Eine Bauernhochzeit

Kürzlich wurde eine Hochzeit in einer der großen, reichen Weizenfeldgemeinden des Südens gefeiert, über deren Bauern man sagt, dass sie mit einem Sechsling1 in der Hand geboren werden.

Schon lange davor wurden still und heimlich viele und aufwändige Vorbereitungen für den Tag getroffen. Aus Kisten und alten Verstecken waren die festlichen Gewänder hervorgeholt worden. Auf dem Hof des Festes hatte man eine ganze Woche lang bis spät in die Nacht gebraten und gekocht, und es ging so lange das Gerücht um, wie groß doch alles ausgerichtet war, dass ich mich zum Schluss nicht mehr darüber wunderte, dass auch ich zur Hochzeit eingeladen war, wo ich doch weder die Gegend noch die Leute kannte, und mich dort nur zufällig auf Durchreise befand.

Der Vater der Braut, Esben vom Hügel, war aber auch ohne Vergleich der reichste und bedeutsamste Mann der Gemeinde. Er stammte aus einer alten und mächtigen Bauernfamilie der Gegend, die über viele Generationen hinweg zu außergewöhnlichem Ansehen und Berühmtheit gekommen war. Dazu kam, dass die Tochter sein einziges Kind war.

Wie man sich deshalb vorstellen kann, kamen zahlreiche Gäste, und sie alle waren die feinsten Männer und Frauen weit und breit.

In den großen, luftigen Stuben, die reizend grün dekoriert waren und nach frischem Braten dufteten, stand man bereits bis in alle Ecken eng beieinander. Und obwohl die Versammlung, die natürlich hauptsächlich aus Bauern bestand – kleine, beleidigte, unverfälschte Weizenfeldbauern mit ihren munteren und runden Frauen in teuren, aber etwas altmodischen Kleidern – gab es doch auch hie und da städtisch gekleidete Gestalten, von denen besonders der Hochschuldirektor2 – ein großer, ernster Mann mit einem leberbraunen Gesicht – samt acht schlaksigen bleichen Studenten in schwarzen Mänteln und engelweißen Krawatten die Aufmerksamkeit auf sich zog.

Gleichzeitig bildete sich in der größten Stube um ein paar Großbauern aus der Gegend beständig eine kleine lauschende Schar. Sie standen (mit schwankendem Rücken, aber vorgeschobenem Bauch, der quasi Respekt gebot) da und erklärten die Vorteile des Anbaus von Zuckerrübe, während sich in der Ecke zwei kleine hungrige Kirchendiener der Gemeinde, unbeachtet und verbittert, die ächzenden Hände rieben.

Der Gastgeber selbst, Esben Eskildsen, stand bei der Eingangstür, um die Gäste zu empfangen, die fortwährend ankamen. Er war in seiner ganzen Gestalt ein Großbauer: mittelgroß, füllig, ruhig, mit einer milden zuvorkommenden Würde und einem nahezu weiblichen Lächeln, einem wunderlich zarten, freundlichen, aber vorsichtig verschlossenen Gesicht mit einem immerzu aufmerksamen, wohlwollenden, aber beständigen, fast schon zweischneidigen Blick, der seine Leute insgeheim, stolz und zufrieden, wie auf einer Goldwaage nach Hartkorn3 und Pfandbriefen abwog, und der vor allem sich selbst verpflichtet war.

Seine Frau, die dicht hinter ihm in einer Gruppe von Frauen stand, war offenbar aus demselben Holz geschnitzt. Sie glich ihm wie eine Schwester. Aber im Gegensatz zu ihm waren die Züge in ihrem rotglühenden Gesicht ausgeprägter, weniger beherrscht, wie auch ihr gesamtes Auftreten, ihre Sprache und ihre Kleidung herausfordernder waren und mehr Aufsehen erregten. Sie trug ein schwarzes Seidenkleid aus schwerem Stoff mit breitem Kragen und Manschetten aus echter Klöppelspitze, lange altmodische Nackenschleifen, die von der Haube über den Rücken herabhingen, und dazu einen wuchtigen goldenen Galon4 über dem Haar.

