Selbstgespräch

Mittwoch.

Schon so manches Mal habe ich mir seufzend gedacht: Wie glücklich ist doch der, der eine Lebensanschauung hat. Eine von den angesehenen, mit der man friedlich und geborgen leben und sterben kann. Jeder in meinem Bekanntenkreis hat eine solche. Selbst mein Krämer hat eine Lebensanschauung. Oft erzählt er mir mit Tränen in den Augen, dass dies es sei, was ihn so zufrieden, gesund und munter mache (er wiegt 250 Pfund). Meine Waschfrau, die meine Hemden stiehlt, hat eine Lebensanschauung, ja sogar der Müllkutscher, der drüben im Hinterhaus wohnt, hat eine. Das weiß ich, weil er mir neulich gut gelaunt anvertraute, dass er zwar vor kurzem erst aus dem Zuchthaus gekommen sei und möglicherweise schon sehr bald wieder dorthin zurück kommen würde, aber doch zumindest von sich behaupten könne, dass er immer noch seine Lebenseinstellung habe, die er als Kind erworben und die er mit Gottes Hilfe bis zu seinem Todestag bewahren wolle.

Vermutlich habe auch ich in meiner Kindheit eine unanfechtbare Lebensanschauung eingeimpft bekommen, die ich im Laufe der Zeit traurigerweise verloren habe. Und diesen Verlust bekam ich schon in vielen Situationen schmerzlich zu spüren. Ohne ein solches geistiges Impf- oder Kuhpockenattest kommt man in dieser Welt nicht weiter. Überall, wo man etwas erreichen will, muss man es vorzeigen können. Nicht einmal Kanzleirat kann ich werden, ohne nachweisen zu können, dass ich eines besitze.

Wüsste ich doch bloß genau, was eine Lebensanschauung eigentlich ist, wie man sie sich beschafft, wie man sie aufbewahrt usw. Frage ich meine Bekannten, wie sie an ihre herangekommen sind, antwortet der eine, er habe sie sich angelebt, der zweite, er habe sie sich angelesen, der dritte, er habe sie sich erdacht, der vierte, er habe sie sich erträumt, der fünfte und frömmeste, er habe sie sich erfleht. Nun ist das Unglück aber jenes, dass umso länger ich lebe, umso mehr ich lese, umso klarer ich denke, umso unruhiger ich träume, umso dürftiger ich flehe, desto mehr büße ich ein von diesem niet- und nagelfesten Inventar, das die mögliche Grundlage für eine zukünftige fundierte, solide und gut sortierte geistige Einrichtung bilden könnte.

Ich habe heute den Menschenfreund Severinsen aufgesucht. Dabei handelt es sich um einen großen, schweren, friedfertigen Mann, ein älterer Graubart mit hoher Stirn, mildem und liebevollem Blick, gedämpfter Stimme, warmem, ja verschwitztem Händedruck – kurz gesagt, um einen glücklichen Mann mit einer grundstabilen Lebensanschauung. Seinen Unterhalt verdient er mit dem Umsatz gewisser kleiner, zweifelhafter Blankette, ausgeschrieben auf Summen, für die es keine in der Versicherungssprache sogenannte Banksicherheit gibt. Ich war auf Ersuchen eines Freundes zu ihm gegangen, der mit einem solchen Dokument mit einem Zinssatz von 60 Prozent1 bei ihm in der Schuld stand. Ich sollte versuchen, in aller Güte eine Übereinkunft zu erreichen; doch zu Beginn wollte er mich überhaupt nicht anhören.

Zurückgelehnt saß er in seinem großen Lehnstuhl und sah mich bloß vorwurfsvoll an, während ich redete. Schließlich, als ich verstummte, beugte er sich zu mir nach vorne, legte die Hand auf mein Knie und fragte eindringlich, ob ich es wirklich für richtig hielte, mich auf diese Weise in Anderer private Angelegenheiten einzumischen; ob eine solche Vorgehensweise sich tatsächlich mit meiner "Lebenseinstellung" vereinbaren ließe. Da stand ich wieder! Ich war kurz davor, ihm zu sagen, dass ich in dieser Hinsicht keine Skrupel hätte, als ich es plötzlich in einem Anfall von Galgenhumor vorzog, ihm mit bekümmerter Miene anzuvertrauen, dass ich leider überhaupt keine Lebensanschauung hätte, dass ich aber äußerst dankbar wäre, wenn er mir verraten würde, wie er zu seiner gekommen war. Daraufhin lehnte er sich wieder zurück in seinen Sessel, blickte mich väterlich an und sagte: "Lieber Freund, so etwas ist eine göttliche Gabe, die erst durch viele Prüfungen erlangt werden kann." Diese Erklärung hatte ich früher schon gehört – sie stellte mich nicht zufrieden. Also kam ich wieder auf den unglückseligen Wechsel zu sprechen. Ich erläuterte ihm, dass es den sicheren Ruin meines Freundes bedeuten würde, wenn er die Sache nicht geregelt bekäme. Ich bot ihm zwölf Prozent, fünfzehn Prozent, zwanzig. Ich erzählte ihm von den glücklichen Familienverhältnissen meines Freundes, die zerstört werden würden, von seinen Kindern, seiner Frau, seiner alten Mutter. Aber er war unerbittlich. Zum Schluss antwortete er mir nicht einmal mehr. Ich musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Doch beim Abschied drückte er mir abermals voller Wärme die Hand und mit einem Anflug tatsächlicher Aufrichtigkeit bedauerte er, dass er nichts für mich habe tun können. In diesem Moment öffnete sich die Tür zur angrenzenden Stube und zwei kleine Mädchen um die sieben kamen freudestrahlend auf ihn zugelaufen, um ihm eine neue Puppe zu zeigen. Die Weise, auf die er das eine Kind auf den Arm nahm, der Vaterstolz, mit dem er mir die beiden vorstellte; das Lächeln, mit dem seine Frau, die im selben Augenblick in der Tür erschien, um die beiden zu sich zu rufen, mich bat, die Störung zu entschuldigen – all das schien dafür zu sprechen, dass er im Grunde ein ehrenhafter Mann war, eine liebevolle Natur mit einem guten Herzen. Wahrscheinlich war er sogar religiös. Zumindest sah ich, als ich ging, über dem Sofa in seinem Zimmer das Bild eines bekannten verstorbenen Pfarrers, umgeben von einem Kranz getrockneter Blumen, hängen.

Auf dem Weg die Treppe hinunter begann es mir endlich zu dämmern, was eine Lebensanschauung eigentlich ist. Mir wurde klar, dass eine Lebensanschauung zu haben lediglich bedeutet, ruhig und sorglos 250 Pfund Fett auf den Knochen herumzutragen; es bedeutet, einem Mann die Hemden stehlen zu können ohne dabei sein seelisches Gleichgewicht zu verlieren; es bedeutet, sich reif fürs Zuchthaus und gleichzeitig des Himmels wert zu halten; es bedeutet, 60% Zinsen zu nehmen und doch jeden Abend seine Hände falten zu können, um voller Inbrunst für das Heil der gesamten Menschheit zum Himmel zu beten. – –

Ich glaube trotzdem, dass ich versuchen werde, noch eine Weile ohne diese "göttliche Gabe" auszukommen.

H.P.

 
[1] 60 Prozent: Vgl. "Hans im Glück" (Lykke-Per), Kap. 3, wo Hans Abendkleidung zum selben Zinssatz finanziert. tilbage