Das große Gespenst

Eine Erzählung. Von Henrik Pontoppidan. – Mit Zeichnungen von Knud Larsen.

– – Eines Tages hat man sich während eines Spaziergangs zum Ausruhen auf einen Hügel gesetzt und hört von hier eine ferne Kirche die Sonne herunterläuten.

Die Stille des Abends, die roten Wolken am Himmelrand und jener gerade noch hörbare Glockenklang, der mitunter vollkommen verschwindet, erfüllen einen mit eigentümlicher Wehmut, einem schwärmerischen Gefühl von Ohnmacht, in dem sich ein Hauch von Schuld verbirgt. Es scheint, als habe man sich etwas vorzuwerfen; und schließlich beginnt man sein Gewissen ernsthaft auf der Spur nach dem ein oder anderen nicht verbüßten Vergehen zu durchsuchen. Jeder alltägliche Verstoß, jedes lieblose Wort, das einem entwischt ist, jedes kleine Versäumnis, dem man sich schuldig gemacht hat, schwillt hier in der Einsamkeit zu sagenhafter Größe an und beunruhigt das Herz.

Doch nun zieht eine vorbeifliegende Schwalbe die Aufmerksamkeit auf sich, das Bewusstsein sammelt sich wieder und man amüsiert sich eine Weile über die waghalsigen Schleifen, die der kleine Vogel in seinem rastlosen Flug in die Luft malt. Sobald aber der Vogel außer Sichtweite ist, fällt man hilflos in die vorige Stimmung zurück, und erneut weckt die Andacht allerart unheimliche Schuldgefühle aus ihrem Tiefschlaf. Die gesegnete Stille rundherum, das wie in Blut getränkte Abendrot, die funkelnden Sterne – die ganze Natur scheint Anklage gegen einen zu erheben, und man widmet sich dem Anblick eines barfüßigen Hütejungen, neidisch ob der munteren Sorglosigkeit, mit der er über das Feld läuft und mit seiner Peitsche schlägt, – – als wäre man vor bloß einer halben Stunde nicht selbst glücklich und zufrieden seines Weges gegangen und hätte einen Lobgesang auf das Leben und dessen Herrlichkeit gesummt.

Doch nun zeigt sich noch etwas anderes, das die Aufmerksamkeit auf sich lenkt, und das Nachdenken aus der alptraumhaften Stimmung befreit. Diesmal ist es ein Wagen, ein ärmlicher Einspänner, der sich weit unter uns am Fuß der Hügelkette über die Landstraße schleppt. Trotz der Entfernung erkennt man das alte, weiße Pferd und den Mann, der vornübergebeugt, den Arm auf das Knie gestützt, dahinter sitzt und die Zügel schlaff hängen lässt. Dann errät man auch, was er da Langes unter einer Decke auf der Ladefläche versteckt. Es ist der Sarg seines alten Freundes und Nachbarn Søren Kousted, der seiner Zeit erst neulich ein Ende gesetzt hat. Der strebsame und allgemein angesehene Mann hatte sich zuletzt etwas seltsam verhalten, war am vergangenen Sonntag während des Gottesdienstes in seinen Holzschuppen gegangen und hatte sich dort erhängt. Weshalb? Niemand weiß es.

Während der Blick dem traurigen Fahrzeug folgt, denkt man daran, dass solche Begebenheiten hierzulande ja bald zur Tagesordnung gehören, wo doch das Leben eine so sichere Gestalt annimmt, wo jeder genug zu essen hat, wo keine Feuer- oder Wasserflut, kein Wüstensturm oder Heuschreckenregen die Früchte unserer Arbeit bedrohen. Man denkt daran, dass in dem Gewimmel aus stattlichen Höfen und einladenden Häuschen, die in dieser fruchtbaren Gegend verstreut sind, kaum ein Zuhause nicht die ein oder andere dunkle Erinnerung birgt, einen Winkel auf dem Dachboden oder im Schuppen hat, den die Bewohner am liebsten meiden, und von wo aus nachts bleiche und blutige Gestalten ins Dorf schweben und die unruhigen Träume der Schlafenden bevölkern.

Wir Dänen, sonst so träge, umständlich und misstrauisch, lassen uns eigenartig schnell vom Tod beschwatzen. Wir, die so unbefangen und lebensfroh wirken und nur selten vor großen Gefahren zurückschrecken, haben doch so wenig Widerstandskraft, wenn das Grab mit seinem Frieden lockt. Dort, in dem großen, prächtigen Gehöft, dessen Fenster im Schein des Sonnenuntergangs wie eine Reihe Goldstücke auflodern, lebten bis vor kurzem ein Bauer und seine Frau in glücklichen Verhältnissen. Sie waren kerngesund und hatten viele Kinder, die sich alle gut machten. Dann überkam die Frau plötzlich eine sonderbare Schwermut, und eines Tages lief sie in den Milchkeller und schnitt sich mit einem Brotmesser die Kehle durch. Und weshalb? – Niemand weiß es.