Beim Fenster stand umgeben von Gratulanten und still bewundernden Freundinnen die Braut. Sie war bleich und gerührt und wirkte ganz überwältigt von den Umständen und den vielen Menschen. Aber deshalb sah sie nicht weniger hübsch und anmutig aus. Schlank und schwach war sie in ihrem jungfräulich weißen, wollenen Brautkleid mit Myrtenkranz und Schleier über dem nussbraunen Haar. Es lag etwas sonderbar Berührendes in dem treuen, nahezu angsterfüllten Griff, mit dem sie die Hand ihres jungen Bräutigams hielt, ohne auch nur ein einziges Mal loszulassen, während er hie und da verstohlen, etwas ungeschickt und verlegen seine große, rote Pranke über ihre zarten, weißen Finger streichen ließ.

Und die Gäste kamen und kamen. Jede zweite Minute verkündeten der Peitschenknall und die Töne einer im Hof aufgestellten Musikkapelle, dass eine weitere Kutsche vor der mit Flaggen geschmückten Haupttreppe aufgefahren war. Alte, steife Bauernväter und dicke, schwere Frauen, denen drei Männer beim Aussteigen helfen mussten, kamen beständig an, während süße, kleine Mädchen mit roten Flatterbändern im Nacken lachend und lächelnd in die Arme der erstbesten Herumstehenden sprangen, die sich anboten. Der gesamte große Hof war voll mit leeren Fuhrwerken. Oftmals konnte ein Wagen kaum entladen werden, bevor ein anderer durch das Tor polterte, und während die Dämmerung langsam einbrach, breiteten sich das Gedränge und der Lärm in den Stuben und Gängen aus, ja sogar bis in den Garten, wo sich eine Gruppe mit roten Gesichtern eingefunden hatte, um sich abzukühlen.

Aber trotz dieses ganzen festlichen Tumults konnte ich mich – obgleich fremd – nicht von der Wahrnehmung einer gewissen Unnatürlichkeit und Befangenheit in der Stimmung freimachen, die ich mir nicht erklären konnte. Etwas sonderbar Bedrücktes oder Fieberhaftes, das eigentlich nicht direkt hervortrat, mich aber eher wie ein unverkennbar hohler Klang unter dem eigentlichen Hochzeitslärm traf.

Bei der Betrachtung von Esben Eskildsen, der bei der Tür stand und die Gäste empfing, fiel mir auf, dass er es auf seine eigene Art vermied, den Leuten, die er begrüßte, in die Augen zu schauen. Es kam mir gar so vor, dass auch diese generell nicht zu ihm hochblickten, sondern sich mit einem stillen Händedruck zufriedengaben. Seine Frau hingegen schaute alle, die sich näherten, sicher und durchdringend an, verlor sie nicht aus den Augen, solange sie mit ihnen sprach, und untersuchte mit starrem Blick ihre Mienen, so als ob sie tief in ihr Innerstes sehen wollte, und gleichzeitig verfolgte sie mit nervöser Genauigkeit jede noch so kleine Bewegung, jedes Lachen oder Flüstern, sogar aus den anderen Zimmern.

Das alles fiel mir umso deutlicher auf, weil ich im Vorhinein gedacht hatte, dass die Umstände eigentlich nichts als Glück für das junge Paar versprachen, dessen Fest wir feierten. Schon seit sie zwanzig Jahre alt waren, hatten sie einander die Treue gehalten, und der Bräutigam stammte ebenso aus einer reichen und angesehenen Familie, und obendrein aus genau der, die sich ihre Eltern seit Kindertagen für sie gewünscht und bei der sie sie sicher gewähnt hatten.

