Aber wer bist du selbst?

Selbstgespräch

11. März

Wenn man jung ist, stellt man so unbescheidene Forderungen an die das Leben regierenden Mächte. Man will, dass sie sich einem offenbaren. Den Schleier der Geheimnistuerei, unter dem sie wirken, betrachtet man fast als eine persönliche Beleidigung. Man verlangt nicht weniger als die große Weltmaschinerie zu kontrollieren und zu korrigieren, in der man sich selbst als ein bedeutsames Glied sieht. Wird man ein bisschen älter und damit nüchterner, lässt man das Welträtsel lieber liegen wie eine Nuss, die zu knacken man nicht die Zähne hat. Und in seiner Ungeduld wirft man den Blick auf den Menschen und die Geschichte der Menschheit, um wenigstens hier den Zusammenhang, die Gesetze und die Entwicklung zu finden, kurz gesagt: um hier einen Sinn im Leben und einen Zweck für den Kampf und das Leiden des Menschen zu suchen. Sieht man sich außerdem im Besitz von Fähigkeiten und Kräften und vielleicht obendrein von einem Amt, fängt man an zu reformieren und zu revolutionieren, um wie ein Gott den Menschen nach seinem Bilde umzugestalten, … bis man eines Tages von einer Stimme aus der Tiefe seines Inneren angehalten wird, einer Stimme, die fragt: Aber wer bist du selbst? Von diesem Tag an kennt man keine andere Frage als genau diese eine. Von jenem Augenblick an ist das eigene, wahre Ich zur großen Sphinx geworden, deren Rätsel man vergebens zu lösen strebt. Mein wahres Ich? … Der Mann, der heute Morgen in dichtem Schneefall ein und dieselbe Straße auf und ab ging, auf und ab, auf und ab, verstimmt, bitter, das Leben und dessen Mühen so unendlich leid, … war das mein wahres Ich? Oder der, der in der Abenddämmerung von Kindern umringt lachte, Geschichten erzählte und sich selbst damit amüsierte, Hähne krähen oder Schweine schnaufen und die kleinen Mäuse kläglich unter der Katzenkralle piepsen zu lassen…war das mein wahres, mein eigentliches Ich? Oder der, der nun zu später Abendstunde alleine hier bei der Lampe sitzt, weder froh noch betrübt, weder alt noch jung, mit dem stillen, erhabenen Frieden in seinem Inneren, wie ihn nur die Nacht und die Einsamkeit schenken…bin das ich, ich selbst, so wie ich aus der Hand der Natur hervorging, unverzerrt, unbefleckt: Oder bin das alles gleichermaßen ich selbst? Das, was wir unsere Seele nennen, ist das bloß etwas Vorübergehendes, ein Resultat unseres Nachtschlafes und unserer Zeitungslektüre, abhängig vom Barometerstand und den Butterpreisen? Oder ist die Erklärung die, dass wir genau so viele Seelen in uns haben, wie es Spielsteine in einem Beutel gibt. Jedes Mal wenn der Beutel geschüttelt wird, kommt ein neuer zum Vorschein…Ich frage! Ich frage! Ich habe keine Hoffnung, Antwort zu finden und kann es doch nicht lassen zu suchen. Ich weiß, dass ich auch morgen und übermorgen und bis ans Ende meiner Tage einsam unter der Lampe so sitzen und Selbstgespräche führen, mir alle Ereignisse des vergangenen Tages vornehmen werde, eins nach dem anderen, all meine Eindrücke von der Natur, Menschen, Büchern, all meine Gedanken, alles, was ich gefühlt und gefunden habe…um zu versuchen, mir aus alldem ein Bild oder bloß eine Art Vorstellung von mir selbst und dadurch von den anderen Menschen, der Geschichte und den unsichtbaren Dingen zu machen. Ich weiß, es gibt nichts Wahnwitzigeres. Mit jedem Tag, der vergeht, werde ich mir selbst fremder. Und doch kann ich nicht aufhören zu hoffen. Und doch fahre ich fort zu suchen.

H. P.