Unter dem unruhigen, wolkenverhangenen Himmel des Nordens lauert ein Basilisk den schwachen Augenblicken unserer Nachdenklichkeit auf. Wenn wir uns gerade zur Dämmerung vom winterlichen Knistern des Kachelofenfeuers in Träume einlullen lassen oder dem freudig sommerlichen Zwitschern einer Lerche zuhören, kann das Ungeheuer sich in uns schleichen und heimlich das Mark aus unserem Willen saugen. Wir können uns niemals ganz sicher davor fühlen. Plötzlich kann es uns aus einem farbenfrohen Blumenkelch oder vom Grund eines Brunnens entgegenstarren. Es kann sich im Klang einer fernen Kirchenglocke verstecken, der wir in Einsamkeit lauschen, oder hinter einer belanglosen Alltagsbemerkung verbergen, die uns, seit wir sie zufällig aufgeschnappt haben, auf Schritt und Tritt verfolgt und mit einem so aufdringlichen, mahnenden Klang in unserem inneren Ohr widerhallt, dass wir schließlich meinen, darin eine überirdische Stimme, einen Ruf zu hören. – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

In einer Lehmhütte auf einem kleinen Bauernhof am Rande der Pfarrgemeinde lebten Søren Kousted und seine Frau. Søren war ein stiller, gottesfürchtiger Mann, der unter Fremden einen etwas verzagten Eindruck machen konnte, während er sich daheim sichtbar als autoritärer Hausvater behauptete. Nach einem beschwerlichen Leben war er nun grau und krumm geworden. Der Ausdruck auf seinem kantigen Gesicht erzählte von dem leicht betrübten Frieden, der einen beschäftigten Menschen überkommen kann, wenn er den Kampf des Daseins erfolgreich bestritten hat und das Leben nun als leer empfindet, da es keine Hürden mehr zu überwinden gibt.

Unter Zucht und Zwang hatte er seine Kinder von klein auf, der Schrift wortgetreu und dem Gesetz Gottes nach, erzogen, und es war ihnen allen gut ergangen. Die Jüngste unter ihnen, die kleine Kirstine, hatte nach ihrer Konfirmation sogar das Ansehen genossen, bei den Pfarrleuten dienen zu dürfen, die in dieser Gegend höchst angesehen und beliebt waren.

"Damit ist dir wahrhaft eine große Ehre widerfahren", hatte Søren Kousted seiner Tochter an dem Tag gesagt, als sie verpflichtet wurde, während er sich an der testamentlichen Ausdrucksweise versuchte, die er zu solchen Anlässen an den Tag zu legen pflegte. "Die ein oder andere Bauerstochter wird dich bestimmt darum beneiden. Zeig nun, dass du es verdient hast!"

Diese Worte vergaß Kirstine nie. Obwohl sie klein und noch halb ein Kind war, tat sie ihren Dienst in Küche und Keller, als hätte sie Männerarme. Sie wirkte nie zufriedener, als wenn es um sie herum nur so dröhnte vor Wäsche und Großputz, Brauen und Backen. Sie war außerdem das einzige Dienstmädchen in dem recht großen Haus, daher mangelte es ihr nie an Gelegenheiten, mit Arbeitseifer Dankbarkeit für die ihr vergönnten Begünstigungen zu zeigen, die die Hausmutter wohl auch gern von ihrem Gesinde empfing.

Da sie noch dazu ein schönes Mädchen mit nettem, zurückhaltendem Wesen war, mochten die Pfarrleute sie bald und schenkten ihr zunehmend mehr Vertrauen. Die Hausherrin, der die Hitze sonst schnell von Herz zu Kopf stieg, wagte es kaum sie zu schelten, so unglücklich wurde Kirstine über jedes kleine Missgeschick. Als sie in den ersten Tagen versehentlich eine Tasse zerbrochen hatte, war sie ganz untröstlich gewesen und hatte nur schwer mit dem Weinen aufhören können. Die Erinnerung an die feste Hand des Vaters saß ihr immer noch mit Angst und Scham im Nacken.

Kirstine war nun in ihrem siebzehnten Lebensjahr und hatte ungefähr ein Jahr lang am Pfarrhof gedient, als sie am Mittsommerfest einen jungen Mann mit jenen hellblonden, hobelspanartigen Locken traf, denen kaum ein Dorfmädchen widerstehen kann. Sie verliebten sich ineinander und trafen sich nach einiger Zeit heimlich nachts, nach gewohnter Manier der kleinen Leute.

Kirstine erlitt aus diesem Grund viele Gewissensbisse. Sie wusste, wie streng die Pfarrleute Derartiges verurteilten und schwor sich jeden Tag, der Versuchung zu widerstehen. Doch wenn sie abends ihre Kammer betrat, Stille im Haus eingekehrt war und sie den leisen Pfiff des Geliebten vom Gartenzaun hörte, war es vorbei mit ihrer Standhaftigkeit, und sie ließ ihn durchs Fenster herein oder schlüpfte selbst auf diesem Weg hinaus, um mit ihm durch die sternenklaren Herbstnächte zu spazieren.
 