Aber ich bekam keine Gelegenheit, tiefere Überlegungen darüber anzustellen, denn im selben Augenblick öffnete sich die Tür zum hell erleuchteten Saal, wo der mächtige Hochzeitstisch mit vier dampfenden Schinken zwischen den Armleuchtern auf der schneeweißen Tischdecke angerichtet war.

Es kam Bewegung in die Menge. Man brachte die Musik aus dem Hof nach drinnen, und mit ihr und dem Brautpaar an der Spitze zog man in einem festlichen Aufzug in den mit Flaggen geschmückten Saal und nahm am Tisch Platz.

Vor dem Tellerrand waren Tannenzweige, hübsch und frisch gepflückt, längs des Tisches angebracht, auf dem hie und da kleine Blumensträußchen aus Schneeglöckchen und Krokussen verteilt waren. Und dort am obersten Ende, wo das Brautpaar seinen Platz einnahm, breitete sich ein ganzes Blumenbeet um eine ungeheure Pflaumentorte mit dem Namenszug der Neuvermählten aus Himbeermarmelade aus. Das Ganze machte in dem hellen Licht und dem Dampf der Schinken einen so strahlenden Eindruck, dass selbst auf den Wangen der Braut ein Schimmer erschien, als die munteren Klänge der Musik aus den anliegenden Zimmern über die allgemeine Lustigkeit einbrachen.

Aber während der Mahlzeit erhob sich der Hochschulleiter. Und als er mitten in seiner langen und ausschweifenden Rede, wo ein jeder still und andächtig auf seinen Teller blickte, mit sonderbar mystischer Betonung seine Hoffnung ausdrückte, dass Gott in seiner Barmherzigkeit einen Schimmer dieses Lichts und der Liebe des Festes auf alle und "selbst auf diejenigen, die nicht zugegen, sondern weit weg sind" scheinen ließe, da brach die Braut in heftiges Schluchzen aus und warf sich an die Brust des Bräutigams und verbarg ihr Gesicht.

Der Hochschulleiter stockte und faltete seine braunen Hände über dem Taschentuch. Und als er seinen ernsten Blick über die Reihen wandern ließ und sah, was er ausgelöst hatte, ließ er seine Stimme noch tiefer und bebender werden – und wiederholte seine Worte.

Am Tisch wurde es totenstill. Nicht ein Finger rührte sich. Ein paar ließen verstohlen ihren Blick hinüber zum untersten Tischende wandern, wo ein runder, kurzhaariger Jungenkopf, der knapp über die Tischkante reichte, durch die plötzliche Aufmerksamkeit ganz rot wurde.

Nur die wenigsten hatten den Mut, zu Esben zu schielen, der in der Nähe der Braut saß.

Er hatte sich zurückgelehnt, den linken Daumen im Ärmelausschnitt der Weste, und ließ ein Tafelmesser zwischen zwei Fingern der rechten Hand auf das Tischtuch tippen. Aber er war totenbleich. Das Messer zitterte in seiner Hand und einen Augenblick sah es so aus, als würde er vom Stuhl fallen.

Inzwischen setzte der Hochschulleiter ruhig seine lange, umständliche Predigt fort, während deren Weitschweifigkeit alles nach und nach vorüberzog. Auf das Wohl des Brautpaares wurde mit Jubel und Fanfaren geprostet, und es war offensichtlich, wie man sich von allen Seiten bemühte, alsbald die Luft mit Lärm zu füllen und lustig zu sein.

Als einer der kleinen selbstmitleidigen Küster, dessen größter Hunger offenbar nun fast gestillt war, sich nun kurz darauf mit dem kleinen Witz erhob, ob er wohl "zum Anlass des heutigen festlichen Anlasses" ein paar Worte sagen dürfe, wurde er sofort dankbar bejubelt. Und danach, als Schüsseln und Flaschen geleert worden waren, als die Hitze stieg und Reden und Fanfaren sich abwechselten, war der kleine Zwischenfall schließlich auch gänzlich vergessen.

