Rezension

Henrik Pontoppidan: Kaum ein Tag ohne Spektakel. Erzählungen und Feuilletons. Wallstein-Verlag, Göttingen 2023. Aus dem Dänischen übersetzt von einem Kollektiv. Hrsg. von Marlene Hastenplug und Ulrich Sonnenburg. 232 S., Fr. 28.90.

Mit achtzehn Jahren wäre sein Leben fast schon wieder vorbei gewesen. 1876 lässt sich der Däne Henrik Pontoppidan von einem bergbegeisterten New Yorker immer weiter in die Schneefelder der Schweizer Alpen hineintreiben. Den Gipfel des Faulhorns bei Grindelwald erreicht er in der Nacht nicht mehr. Während dem Amerikaner der Aufstieg zu einer Hütte gelingt, bleibt Pontoppidan zurück.

In Eis und Schnee kämpft er gegen den Tod. Sieben Stunden lang zählt er die Sterne über sich und die Seiten seines "Baedekers", um nicht einzuschlafen. Jetzt zu sterben, wäre eine Niederlage vor dem Vater, der ihn vor der Hybris dieser Reise gewarnt hat. Den Zweifel hat der pietistische Pastor in seinen Sohn gesenkt, aber es ist gut möglich, dass hier in den Bergen etwas aufgeht: der Wunsch zu schreiben.

Im Werk Henrik Pontoppidans, des fast vergessenen Literaturnobelpreisträgers von 1917, funkeln die Sterne teilnahmslos über den Menschen. Das satte Grün der Natur steht an den dänischen Küsten und an den Mooren, in die sich diese Menschen stürzen, wenn sie nicht mehr weiterwissen. Den Kontrast aus unschuldiger Schöpfung und erschöpftem Volk hat der Schriftsteller immer wieder beschrieben.

Trinker und Kranke

Er hat über die Mechanisierung der Welt und über die Entfremdungen der Moderne geklagt, aber nicht als Linker, sondern als Konservativer. Der aus der Welt verschwundenen Seele wollte er in der Literatur wieder Gestalt geben. Und so sind die Geschichten, die man jetzt im Sammelband "Kaum ein Tag ohne Spektakel" nachlesen kann, halb realistisch, halb metaphysisch.

Der Titel des Buches klingt spektakulärer, als es die darin enthaltenen Erzählungen und journalistischen Texte sein wollen. Bei Pontoppidan werden die dänischen Landschaften und Städte zu Ernstfallgegenden des Schicksals und der Moral. Eine jahrhundertealte und unbarmherzige Kirche stürzt lebensfrohe junge Menschen ins Unglück. Das Pathos der Kanzeln passt nicht zum Leid der Menschen, die bei Pontoppidan in bitterster Armut leben und sich nicht selten selbst dahin gebracht haben. Trinker zerstören ihre Familien, Krankheiten tun ein Übriges.

Die Geschichte "Ane-Mette" ist ein Klassiker dänischer Schullektüre und eines der Glanzstücke von Pontoppidans empathischem Realismus. Eine Mutter muss die Gebeine ihres lange schon verstorbenen Kindes aus dem Grab holen, weil der Platz im Friedhof bei Lillelund für die Leiche einer reichen Tochter gebraucht wird. Für die Reste von Ane-Mette häuft die Mutter in einem Winkel des Friedhofs Erde auf.

Henrik Pontoppidans Erzählen ist ganz bei ihr, in einem tatsächlich modern wirkenden Close-up. Daneben erzählt er die Vorgeschichte. Die Fiebernacht, in der Ane-Mette gestorben ist, während der trinkende Vater die Leute mit seinen Delirien beschäftigt hielt. Wie aus dem Nebel taucht diese Vergangenheit auf und fügt sich in Pontoppidans philosophisches Programm: die Menschen in ihrer Ausgesetztheit zu zeigen.

Der Däne ist ein Meister literarischer Genremalerei. Das ländliche 19. Jahrhundert ist ein Elendsquartier, in dem man sich von der schönen Natur rundum nichts kaufen kann. In den Fjorden steht das mannshohe Schilfrohr, darüber sind die Bäume herbstlich bunt. "Wenn die Sonne weit hinter den sich blau färbenden Höhen untergeht, erhebt sich ein fast ohrenbetäubendes Spektakel an Vogelgeschrei", schreibt Henrik Pontoppidan, "ein Wirrwarr aus Hunderten Stimmen, das wie ein Höllenkonzert in den paradiesischen Frieden der einsamen Höhen dringt." Es ist wie bei Adalbert Stifter: Die Natur ist in einer ewigen Dialektik aus Gut und Böse, aus Paradies und Hölle gefangen. Und der Mensch mit ihr.

Wenn Pontoppidan literarisch nicht um die bitterarmen Katen an der dänischen Küste zieht, dann nimmt er die Städte aufs Korn. Den dummen Distinktionsbetrieb derer, die selbst vom Land kommen. Oder den Pomp königlicher Geburtstagsfeiern. Wenn es sein muss, dann ist der Schriftsteller auch Satiriker. Er nimmt sich, wie in der Erzählung "Der erste Gendarm", der Dörfer an, die die Ehre kaum erwarten können, einen eigenen Gendarmen zu haben. Der Glanz der Uniform verblasst allerdings schnell neben der Überzeugung, dass man ohne allzu viel Recht und Ordnung auch zurechtkommt. So schnell, wie der erste Gendarm ins Dorf kommt, ist er auch wieder draussen.

Ein grosser toter Dichter

Dass Henrik Pontoppidan die Psychologie des Dörflichen so gnadenlos durchschaut, kommt ihm auch zugute, als er eines Tages nach Berlin reist. In einem Feuilleton beschreibt er die Stadt als gnadenlos mit Schmuck behängte Dame. Mit hartnäckigem Unverstand wird überall polierter Granit verbaut: "Man ist erstaunt, aber nicht beeindruckt, ja man fühlt sich manchmal fast beschämt."

Seinen Literaturnobelpreis musste sich Henrik Pontoppidan 1917 mit dem Landsmann Karl Gjellerup teilen. Gjellerup, heute noch mehr vergessen als Pontoppidan, kaufte sich mit dem Preisgeld eine Villa im Dresdener Stadtteil Klotzsche, starb aber schon ein Jahr danach. Pontoppidan lebte bis 1943. Von den vielen Versuchen, sein Werk auch international für die Moderne zu retten, hat der Schriftsteller noch einige erlebt.

In seiner berühmten "Theorie des Romans" widmet sich Georg Lukács gleich über mehrere Seiten Pontoppidans Opus magnum "Hans im Glück". Der "Bewegungsbeziehung von Seele und Welt" im Roman geht Lukács nach und bringt den dänischen Autor in die Nähe jener marxistischen Theorien, die mit den ökonomischen Wirklichkeiten der Moderne auch die Entfremdung des Menschen von sich selbst heraufziehen sehen.

Tatsächlich war Henrik Pontoppidan ein präziser Beobachter von Entfremdungsprozessen. Ernst Bloch war neben Lukács ein anderer marxistischer Theoretiker, der sich im Doppelblick auf den dänischen Pastorensohn übte. "Dieser Roman veraltet nicht, weil er das Veralten von vornherein in sich aufgenommen hat", schreibt der Philosoph über "Hans im Glück". Pontoppidans Pech ist es, dass die ersten Worte von Blochs Würdigung bis heute wahr geblieben sind: "Ein grosser Dichter ist tot gemeldet. Vielleicht wird er jetzt oder in naher Zeit erst anfangen zu leben."