Einige Monate verlief alles gut, doch dann begann die Pfarrfrau Verdacht zu schöpfen. Etwas viel zu Übertriebenes und Fieberhaftes lag in dem Arbeitseifer, mit dem Kirstine tagsüber die nächtlichen Sünden wettzumachen versuchte. Die Hausherrin merkte außerdem, dass sie ihr nicht mehr direkt in die Augen sah, und sprach schließlich mit ihrem Mann darüber.

Der Pfarrer war für gewöhnlich ein äußerst friedlicher Mensch, einer der Art mild urteilender Geistlicher, der die Leute über Unseren Herrgott, die Hölle und die Weltordnung glauben ließ, was sie selbst für richtig hielten. Allerdings verstand er keinen Spaß, was die Moral betraf. Wie viele seiner Amtsbrüder setzte er sich insgesamt in Gefühlsangelegenheiten für das ein, was die Kirche in letzter Zeit notgedrungen der Vernunft geopfert hatte.

Eines Abends, kurz nachdem sie zu Bett gegangen waren, standen die Pfarrleute wie zuvor abgesprochen wieder auf und gingen in die Küche, um eine nähere Untersuchung anzustellen. Die Hausherrin schritt vorneweg, in Nachthemd und Unterrock, mit einer Kerze in der Hand; dahinter kam der Pfarrer im Schlafrock und mit Brille auf der erhobenen, schnuppernden Nase. Nachdem sie ein paar Mal an Kirstines Zimmertür geklopft hatten, ohne Antwort zu erhalten, öffneten sie sie leise, indem sie den Haken durch den Türspalt mit einer Haarnadel anhoben. Das Zimmer war leer. Doch das Fenster war angelehnt und zeigte ihnen, in welche Richtung die Flucht angetreten worden war. Draußen funkelte ein schöner, weiter Septembersternenhimmel.

Währenddessen lief Kirstine im Arm ihres Geliebten über die Landstraße und ahnte nichts Böses. Sie spazierten gerade aus einem kleinen Wald, der nicht grundlos Liebeshain genannt wurde, und befanden sich nun auf dem Heimweg.

Wenn Kirstine so auf eigene Faust unterwegs war, konnte sie ganz ausgelassen sein. In der Freiheit und unter Einfluss der Liebe schlugen ihre Angst und Gewissensbisse in eine nahezu alberne Lustigkeit um und verwandelten das furchtsame kleine Mädchen in eine Bacchantin. Sie schwang das lose Kopftuch umher und fiel ihrem Geliebten ständig um den Hals, auch wenn dieser allmählich misslaunig wurde und ihre heißen Küsse meistens mit einem langen Gähnen erwiderte.

Sie hatte auch nicht schon jetzt wieder heimkommen wollen. Ganz im Gegenteil. Sie versuchte, ihn mit allerlei weiblicher List zu überreden, noch eine Weile zu bleiben; sie könnten doch zumindest noch ein wenig am Graben sitzen und sich unterhalten, meinte sie und küsste ihn wieder. Doch der Blondgelockte war unerbittlich, und sie trennten sich vor der Ortschaft. – Kirstine kroch durch die Gartenhecke des Pfarrhofs und schlich sich die Mauer entlang zu ihrem Fenster.

Als sie sah, dass das Fenster während ihrer Abwesenheit geschlossen worden und der Haken von innen aufgesetzt war, begriff sie sofort. Eine Weile stand sie mit demütig gesenktem Kopf da. Sie wusste im gleichen Moment, dass sie sterben musste. In ihrem Innern war die Entscheidung bereits gefallen … hatte bloß auf die Erschütterung gewartet, um den Beschluss zu vollziehen. Die vielen empörten Worte der Pfarrleute über andere Mädchen aus der Gegend, die auf Abwege geraten waren, hatten sie überzeugt, dass sie sie fortjagen würden, sobald sie etwas entdeckten, – und diese Scham würde sie nicht überleben. Ohne sich dessen richtig bewusst zu sein – da sie überhaupt in letzter Zeit vermieden hatte, ihre Gedanken zu Ende zu denken – hatte sie ihr Leben Mal zu Mal für die Liebe aufs Spiel gesetzt.

Sie knotete ihr Tuch unter dem Kinn zusammen und ging leise den gleichen Weg zurück, den sie gekommen war. Dass der Geliebte nicht weit entfernt sein konnte und sie ihn leicht hätte einholen können, fiel ihr nicht ein. Für sie waren Stunden und Ewigkeiten vergangen, seit sich ihre Wege getrennt hatten. Sie dachte überhaupt nicht an ihn. Den, für den sie ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, gab es für sie schon nicht mehr.

Als sie den Garten erst einmal verlassen hatte, lief sie schneller, – aufs Geratewohl über die gemähten Felder. Ganz unwillkürlich war ihr Gang jedoch nicht. Eine Art Instinkt führte sie fast auf direktem Weg ins Torfmoor, wo ihre Schulkameradin, die rote Ane, im vorigen Sommer ihre Scham darüber versteckt hatte, der Hausmutter ein Paar Strümpfe gestohlen zu haben.