Gegen Ende des Gelages, als die Stimmung allmählich vom rein Gesellschaftlichen in das Patriotische kippte, schob der Gemeindevorsteher seinen Stuhl zurück, räusperte sich feierlich hinter vorgehaltener Hand und trug unter großer Stille einen alten, knochentrockenen Trinkspruch auf das Vaterland vor, der mit neun gewaltigen Hurras beantwortet wurde und das Signal für einen reicheren Gedankenaustausch war, auch von Seiten der nicht bestellten Redner.

Ein Waffenbruder5 dankte und brachte danach ein Lebehoch auf den alten Danebrog aus. Ein kleiner, sehr dicker Bauer mit einer unhörbaren Stimme erhob sich kurz darauf am untersten Tischende, aber setzte sich sogleich wieder, noch bevor man sich umgedreht hatte. Es zeigte sich jedoch, dass es ein Prosit auf unsere alten Erinnerungen gewesen war, und vereinzelter Jubel folgte entlang des Tisches. Der Waffenbruder dankte. Der Küster sprach erneut, dieses Mal über die Muttersprache, und als endlich auch die Studenten, einer nach dem anderen, an ihr Glas geschlagen hatten, um an das ein oder andere "gute alte Wort zu erinnern", brachte schließlich auch einer der Großbauern mit einer Stimme wie ein Kanonendonnern ein schallendes Lebehoch auf "Dänemarks Heldensöhne – unsere alten Krieger" aus.

Aber dieses Mal konnte der Waffenbruder unglücklicherweise nicht danken. Denn kurz bevor er einen Toast auf die nordische Frau ausbringen wollte, wurde er so bewegt, dass er sich ganz erbleicht setzen musste, worauf er unter dem Schutz eines Kameraden im Stillen zu einem Bett im Knechtzimmer geführt wurde.

Im Ganzen begann die Fröhlichkeit bald einen etwas aufgelösten Charakter anzunehmen. Zwischenzeitlich sprachen drei, vier Redner gleichzeitig, anscheinend ohne sich aneinander zu stören. Da nun die Zeit der Humorvollen gekommen war, erschallte der Saal von ohrenbetäubenden Lachsalven. Der Hochschulleiter versuchte erneut die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er mit tiefer, ernster Stimme dazu aufforderte, "den Verstorbenen zu gedenken", aber seine Worte gingen in dem vorherrschenden Lärm unter.

Zum Schluss brach man auf. Im Handumdrehen wurde der Saal aufgeräumt und während die Älteren in den kleineren Stuben Karten spielten, tanzten die Jungen die ganze Nacht so ungestüm, dass selbst der Hochschulleiter, als ihm auffiel, dass niemand mehr von seiner Ernsthaftigkeit Notiz nahm, zum Schluss seine Hosenträger richtete und sich mit einem kleinen Hebammenpummelchen aus der Nachbargemeinde davonstahl.

Esben Eskildsen ging leise durch die Stuben und den Saal, um sicherzustellen, dass nirgendwo etwas fehlte. Es war offensichtlich, wie er damit kämpfte, seine Rührung zu verbergen.

Aber er war immer noch sehr bleich und zog den Kopf ein wenig mehr ein. Ich konnte von meinem Platz an der Wand im Tanzsaal den Ruck sehen, der ihn jedes Mal durchfuhr, wenn eine der kleinen flüsternden Gruppen in den Ecken plötzlich verstummte, sobald er in ihre Nähe kam.

Spät in der Nacht, gerade als der Trubel um ihn herum anstieg, sodass er weniger auffiel, war es ein Leichtes zu erkennen, wie der Ausdruck in seinem Gesicht erschlaffte. Es wirkte, als ob ihm eine Maske abgezogen würde. Still und wie schlafwandelnd ging er umher, und mit müden, langsamen Bewegungen verrückte er mechanisch hier einen umgefallenen Stuhl, dort ein abgestelltes Glas.

An der Tür zum Saal begegnete er dabei einmal seiner Frau, und sie sprachen ruhig und geschäftsmäßig darüber, dass es bei den Punschtischen noch einige Dinge zu erledigen gab.

