Der Winter

Es gab keine weiße Weihnacht. Die vielen Menschen, die aufs Land gereist waren, um die Weihnachtstage mit Schlittenfahrten und romantischem Eingeschneitwerden zu feiern, kamen mit Veilchen und Freilandrosen im Knopfloch zurück.

Der Weihnachtsnisse1 trug nicht wie sonst Pelz und Fellstiefel, sondern Regenmantel und Schirm. In dieser Montur hielt er alle Weihnachtsautoren zum Narren, die wie gewöhnlich ausgiebig in Schnee und klirrendem Frost geschwelgt hatten, um die richtige Weihnachtsstimmung heraufzubeschwören.

Es dürfte überhaupt ein dichterisches Missverständnis sein, dass Weihnachten und Schnee zusammen gehören – genauso wie die Annahme, dass Mai und Frühling untrennbar seien. Der dänische Schneewinter dauert von Januar bis Ende Mai. Der Rest des Jahres vergeht mit Warten auf den Sommer oder mit Klagen darüber, dass er ausblieb. Der dänische Sommer ist ein Winter ohne Schnee.

Die Weihnachtsreisenden, die dieser Tage ein wenig kleinlaut mit ihren Pelzen, ihren Schlittschuhen und allerlei enttäuschten Erwartungen interessanter Winterabenteuer nach Hause fahren, müssen sich indessen damit trösten, dass dieses "elendige" Weihnachtswetter für viel mehr Menschen nützlich als enttäuschend war. Für diejenigen, die ihr Feuerholz heimlich hinter Holzlagern sammeln oder es öreweise kaufen und in einem Stück Papier nach Hause tragen müssen, ganz zu schweigen von denen, die noch nicht einmal wissen, was ein heißer Kachelofen bedeutet – für diese sind ein paar Grad mehr das allerschönste Weihnachtsgeschenk. Dank dieses stillen Nebels sind die heiligen Tage für sie vielleicht leichter vorübergegangen, als sie selbst zu hoffen gewagt hatten.

Aber der Winter wird sich schon noch melden. Und wenn wir keine weiße Weihnacht hatten, trauen wir uns auch nicht, grüne Ostern zu erwarten.

Ganz im Gegenteil scheint uns die Erfahrung zu lehren, dass der Winter umso kräftiger und ausdauernder zupackt, je später es ihm beliebt, sich einzufinden. Das sollten die Leute nicht vergessen, die sonst zur Weihnachtszeit für diejenigen, die Not leiden, ein offenes Herz haben, die allerdings vielleicht durch dieses milde Wetter veranlasst wurden zu glauben, dass sie dieses Jahr an ihrem Mitgefühl sparen könnten.

Die vielen Leute, die sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande wie die Vögel mühsam ihre Nahrung sammeln und Windschutz suchen müssen, werden dieses Jahr auch noch zu spüren bekommen, dass sie Kinder des Nordens sind. Und das Jahr war nicht gut. Wie vielen es schon am Notwendigsten mangelt, könnte man leicht feststellen, wenn man eine Runde durch die höchsten Häuser in den engsten Gassen drehte und hier und da in die kleinen Räume hineinschaute, in denen die Bewohner selbst die einzige Wärmequelle sind.

Es gibt in Kopenhagen viel mehr Not, als die meisten ahnen. Das liegt daran, dass sich das schlimmste, tiefste Elend oft an den unzugänglichsten Orten versteckt, während man im Allgemeinen nur die Tagediebe wahrnimmt, für die Armut ein Beruf ist und Lumpen eine Uniform sind.

Es gibt hier in Kopenhagen unter den Dächern Höhlen von der Größe eines Kleiderschranks, in denen sich oft 4–5 Personen verschiedenen Geschlechts sammeln und Tag und Nacht dort aufhalten, ohne sich jemals auf den Straßen zu zeigen, weil sie keine Fetzen haben, um ihre Nacktheit zu bedecken. Viele von ihnen sind ordentliche und anständige Leute, die von ihrer Schamhaftigkeit und ihrem rechtschaffenen Ehrgeiz im Verborgenen gehalten werden und schon durch ein klein wenig Hilfestellung erlöst werden könnten.

Es wäre gut, wenn man rechtzeitig an diese Leute denken würde, bevor der Winter sie ganz erdrückt. Sie sind oft schwer zu finden und im Allgemeinen noch schwieriger in ein Gespräch zu verwickeln. Sie sind menschenscheu geworden, beinahe wie Tiere von langem Eingesperrtsein, und scheinen in einer Art stillem Wahnsinn zu leben, verursacht vom ewigen Hunger. Die Frage, ob sie Not leiden, verneinen sie gern, und oft kann man sie weder mit Macht noch guten Worten aus ihren Höhlen heraustreiben, deren Dreck, Gestank, Kälte und Ungeziefer ihnen zum Schluss eine Notwendigkeit geworden zu sein scheint.

Viele gute Kopenhagener schenken solchen Schilderungen noch keinen Glauben. Darauf erwidern wir: Gehen Sie selbst hinaus und suchen Sie, dann finden Sie schon die richtigen Stellen. Und tun Sie es am besten jetzt, bevor der Winter zuschlägt.

L.

 
[1] Weihnachtsnisse: Julenisse, dänischer Weihnachtskobold. tilbage