Erst als sie den Hügelkamm erreichte, von wo aus sich eine Aussicht auf den öden und dunklen Sumpf bot, kam sie ganz zu sich selbst. Im Osten war soeben der Mond über den Wäldern aufgegangen, und sein weißes Licht legte sich wie ein Film auf das Wasser der zwei runden Moorlöcher, die unerbittlich wie ein böses Augenpaar zu ihr heraufstarrten.

Kirstine setzte sich auf einen Erdhügel und brach in Tränen aus. Sie wollte so ungern sterben. – Aber auch jetzt dachte sie nicht an den blondgelockten Freund. Der Gedanke an die Eltern, besonders an ihre Mutter und das kleine, ärmliche Elternhaus dort draußen zwischen den Wäldern, machten ihr den Abschied so schwer. Doch auch gerade die beiden und der Gedanke an den Kummer und Gram, die sie ihnen bereiten würde, machten es ihr so unmöglich, diese Nacht zu überleben.

Sie fühlte sich wie der schuldigste Mensch auf der ganzen Welt. Alle anderen ihr bekannten großen Sünder schienen ihr nun eine Entschuldigung für ihre Verstöße gehabt zu haben, entweder waren sie aus schlechtem Hause gekommen, oder hatten – so wie die rote Ane – eine böse und geizige Hausmutter gehabt. Nur sie hatte nichts zu ihrer Verteidigung zu sagen. Ihr war es in dieser Welt nur gut ergangen. Sie hatte das liebevollste und beste Zuhause auf Erden gehabt und einen Platz bekommen, um den alle Mädchen im Dorf sie beneideten, und wo sie auch nur Gutes zu hören bekam. Wie damals, als sie die Tasse des Pfarrers entzweigeschlagen hatte. Hatte die Hausherrin sie auch nur annähernd gescholten? War sie jemals wieder darauf zu sprechen gekommen? Oder der Pfarrer selbst? … Allein wegen dieser Tasse, wegen der Nachsicht, die sie so schlecht entlohnt hatte, erschien es ihr nun vollkommen unmöglich weiterzuleben. –

Zu diesem Zeitpunkt im Haus der Eltern räumte die alte Mutter halb entkleidet im Schein einer dünnen Kerze herum, die auf einem Tisch zwischen den Fenstern stand. Der Vater hatte längst das Bett aufgesucht. Müde von der Arbeit lag er tief im Stroh versunken und schnarchte schwerfällig mit dem Gesicht zur Wand.

Mariane war ein runzliges, zwergartiges Dickerchen. Sie stand am Tisch und war damit beschäftigt, ein Tuch um ihren großen, fast kahlen Hinterkopf zu wickeln, dessen Enden sie schließlich mit einer Nadel über dem Scheitel befestigte. Sie ließ sich mit allem viel Zeit. Allerdings war es auch nicht vonnöten, dass sie zu so später Stunde noch auf war und sich während des Entkleidens ständig mit diesem und jenem in der Stube oder der angrenzenden kleinen Küche beschäftigte. Dieses nächtliche Treiben war eine alte Gewohnheit aus der Zeit, als ihre Kinder noch im Haus lebten, und sie oft die halbe Nacht aufbleiben musste, um deren Kleider auszubessern. Es gab immer so viel zu flicken und zu stopfen, und Søren duldete keine Nachlässigkeit. Nun waren alle Kinder in die Welt ausgezogen und gingen ihren eigenen Weg, doch sie konnte nachts noch immer nicht richtig zur Ruhe kommen, ehe sie ein paar Stunden allein herumgekramt und sich in Gedanken genauso um sie gekümmert hatte wie in alten Zeiten.

Schließlich entkleidete sie sich ganz und löschte das Licht. Im hellblauen Mondschein, der zwei leuchtende Fenstervierecke auf den dunklen Lehmboden malte, setzte sie sich auf die Bettkante, zog die Beinlinge zur Hälfte von den geschwollenen Waden, band sich ein altes Stück Wolle um den Bauch und kroch ins Stroh neben ihren Mann. Stöhnend ordnete sie die steifen Glieder unter der Decke, lag jedoch noch lange wach. In ihrem eingewickelten Kopf rumorten immer so viele beängstigende Gedanken, wenn sie das strenge "Tick-Tack" der Standuhr und die Ratten auf dem Dachboden hörte.

Endlich wurden die Augenlider schwer. Sie faltete die Hände über der Brust und murmelte ihr Abendgebet:

"Nun will ich dir danken, Herr, für Gesundheit und Wohl. Erlöse uns von Sünde und Sorge und den Versuchungen des Bösen. Das Gleiche sag ich für dich, Per; für dich, Sofie; für dich, Ane-Mari; für dich, Hans Jørgen, und für dich, kleine Kirstine. Gott Vater im Himmel nehme uns in seine Obhut."

Sie hatte eine Stunde geschlafen, als sie plötzlich erwachte. Es kam ihr vor, als hätte sie jemanden untröstlich weinen hören, und sie war kurz davor, Søren zu wecken, als ihr einfiel, dass sie das selbstverständlich nur geträumt hatte. Bis auf die Uhr konnte sie nun nichts hören, und sie schlief schnell wieder ein.