Aber es war, als ob sie sich nicht anzusehen wagten, daher vermieden sie Blickkontakt. Und als ihre Blicke, da sie einander verließen, sich dann doch endlich trafen, sah ich, dass beiden eine Träne in den Wimpern hing.

Mir kam der Gedanke, dass diesen Menschen irgendein großer Kummer widerfahren sein musste, den dieses fröhliche Fest, anstatt ihn in Vergessenheit geraten zu lassen, vielmehr wieder aufleben ließ. Und ich verstand, dass alle Anwesenden von dieser Trauer wussten, aber sie nicht zu verraten wagten. Sie verbargen sie sorgsam in ihren Mienen, doch in jedem Händedruck schwieg sie mit.

In diesem Moment setzte sich ein langer, dünner, vornübergebeugter Bauer mit einem trockenen "mit Verlaub" neben mich auf die Bank, zog vorsichtig den Rockschoß von hinten auf die Knie, stützte die Ellbogen auf sie, legte das Kinn in die Hände, steckte den Bart zwischen die Zähne und schaute in dieser Haltung unbeirrt den Tanzenden zu.

Er hatte ein sonderbares Gesicht: lang, mager mit einer scharfen, adlerhaften Nase, die an der Spitze und Rücken blau war, aber bei der Wurzel weiß. Die Gesichtsfarbe an sich war rot und wettergegerbt. Bart trug er auf amerikanische Art nur unter dem Kinn, und mit den Handflächen drückte er ihn nach vorne, sodass er bis zwischen die Zähne reichte.

Seine Kleidung war die eines einfachen Bauern. Aber er trug Wachstuchmanschetten und einen roten Wollkragen. Darüber hinaus waren seine Hände mit blauen Ankern gestempelt und in den Ohren steckten winzige Ringe.

Als ich ihn eine Weile beobachtet hatte, nahm ich meinen Mut zusammen und tippte ihm auf die Schulter.

Er drehte sich langsam um und sah mich mit wunderlich kleinen, hitzigen Augen an, die dicht bei der Nasenwurzel saßen und die beide ein wenig nach innen schielten.

"Verzeihung", sagte ich sachte, "könnten Sie mir vielleicht etwas verraten?"

"Was denn?", fragte er mit einer Stimme, die sehr viel freundlicher, aber auch heiserer war, als ich erwartet hatte.

"Ja, es ist vielleicht etwas merkwürdig, danach zu fragen, insbesondere Sie, der mir doch ganz fremd ist, aber – ist in dieser Familie jemals etwas vorgefallen – so etwas …"

Er unterbrach mich, indem er schnell seine Hand auf meinen Arm legte. Scheu sah er sich vorsichtig nach allen Seiten im Saal um. Aber als sein Blick wieder auf mir ruhte, war er misstrauisch, nahezu lauschend.

"Sie sind nicht aus dieser Gegend?", fragte er.

"Nein, ich komme aus dem Norden."

"Aus den Waldsprengeln?"

"Ja."

"Ah-haa. Ich war noch nie so weit ... Ich war nur in Amerika," fügte er mit einem etwas schweren, kehligen Lachen hinzu, während er mich immerzu musterte.

Allerdings muss das Ergebnis seiner Musterung zufriedenstellend gewesen sein, denn nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, kam er mit seinem Mund ganz nah an mein Ohr und flüsterte mit seiner heisersten Stimme:

"Sie wissen es also nicht?"

"Was denn?"

"Dass Esben noch eine zweite Tochter hat?"

"Wie bitte?"

Er nickte.

"Ach, das ist eine lange Geschichte", sagte er darauf langsam und nahezu laut, während er sich wieder in seine alte Position mit dem Kinn in den Händen begab und den Tanzenden zuschaute.

Die Enthüllung erstaunte mich derartig, dass ich ihn nur anstarren konnte. Aber kurz darauf erhob er sich und bedeutete mir, ihm zu folgen.

