Personifikation des Unterbewusstseins des Ehepaars? Rein genremäßig nähert sich die kleine Geschichte auf diese Weise einer fantastischen Erzählung mit dem dazu gehörenden Zögern bei der Interpretation. Der königliche Gast wird dadurch zu einer absoluten Ausnahme in Pontoppidans sonst durchgängig realistischem Universum. Inhaltlich hingegen kommt die Erzählung Georg Brandes' Forderung nach einer Diskussion über die Ehe und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern allerdings sehr nahe.

Henrik Pontoppidan debütierte 1881 mit Erzählungen, die ebenso wie seine weiteren ersten Veröffentlichungen von einem starken sozialen Engagement und Mitgefühl für die Armen auf dem Land geprägt waren. In seinen späteren Romanen und Erzählungen interessierte er sich zunehmend für psychologische und existenzielle Beziehungen. Sein Werk bewegte sich somit von der Konzentration auf die sozialen und politischen Bedingungen hin zu einem steigenden Interesse an dem Verhältnis zwischen Ideal und Wirklichkeit – sowohl bei der Wahl des Berufs und der Profession wie in der Liebe.

Häufig bleibt das Ende von Pontoppidans Büchern offen. Der dänische Literaturkritiker Vilhelm Andersen hat für diese offenen Enden und nicht ganz durchschaubaren Schlussfolgerungen bei den diversen Problemen, die Pontoppidan zur Debatte stellte, den Begriff 'Tvesyn' geprägt – was so viel wie 'Doppelansicht' bedeutet. Mit diesem Begriff – der in der dänischen Literaturgeschichte tatsächlich nur im Zusammenhang mit Pontoppidan verwendet wird – lässt sich auch Der königliche Gast kennzeichnen. Trotz einer allwissenden Erzählerstimme kommen wir zu keiner endgültigen Beurteilung der Ehe der beiden Hauptpersonen vor und nach dem Besuch des sonderbaren Fremden. Das Rätsel um den Gegensatz zwischen ehelicher Geborgenheit und leidenschaftlicher Liebe wird nicht gelöst.

Durch die gesamte Erzählung zieht sich eine zweideutige Sündenfallthematik. Der Fremde ist umgeben von Teufelsmetaphern und entsprechenden Andeutungen. Während seiner Einführung in den Danse macabre erklärt er: "Wenn man selbst nicht ein bisschen vom Teufel im Leib hat, versteht man nichts von den Werken eines Genies. Und auch nicht von denen unseres Herrgotts." Und das mürrische Küchenmädchen glaubt ganz sicher zu sein, Schwefel gerochen zu haben, nachdem der Fremde den Schauplatz verlassen hat. Angeblich hat er eine Überzeugungsgabe, "die man einem gewissen Herrn zuschrieb, von dem es hieß, dass er, hätte man ihm erst einmal den kleinen Finger gereicht usw. …" Laut Sprichwort nimmt er dann gleich die ganze Hand.

Außerdem verfügt er über muntere "Ziegenbockaugen", die sofort an einen griechischen Satyr denken lassen – dies passt zu den Ideen des Modernen Durchbruchs über die angeblich sündenfreie und lebensfrohe Erotik des antiken Griechenlands. Und nicht zuletzt assoziiert man damit berauschende dionysische Auftritte. Obendrein bringt der Fremde "ein Skål auf das bocksfüßige Gefolge des Märchengottes aus, auf all die kleinen Herzensdiebe, Verstandesräuber und Störenfriede beim Schlafen, die im königlichen Haushalt der Natur einen ähnlichen Zweck erfüllten wie gewisse Fäulniskeime in edlen Champagner-Weinen: Sie schenkten dem Trank des Lebens sein Bouquet und ließen ihn moussieren." Was spießbürgerliche Zeitgenossen als gottlos empfinden, ist in Wahrheit ein Ausdruck für Lebensfreude und Lebensentfaltung, die aber notwendigerweise nicht immer ganz den Idealen entsprechen. Der Teufel und Pan sind verwandt.

Soll man die Erzählung als eine berechtigte Auseinandersetzung mit der Ehe und der Gewohnheitsliebe der Biedermeierzeit lesen – und somit als eine Huldigung an den Trieb und die Natur auf Kosten der Kultur –, oder soll man sie eher als einen Beleg dafür nehmen, dass gewisse Werte des Daseins prinzipiell unvereinbar sind? Idylle und Spannung, gegenseitiges Vertrauen und Erotik, Ehe und Leidenschaft. Zweifellos gibt es in der Geschichte der beiden Eheleute und ihres Zusammenlebens Elemente ernsthafter existenzieller Überlegungen und damit auch der "Zweideutigkeit" des Autors – obwohl alles aus der Distanz gesehen wird und daher mit einem Anstrich von elegantem Humor erzählt werden kann.