Doch es war keine Einbildung gewesen. Auf den Steinen vor der Haustür saß Kirstine. Sie hatte sich nicht überwinden können, aus dem Leben zu scheiden, ohne Abschied von ihrem Elternhaus zu nehmen, an das sich zuletzt all ihre Gedanken in Todesangst geklammert hatten. Nun saß sie zusammengekauert in ihrer Schürze versunken und drückte die Wange gegen die raue Tür, wie ein Kind, das Schutz im Rock der Mutter sucht. Sie weinte unaufhörlich und gab sich nicht immer Mühe, die Geräusche zu dämpfen. Einige Male begann sie zudem nach den Eltern zu rufen – ganz leise und doch in der Hoffnung gehört zu werden, gleichzeitig drauf und dran, bei jedem noch so kleinen Laut aus dem Haus die Flucht zu ergreifen.

Plötzlich vernahm sie neben sich ein Miauen. Die weiße Hauskatze hatte sich an der mondbeschienenen Mauer entlanggeschlichen und strich nun schmusend um ihre Beine.

Mit abergläubischer Scheu, die der aufkeimende Wahnsinn in ihr hervorbrachte, versteckte sie sich zuerst vor ihr. Doch als die Katze sich weiter an sie drückte und besonders, als sie mit jenem vertrauten Laut schnurrte, der die Erinnerung an heimelige Winterabende am warmen Ofen erweckte, überwand sie ihre Angst und nahm sie auf den Schoß. Jetzt schüttete sie der Katze ihr vor Todesangst schmerzendes Herz aus, drückte sie an ihre Brust, kraulte ihre taufeuchten Pfoten und bat sie, Vater und Mutter zu sagen, sie dürften nicht wütend auf sie werden, sie sei so unglücklich gewesen.

Schließlich aber empfand die Katze ihre Liebkosungen als zu viel des Guten und begann zu fauchen. Sobald sie sie losließ, sprang sie davon. Da war sie wieder allein mit ihrer Reue und Verzweiflung. Sie verbarg das Gesicht in den Händen, um Mut für das letzte Lebewohl zu sammeln.

Da hörte sie den Vater husten. Kurz darauf knackte das Bett, – und im gleichen Atemzug hatte sie das Haus in Windeseile hinter sich gelassen.

Wie immer um diese Zeit wurde Søren Kousted von einem natürlichen Bedürfnis aus dem Bett gezwungen. In bloßem Hemd und nur in Holzpantoffeln stellte er sich auf die Steine vor der Tür, und während der Wind um seine zu kurzen Ärmel wehte, ließ er den Blick schlaftrunken über den Himmel schweifen, um das Wetter vorherzusagen. Gerade jetzt war keine einzige Wolke zu sehen. Der Mond schien ihm direkt ins Gesicht. – Søren verlor sich ganz in der Bewunderung dieser schönen Nacht.

Dann schloss er die Tür und kroch mit dem wohltuenden Gedanken ins warme Bett, dass es noch einige Stunden bis zum Morgen waren.

Doch schon im Morgengrauen waren er und Mariane auf den Beinen. Søren begann, etwas Brennholz im Schuppen zu spalten, während Mariane Milchgrütze kochte, und als sie gegessen hatten, nahm er die Schaufel und ging zur Arbeit in die nahegelegene Kiesgrube.

Im Großen und Ganzen verlief der Tag in dem kleinen Bauernhaus zunächst gewöhnlich, da sich das Gerücht, das im Dorf bereits alle Gemüter erregte, nur schwerlich bis dorthin herumsprach. Der Hof war abgeschieden, zu einer Seite hinter hohen Hügeln verborgen, zur anderen mit Aussicht auf einen großen, seichten See, hinter dem sich das Land wieder erhob und mit weitläufigen Wäldern bedeckt war.

Am Vormittag ging Mariane einen kleinen Pfad entlang, der vom Haus zum Seeufer führte, und wo in einer Schneise zwischen Rohr und Schilf eine kleine Waschbrücke angelegt war. Sie trug einen Wäscheklopfer und etwas schmutzige Wäsche bei sich, als sie plötzlich vor Schreck erstarrte. Da war etwas im Schilf. Sie hörte es platschen und tosen, als flüchtete ein großes Tier durch das Dickicht.

Für einen Augenblick kehrte wieder Stille ein, doch vor Schreck lief die alte Frau mit der Wäsche zurück zum Haus. Es nahm sie schnell mit, wenn sie allein unterwegs war und etwas hörte oder sah, das sie sich nicht ohne Weiteres erklären konnte.

Als Søren nach einer Weile zum Essen kam und sie vor den in dicker Soße brutzelnden Speckstücke saßen, erzählte sie von ihrem Erlebnis und scherzte nun mit ihrer Schreckhaftigkeit. Aber mit einem Mal ertönten Schritte von draußen. Mariane drehte sich zum Fenster und erkannte den Pfarrer.