"Wollen wir ein Glas Punsch trinken?", fragte er und kniff das eine Auge zusammen.

"Oh ja."

Wir betraten eines der kleinen, halbdunklen Spielzimmer, die nun menschenleer waren und wo der Staub dicht und ungestört durch die stille, stickige Luft rieselte.

Eine einzige kleine Wandlampe hing über einen verlassenen Spieltisch und warf längliche Schatten über die Tapete und den vollgespuckten Fußboden. Auf dem Tisch stand zwischen Karten und Kreidestumpen eine Schale mit Eierpunsch samt ein paar Gläsern.

Mit einer sonderbaren Mischung aus bäuerlicher Gelassenheit und fremdartigen, kumpelhaften Anstand schöpfte uns mein Gefährte zwei Gläser voll und trank sofort das größere aus. Er nickte mir zu und füllte sich nach.

"Das tut gut", sagte er.

"Der Punsch ist gut", sagte ich.

"Gegen Magenschmerzen und Ostwind – ja. Machen die da, wo Sie herkommen, auch Punsch?"

"Zur Not, ja … wenn wir etwas haben, aus dem wir ihn machen können."

"Ja, so ist das", seufzte er.

Es entstand eine Pause. Die Musik und der Lärm aus dem Tanzsaal drangen zu uns herein, aber wir rührten uns nicht.

Er saß vornübergebeugt, mit den Füßen nach vorne und hantierte unruhig mit einem blutroten Taschentuch zwischen den Knien. Hin und wieder warf er einen schnellen Blick von seiner Stiefelspitze zu mir und wieder zurück.

Plötzlich rückte er mit einem eigentümlichen Eifer dicht zu mir, legte seine Hand auf mein Knie und flüsterte, obwohl wir ganz allein waren.

"Haben Sie wirklich nicht von Oline gehört?"

"Nein, noch nie."

"Noch nie? … Das ist sonderbar", sagte er gedankenverloren und blickte auf den Fußboden.

Aber er hob schnell wieder den Kopf und schielte schräg zu mir, während er die Mundwinkel hochzog.

"Ein Zuckerstück", sagte er mit einem vertraulichen Zwinkern und nickte leicht. "Ein Prachtmädchen, eine Perle. Können Sie drauf wetten."

"Wirklich", brach es aus mir heraus, sicherlich nicht ohne eine gewisse Verlegenheit.

"Ein Püppchen, das dürfen Sie glauben. Das feinste Mädchen, – God damn! – das unser Herrgott aus Fleisch und Blut geschaffen hat."

"Ach ja."

"Alles so, wie’s sein soll, darauf können Sie sich verlassen. Mit Augen und einer Figur … oh boy! Das können Sie sich gar nicht vorstellen, selbst wenn ich Ihnen noch so viel davon erzählen würde."

"Hören Sie – Sie haben ja", fuhr er fort, nachdem er erneut sein Glas geleert hatte und noch näher rückte, "Sie haben ja die Schwester gesehen, Amalie, die dort drinnen. Nicht wahr? Sie ist ein nettes Mädchen und war sogar mal noch schöner. Auch wenn man es nicht abstreiten kann, dass die zwei sich so ähnelten, wie es normalerweise nur Zwillinge tun, so müssen ich und alle anderen doch trotzdem sagen: Oline, sagen wir, Oline war doch stets Oline. Wo auch immer sich das Mädchen zeigte, sogleich verzauberte sie alles. Denn wenn sie einem nur in die Augen blickte, so wusste man gar nicht, wo man hinschauen sollte, und wenn sie einem bloß die Hand gab, so war es, als ob man ein besserer Mensch werden würde.