Neben der Frage der Ehe gibt es noch ein weiteres Thema in dem kleinen Roman: den Blick auf die beiden Geschlechter. Ein beliebter Diskussionsstoff der damaligen Zeit war, inwieweit die Anziehungskraft zwischen Männern und Frauen auf der Geistesverwandtschaft der beiden Partner beruht, zum Beispiel in ihren Lebensanschauungen, in ihrem Temperament oder ihrer Sicht auf die Liebe. Oder liegt es eher daran, dass die beiden Geschlechter nun einmal grundverschieden sind – auch über das rein körperliche hinaus? Ähnlich wie in vielen anderen kürzeren Erzählungen Pontoppidans (aber im Gegensatz zu den Geschlechterrollen in den großen Romanen) sind Arnold und Emmy verschieden – auf verhältnismäßig traditionelle Art und Weise. Doch gerade dadurch entzündet sich der erotische Funke zwischen ihnen, denn in ihrem Alltag sind sie sich allzu ähnlich geworden, und ihr Meinungsaustausch beschränkt sich auf die Bauchschmerzen der Kinder, Nachbarschaftsstreitigkeiten oder die eventuelle Anschaffung einer neuen Hühnerrasse für den Garten. Doch es braucht ganz einfach etwas Teuflisches und Disharmonisches im Leben, damit es ernsthaft wert ist, gelebt zu werden. Emmy hat offensichtlich nicht nur eine größere Liebesfähigkeit als Arnold, sondern auch ein deutlich nuancierteres psychologisches Verständnis von sich und ihrem Partner. Arnolds Jähzorn, seine Selbstzufriedenheit und seine ungerechtfertigte Überreaktion trifft auf die Ironie des Autors. Auch der königliche Gast sieht sich dieser Ironie ausgesetzt, obwohl sein Vorhaben zunächst Erfolg hat – und dem Leser unmittelbar sympathisch ist. Der Fremde drückt sich in einer gekünstelten Sprache aus, er gerät furchtbar in Verlegenheit und wirkt wenig glaubwürdig, als er den Nachnamen des Pastors nicht kennt, den er angeblich besuchen will, und seine Leibesfülle wird mal als passende Illustration für einen Repräsentanten der Lebensfreude, dann wiederum als ein wenig unästhetisch beschrieben, als er Emmy Rosen ins Haar steckt und ihr dabei allzu nahe kommt.

Auch die schläfrige eheliche Idylle wird zweifellos ironisch betrachtet. Zumal sie obendrein durch einen soliden Zaun gegen den heftigen Westwind abgeschirmt ist, und an dem betreffenden Abend zusätzlich durch den herabrieselnden Schnee – wir befinden uns schließlich in der Karnevalszeit.

Emmy hingegen trifft die Ironie nicht. Sie ist ganz einfach nett, klug und liebevoll. Eine gewisse Wehmut liegt über der Beschreibung ihrer Person, die belegt, dass eine lebenslange, totale Faszination für denselben Partner nicht möglich ist, und dass ein zufriedenstellendes Alltags- und Familienleben auch den Traum des Unerreichbaren enthalten kann – und vielleicht sogar muss. In jedem Fall ist Arnold, der Mann und Herr des Hauses, fanatisch, starrsinnig und ein wenig komisch in seiner Überreaktion, während seine Frau Emmy eindeutig mehr Talent zur Liebe und Zärtlichkeit hat als er.

Die gleiche Zuschreibung menschlicher Eigenschaften findet sich in anderen Büchern Pontoppidans. Gleich in mehreren dieser Werke ist die Selbstzufriedenheit des Mannes und das mangelnde Verständnis für die Gefühle der Frau und ihre Fähigkeit zu Empathie und Fürsorge durch sein umfassendes Engagement in der Kunst oder der Politik begründet, durch die seine Kraft und seine Fähigkeit zum Kampf mobilisiert wird, die ihn aber gegenüber dem geliebten weiblichen Partner unaufmerksam und gefühllos werden lässt. Ein durchgehendes Motiv ist, dass sein Kampf im Arbeitsleben, seine Forderung nach einer strikten und einwandfreien Moral, seine "Alles oder Nichts"-Haltung, die Frau an seiner Seite, die er vernachlässigt oder geradezu brutal von sich stößt, indirekt umbringt.

Ein ähnliches Ergebnis, wenn auch in umgekehrter Form, erreicht Arnold – mit einer leicht komischen Wirkung, denn das Vergehen seiner Ehefrau ist doch mikroskopisch klein und imaginär. Arnolds einigermaßen voreingenommene Erklärung lautet: "Er entschuldigte sie, denn sie war eine Frau, das heißt ein Wesen mit einem abnormen Gefühlsleben und entsprechend verschwommenen und verworrenen Gedanken." Und "er musste die Wahrheit des Wortes erkennen, dass auf dem Grunde des Herzens selbst der unschuldigsten Frau eine giftige Natter ihren Winterschlaf hielt. Lediglich Zufälligkeiten entschieden, ob sie weiterschlummern durfte oder zum Leben erweckt Verderben bringen würde." Wir glauben Arnold nicht – oder doch, vielleicht ein bisschen?

Odense, im Frühjahr 2017
Lise Præstgaard Andersen