Das Unerwartete an diesem Besuch und die sonderbare Weise, mit der er suchend in der Stube umherblickte, beunruhigte die Eltern sofort. Der Pfarrer war zudem sehr blass.

"Es wird doch nichts mit Kirstine sein?", fragte Mariane.

"Sie ist also nicht hier", sagte er, nachdem er innehaltend die Augen geschlossen hatte. Nun musste erzählt werden, was geschehen war.
 

Indessen hatten sich die Dorfbewohner auf die Suche nach dem geflohenen Mädchen gemacht. Sie durchkämmten im Laufe des Vormittags den Liebeshain und alle nahegelegenen Moorlöcher und Mergelgruben; und als sie bei der Rückkehr des Pfarrers Gewissheit erlangten, dass sie keine Zuflucht im Pfarrhaus1 gesucht hatte, bestand kein Zweifel mehr, dass man sie nur als Leiche wiederfinden würde.

Lediglich die Pfarrleute wollten die Hoffnung auf ihre Rückkehr noch nicht aufgeben. Sie waren hingegen auch die einzigen, die nicht wahrhaben wollten, wie verhängnisvoll ihr strenges Urteil über Kirstines Vergehen hatte werden können. Sie wollten, so sagten sie, darauf hoffen, dass sie mit Gottes Hilfe "zur Besinnung" komme. Damit meinten sie in diesem Fall jene Nachdenklichkeit und Vernunft, von denen der Pfarrer den Leuten in Zeiten von Angst und Zweifel für gewöhnlich abriet.

Doch der Tag neigte sich dem Ende zu, und die ausgesandten Leute kehrten mit ihren Leitern und Schürhaken heim, ohne auch nur die geringste Spur von ihr gefunden zu haben.

In dieser Nacht bekamen die alten Eltern im Bauernhaus am See kein Auge zu. Sie waren ob dieses schweren Schlages wie gelähmt. Während der Mond das kleine Zimmer wieder in leichenweißes Licht tauchte, lagen sie fröstelnd unter der schweren Decke.

Das Wetter war noch immer ruhig, der Sternenhimmel weit und klar. Es regte sich kein Lüftchen. Der Tau lag wie verdichteter Mondschein über dem See und bildete einen Silberschleier – so dicht hing er in den unzähligen Spinnweben, die sich über die Felder und Bäume spannten.

Am See, etwa bei der kleinen Waschbrücke, die vom Ufer ragte, begann sich plötzlich etwas im Schilf zu regen. Eine Gestalt erhob sich aus dem Nebel und spähte umher. Es war Kirstine. Das arme, von Gewissensbissen geplagte Mädchen hatte sich den ganzen Tag im Schilfwald versteckt, ohne den Mut für die Ausführung ihrer Verzweiflungstat aufzubringen. Todesangst, Hunger und Erschöpfung – (Abbildung) – hatten sie schließlich vollkommen mitgenommen. Das Haar hing in langen Strähnen aus dem Tuch, und ihre Kleidung war bis über die Knie durchnässt.

Nachdem das Licht im Elternhaus erloschen war, hatte sie sich bereits einige Male in dessen Richtung gewagt. Sie hatte sich ihm genähert, wobei sie bei jedem Schritt erstarrte, sich umsah und lauschte, doch bei jedem noch so kleinen Laut, den sie zu hören glaubte, ergriff sie erneut die Flucht. Jetzt verschwand sie entsetzt beim Anblick der Katze, die ihr vom Schuppen entgegensprang. –

Am nächsten Morgen wurden die Nachforschungen ohne Ergebnis fortgesetzt. Nachmittags jedoch empfing das Dorf Besuch von einem fahrenden Wollkrämer, der erzählte, er habe im Wald jenseits des Sees ein verrücktes Mädchen überrascht, das unter einem Baum gesessen und Blätter gegessen habe. Er habe sie ansprechen wollen, doch sobald sie ihn erblickt hatte, war sie davongestürzt und im Unterholz verschwunden.

Da sammelte man eilig eine große Mannschaft zusammen, um förmlich eine Treibjagd auf die Unglückliche zu veranstalten. Doch es war zu spät. Sie war bereits tot. Aus Angst entdeckt zu werden, war sie zum See gelaufen und hatte sich nach einem letzten kurzen Zögern hineingestürzt.

Hier fand man sie tags darauf nah am Ufer, den Kopf nur wenige Zoll unter Wasser. Sie hatte sich beim Hineinstürzen die Schürze über das Gesicht gezogen und die Hände wie zum Gebet gefaltet.

In der kleinen, elterlichen Stube herrschte am Nachmittag großer Andrang an Verwandten und neugierigen Bekannten, die ihr Beileid bekunden und Beistand zum Totenkleid leisten wollten. Doch als Frauen aus der Nachbarschaft die Leiche im Schuppen wuschen und herrichteten, saß Mariane mit zuckendem Kopf auf der Bettkante und wiederholte stetig unter Tränen, Kirstine habe "es gar nicht nötig gehabt". Die Pfarrleute hätten ihr gewiss vergeben und Søren sicher auch.