Aber das sag ich nicht, weil ich Amalie kleinreden möchte, jeder kann ja auf seine eigene Art gut sein. Und man kann es Esben nicht verdenken, dass er ein wenig stolz auf dem Kutschbock saß, wenn er mit seinen beiden Töchtern auf der Bank hinter ihm zu einer Hochzeit oder einer Geburt gefahren kam. Denn er konnte sehen, dass es in den jungen Kerlen geradezu kribbelte, wenn er ihnen von der Kutsche half. … Aber es war dennoch Oline, die die meisten Blicke auf sich zog, wenn sie über den Boden schritt wie – wie eine Königin – oder – oder …"

"Aber mein Lieber", unterbrach ich ihn schließlich etwas ungeduldig, "Wo ist sie denn jetzt? Was wurde aus ihr?"

"Was aus ihr wurde?"

Er zuckte mit den Schultern, leerte ein Glas und schüttelte den Kopf.

Aber kurz darauf blickte er sich erneut vorsichtig um, kam mit seinem Gesicht ganz nah zu mir und sagte mit seiner heisersten Stimme:

"Haben Sie Kristensen gekannt?"

"Kristensen?"

"Ja. Nikolai Kristensen. Ein kleiner Knirps mit einem blauen Halstuch, lackierten Schuhen und langen Nägeln."

"Ja – ich weiß nicht. Aber warum?"

"Er war es."

"Wie?"

"Wie? … Ja, genau das habe ich nie verstanden," sagte er langsam und kopfschüttelnd. "Er war einmal zu Weihnachten hier, und tanzte, wie es sich gehörte, hier und da mit dem Mädchen, ohne dass sich jemand dabei etwas dachte. Aber kaum ist der Kerl wieder nach Kopenhagen zurückgekehrt, gerät Oline vollkommen außer sich. Sie, die davor so still und ruhig gewesen und ihren Pflichten nachgegangen war, wird mit einem Schlag komplett verrückt und weint und jammert und ist ganz verstört, bis sie schlussendlich verkündet, dass sie in Kopenhagen eine Anstellung6 annehmen will."

Er blickte vom Taschentuch auf und sah mich an.

"Ja, jetzt können Sie sich wohl vorstellen, was Esben mit seinen Ansichten von der Sache hielt, – seine Oline als Dienstmädchen! Er sprach auch nicht viel darüber, aber eines schönen Morgens – sie hätten genauer hinschauen sollen – da war der Vogel schon ausgeflogen, wie man sagt."

"Fort?"

"Mit dem Zug. Das war eine elende Zeit, das können Sie mir glauben. Es war beinahe so, als stünde alles auf dem Kopf. Aber am schlimmsten war es für Esben. Sie hätten ihn sehen müssen. Ein halbes Jahr später sah er aus, als ob er aus der Erde geholt worden wäre und nur darauf wartete, wieder dorthin zurückkriechen zu können. Sie war ja sein Augenstern gewesen, und er hatte doch nur noch eine andere Tochter."

"Naja," setzte er rasch fort, nachdem er sich erneut die Lippen befeuchtet hatte. "Im Übrigen hatte sie ja auch einen Liebsten."

"War sie verlobt?"

"Oh Gott! Bis über beide Ohren." Er schmunzelte und trat gegen einen Zigarrenstummel, der vor seinem Fuß lag. "Zwar war er ein jämmerliches Gerippe – so eine lange Bohnenstange, über die man nur lachen konnte. Aber er tat mir trotzdem leid, denn er nahm sich das wohl so sehr zu Herzen, dass er danach nie wieder ein richtiger Mensch wurde … Naja, aber im Grunde kann ich nicht viel mehr erzählen, denn genau im Sommer darauf fuhr ich übers Meer, um im neuen Land mein Glück zu versuchen, und dadurch verlor ich natürlich das Ganze aus dem Blick. Nur so viel kann ich sagen, dass Hebamme Karlsen das erste Kind auf die Welt holte und hierherbrachte – das ist der Knabe, den Sie gesehen haben. Aber später ging es Oline schlechter und schlechter. Als sie erst einmal angefangen hatte, gab es kein Zurück mehr, und was die armen Eltern alles …"

"Sonderbar, wie schnell es gehen kann", unterbrach er sich selbst in einem tieferen Ton und beugte sich tief in das Taschentuch. "Einer meiner Bekannten, der sie vor über vier Jahren mal sah, erkannte sie schon damals nicht mehr, so sehr hatte sie sich verändert. Und jedes Jahr ist es schlimmer geworden. Letzten Winter war sie Bedienung in Nyhavn, und jetzt – jetzt ist sie …"

"Was?", fragte ich.