"Denn wir haben es in unserer Jugend doch auch nicht anders gemacht", rutschte es ihr einmal verzweifelt heraus.

Unter den Besuchern war auch Marianes alter Vater, ein achtzigjähriger Trunkenbold aus dem Armenhaus, der, sobald er von dem Unglück gehört hatte, herbeigewackelt war, – jedoch weniger um zu trösten, als in der Hoffnung, unter solchen Umständen, müsse doch auch "etwas Gutes bei rumkommen".

Eine Weile leckte er seine trockenen Lippen und sagte dann, nur um überhaupt etwas zu sagen:

"Ja ja, Søren. Vielleicht warst du auch ein bisschen zu streng mit dem Kind."

Bei diesen Worten schaute Søren den Alten missbilligend an, antwortete aber nicht. Er hatte in den letzten Tagen allgemein kaum gesprochen. Doch nachts, als er sich ruhelos im Stroh wälzte, hallten die Worte mit einer festen, herrischen Stimme in seinen Ohren wider. "Vielleicht warst du auch ein bisschen zu streng mit dem Kind." Schließlich begann auch die alte Standuhr in der Stille der Nacht darüber zu sprechen. Søren faltete seine Hände wie zum Schutz vor bösen Geistern und antwortete mit dem Wort der heiligen Schrift: "Wer sein Kind liebhat, der züchtigt es bald"2, und da schlief er schließlich beruhigt ein.

Am Morgen stand er noch vor Sonnenaufgang auf, zog mit Marianes Hilfe seine Festtagskleidung an und ging in die Stadt, um – ganz wie es das Gesetz verlangt – den Todesfall "unverzüglich" dem Nachlassgericht zu melden.

Der Weg war knappe drei Meilen3 lang, es kam ihm aber nicht so vor, da er genug zum Nachdenken hatte. Das Anliegen beim Amt war schnell erledigt, und nachdem er in der Kellerschenke einen Kaffee zu seinem Butterbrot getrunken hatte, machte er sich rasch auf den Heimweg.

Inzwischen war es später Nachmittag. Der Himmel war bedeckt, und es fiel leichter Nieselregen. Søren bemerkte jedoch nichts davon. Er musste noch immer über so vieles nachdenken. Die Worte des alten Großvaters rumorten unaufhörlich in seinem Kopf, der ohnehin schon wegen seines Schlafmangels geschmerzt hatte. Nun erschien es ihm, als hätte ihn auch der Prokurist auf der Behörde so seltsam betrachtet. Er meinte, beinahe etwas Anklagendes in seinem Blick gelesen zu haben, als er die Feder eingetaucht und Kirstines Alter erfragt hatte. Es hatte ihm wie auf die Brillengläser geschrieben gestanden:

"Warst du nicht auch ein bisschen zu streng mit ihr, Søren Kousted?"

Kalter Schweiß trat auf seine Stirn, während er über die Landstraße lief und es allmählich immer dunkler wurde, ohne dass es ihm auffiel. Er ging gedanklich seine Bibel durch und fand in Erzählungen wie jener über Abrahams Gehorsam gegenüber dem Befehl Gottes allmählich Ruhe für seine Seele. "Glaube an deinen Gott und den Gott deiner Vorväter und halte dich an sein Gesetz, und ich werde bis zum Ende deiner Tage mit dir sein"4 – dieser Vers hatte ihn schon in mancher Not getröstet.

Plötzlich fühlte er sich so müde, dass er kaum mehr die Füße heben konnte und sich auf einem Steinhaufen am Wegesrand ausruhen musste. Er sah, dass es heller geworden war, und dachte, es klarte zum Sonnenuntergang auf. Am Horizont erstreckte sich rötliche Glut.

Kurz darauf fuhr ein Bauernwagen vorbei, und obwohl er den Mann nicht kannte, bat er ihn um Erlaubnis, mitzufahren, was ihm auch gestattet wurde. Dennoch schaute der Mann ihn leicht misstrauisch an und fragte, als Søren Platz genommen hatte, nach seinem Namen und woher er kam. Søren nannte den Namen seines Heimatdorfes, doch der andere kannte es nicht und sagte, dass es weit von hier liegen müsse.

Erst jetzt sah Søren sich richtig um und bemerkte, dass er sich in einer wildfremden Gegend befand. Da wurde ihm auch klar, dass er die ganze Nacht durchgelaufen war, und es sich bei dem Schimmer am Horizont, den er für das Abendrot gehalten hatte, um den heranbrechenden Tag handelte.

Er bat den Mann anzuhalten, stieg ohne ein weiteres Wort beschämt aus und schlug den Weg ein, den er gekommen war.

Ehe er sein Haus erreichte, war es beinahe wieder Abend.

**
*

Einige Tage später fand die Beerdigung mit vielen Trauergästen statt. Der Pfarrer, selbst schwer getroffen, hielt eine lange Rede, die mit ihrer Milde und zahlreichen Psalmversen5 viele zu Tränen rührte. Er war kein Prediger des Jüngsten Gerichts, der in jedem Grab das Tor zur Hölle sah, an deren Existenz er ohnehin offiziell nicht mehr glaubte. Doch statt der Androhung eines Ortes der ewigen Qual, die in einer aufgeklärten Gemeinde keine Wirkung mehr hatte, sprach er nun wie immer über das Gewissen. Indem er die letzten Lebtage des unglücklichen Mädchens nutzte, um seinen Zuhörern das weitaus entsetzlichere Grauen des Sündenbewusstseins recht anschaulich zu machen, drückte er aus, dass sich in jedem Sündenbewusstsein die himmlische Gerechtigkeit äußerte, die das Vergehen auch dort strafte, wo Sitte und Anstand eine solche nicht anerkannten, ja, die die Sünder oft trotz aller kirchlichen und bürgerlichen Gesetze und Bräuche zu Fall brachte. Deshalb gelte es für jeden Bruch im Leben, auf das Gewissen zu achten, auf das Herz, auf den inneren Ruf zu hören, der Gottes Stimme im Menschen, ja, Gott selbst sei. Nicht außerhalb, sondern allein in unserem Inneren sei es uns möglich, den Wegweiser für unser Leben zu finden, der uns nie in die Irre führe. Nicht in der heiligen Schrift, nicht in den Worten Jesu, die doch an und für sich bloß tote Buchstaben seien, ehe der wahre Geist sie wiederbelebe, – nein, nur im Herzen des Menschen selbst stünden die ewigen Gesetze geschrieben, nach denen der Herr eines Tages in seiner Weisheit und Gerechtigkeit die Lebenden und die Toten richten würde.

Besonders auf einen machte die Rede einen erschütternden Eindruck, – und zwar Søren. Die letzten Worte des Pfarrers waren wie auf ihn gemünzt; und er konnte seine Augen kaum von der Erde abwenden, aus Furcht vor der Anklage, die er in allen Gesichtern zu lesen meinte.

Von da an wurde er immer merkwürdiger. Jeden Abend saß er mit der Bibel da und hatte die Augen starr auf das Wort gerichtet, an das er sich im Sturmwind des Herrn, der sich in seinem Inneren aufgetürmt hatte, klammerte. "Wer sein Kind liebhat, der züchtigt es bald."

Niemand wusste, was in ihm vorging. Er sprach nicht einmal mit Mariane darüber. Doch wie ein Haus, das von Schimmel zerfressen wird, zeichnete sein verwüstetes Gewissen seine Gestalt. Schließlich zeigte sich die Wirkung seiner inneren Gespensterstimme auf seinem bleichen Gesicht.

Eines Sonntags weigerte er sich entgegen seiner Gewohnheit, in die Kirche zu gehen oder seine Festtagskleidung anzuziehen. Als er auch nicht die Bibel oder Postille hervorholte, fragte Mariane besorgt nach. Da antwortete er höhnisch, dass Gottes Wort ohnehin bloß Lüge und tote Buchstaben sei, – das habe der Pfarrer selbst gesagt. Doch solches Gewäsch gebe es genug auf der Welt; dafür brauche man nicht in die Kirche gehen.

Mit diesen Worten verließ er die Stube.

Mariane, die seine gottlosen Worte schwer erschreckt hatten, beruhigte sich wieder ein wenig, als sie ihn durch das Fenster den über die Hügel dringenden Kirchenglocken zuhören sah.

"Herrgott, lieber Søren, – was ist nur mit dir", sagte sie vor sich hin, als sie sah, wie Tränen über seine Wangen rannen.

Zeitgleich kam ein alter Mann mit einem kleinen Handkarren vorbei. Er fragte Søren von der Straße aus, ob er nicht Knochen und alte Lumpen zu verkaufen habe.

"Doch", antwortete Søren. "Sie6 können morgen wiederkommen. Dann werden ein paar alte Knochen und Lumpen übrig sein."

Danach verschwand er im Holzschuppen, der immer noch den Geruch von Kirstines Leiche barg.

Einige Stunden später rief Mariane ihn zum Essen, und als er weder kam, noch auf ihr Rufen antwortete, schaute sie nach ihm. Doch kaum hatte sie den Kopf zur Schuppentür hineingesteckt, fuhr sie mit einem Schrei zurück.

"Herr Jesus! Hilfe!", rief die alte Frau und rannte verstört hinaus auf die Felder.

 
[1] Pfarrhaus: Im Manuskript "Elternhaus". tilbage
[2] Wer sein Kind liebhat …: Sprüche 13, 24; Hebräer 12, 6 und Offenbarung 3, 19: "Wer seine Rute schont, der hasst seinen Sohn; wer ihn aber liebhat, der züchtigt ihn bald". tilbage
[3] drei Meilen: 22,5 km. tilbage
[4] Glaube an deinen Gott …: Zitat nicht identifizierbar. tilbage
[5] Ihren zahlreichen Psalmversen: Im Manuskript anstelle eines durchgestrichenen "Verträglichkeit" eingesetzt. tilbage
[6] Sie: Im Dänischen "De". Im Manuskript steht "Du". tilbage