Er sah traurig auf.

"Das Schlimmste," sagte er leise. Wir schwiegen einen Moment. Im Saal wurde eine lustige Galoppade getanzt.

"Wie lange ist das her?"

"Acht Jahre."

"Und sie war kein einziges Mal danach zuhause?"

"Nein. Einmal zu Beginn, nachdem das erste Kind geboren war, wurde sie von den Eltern auf einem Hof in Nordseeland untergebracht, aber keine acht Tage später lief sie von dort weg. Sie hatte sich schon lange nicht mehr im Griff. Später ließ sie nur von sich hören, wenn ihre Verehrer sie verlassen hatten und sie fast am Verhungern war – dann schrieb sie einen langen Brief nach Hause, dass sie sich wirklich ändern wolle …, wenn sie Geld sendeten. So lief es jedes Mal ab und kostete Esben in den Jahren und Tagen auch eine große Summe. Er konnte jedoch nie wirklich die Hoffnung aufgeben … Aber jetzt wollen sie sie nicht mehr kennen. Sie wurde enterbt. Sie hätten nur 'ein Kind', sagen sie nun, und sind schlussendlich gegenüber der anderen Tochter abgestumpft. Aber an einem solchen Tag wie heute, da …"

"Aber," setzte er leise fort, nach einem Augenblick des Schweigens, "nichts ist doch so schlecht, dass es nicht auch für was gut ist, sagt man doch. Und Esben, er war ja nun wirklich auch – vielleicht ein bisschen zu stolz. Es war ja möglicherweise genau das, was er gebraucht hat. Denn jetzt, jetzt ist er ja – nun das sehen Sie ja selbst.

Durch die offene Tür konnten wir ihn deutlich sehen, wie er aus dem Tanzsaal kam und vorsichtig etwas in seinen Armen trug, gefolgt von seiner Frau, die ihn zu unterstützen schien. Es war Olines kleiner Sohn, den sie schlafend in einer Ecke gefunden hatten. Sie gingen behutsam, besorgt die kostbare Bürde nicht aufzuwecken. Aber ein unbeschreiblicher Schmerz lag in dem Blick, mit dem sich Esben über ihn beugte. Nun bemerkte ich das erste Mal, dass er ganz graue Haare hatte, obwohl er keineswegs ein alter Mann war.

Ich drehte mich zu meinem Erzähler.

"Sagen sie mir, wie erging es eigentlich ihrem Liebsten – wo ist er?"

"Er soll Landrichter irgendwo in Jütland sein, habe ich mir sagen lassen."

"Achso. Ich meinte eigentlich den Richtigen."

"Den Richtigen?"

"Ja, der, den sie als Gerippe und Bohnenstange bezeichnet haben?"

"Gerippe? Bohnenstange?"

Ein sonderbares Lächeln erschien in seinem Gesicht, und er blickte mich kurz an.

"Prost, alter Freund! Lassen wir ihn sein, wie er ist!"

Rusticus.

 
[1] Eine Münze. tilbage
[2] Der Direktor einer pädagogischen Hochschule. tilbage
[3] Maßeinheit. tilbage
[4] Galon: schweres Band mit eingenähten Goldfäden, die als Besatz für Kleider verwendet wurden. tilbage
[5] Kriegskameraden, die bei den dänischen Waffenbrüdern organisiert sind. tilbage
[6] Anstellung als Hausbedienstete*r. tilbage
[7] Siehe hierfür den Brief an Borchsenius vom 24.12.1883. tilbage