Zweimal getroffen

Ein Bericht.

I.

Er streifte durch die norwegischen Berge – ein langer, sonderbarer Kerl in abgenutzter Kleidung und mit einem eigenartigen, regungslosen Lächeln.

Niemand wusste so genau, von wo er eigentlich stammte, wo er herkam, und wohin er ging. Aber jedes Mal, wenn der "lange Däne" oder der Stängel – wie sie ihn auch nannten – regelmäßig im Frühling und Herbst mit seinem gewachsten Rucksack und seiner kleinen, stumpfen Shagpfeife durch das Tal schritt, konnten viele, bei denen er bescheiden an die Tür klopfte und um ein Glas Wasser oder Schwefelhölzchen bat, nicht der Versuchung widerstehen, ihn in die Stube zu bitten, um sich über seine vielen merkwürdigen Geschichten und seine ganze drollige Erscheinung zu amüsieren.

Man hatte jedoch nicht sonderlich Lust, ihn auf einem einsamen Weg in den Berghängen oder Wäldern zu treffen. In seinen winzigen, glühenden, kohlschwarzen Augen lag etwas merkwürdig Wildes, das hinter der Brille aufblitzte. Das Lächeln war auch nicht ganz vertrauenswürdig. Und das Haar fiel wie eine richtige Mähne über seine Ohren und den Nacken. – Die Mädchen auf der Hochweide schrien vor Schreck laut auf, wenn er nur seine lange, leicht gerötete Nase zu ihnen durch den Türspalt schob.

Nun war es freilich nicht leicht zu verstehen, warum in aller Welt er sich hier, in einem fremden Land, so verwahrlost herumtrieb, da er doch irgendwo ein geliebtes Elternhaus haben musste, das ihn mütterlich in die Arme schließen würde.

Manche fanden schlichtweg, dass er irgendwie ein Verrückter war. Andere meinten, er könnte wegen irgendeiner Untat von Zuhause geflohen sein – vielleicht sogar wegen eines Mordes! Ehrlich gesagt sah er nach allerhand aus, der Kerl! Aber fragte man ihn selbst, entzweite er bloß die langen, bleichen Lippen in einem stummen Lachen, während er in seiner merkwürdigen Sprache antwortete, dass es "viel, viel besser in Norwegen" sei.

Einmal, bei einem großen Fest, zu dem sie ihn von der Landstraße eingeladen hatten, konnte man ihm endlich entlocken, dass er wirklich aus Dänemark kam, ja, sogar Kopenhagener war! Aber als man ihn daraufhin fragte, ob er sich denn nie nach der Heimat sehnte oder an eine Rückkehr in sein Geburtsland dachte, hatte sich eine eigentümliche Röte auf seine spitzen Wangenknochen gelegt, und mit einem besonders geheimnisvollen Blick zur Zimmerdecke hatte er gesagt:

"Doch – wenn man mich da braucht."

Er war ein Rätsel. –

Gegen Winter, wenn Schnee und Kälte ihn von den Bergen trieben, zog es ihn nach Kristiania, wo er eine Arbeit in seinem Metier aufnahm: der Buchbinderei. Da konnte man ihn regelmäßig, jeden Abend, in einer bescheidenen Kellerkneipe für Handwerksleute und Höker sitzen sehen – immer in ein und derselben abgelegenen Ecke und ohne sich stören zu lassen über eine Zeitung gebeugt, die ausgebreitet vor ihm auf dem Tisch lag und die er mit großem Eifer von Anfang bis Ende studierte, während er sich in den immer dichteren Dampf der schwarzgebrannten Shagpfeife hüllte, die überhaupt nur sehr selten seinen linken Mundwinkel verließ. Aber sobald die ersten Frühlingstöne die Luft erfüllten, erwachte die Reiselust wieder unbezwingbar in seiner Brust. Er schnallte sich seinen gewachsten Rucksack um und zog aus in die Berge.

Im letzten Sommer erschien er wie gewöhnlich an den gewöhnlichen Orten, wo man sich inzwischen so sehr an sein Kommen gewöhnt hatte, dass man fand, er gehöre zum Frühling wie Star und Storch. Aber dieses Mal hatte sich sein Aussehen auf eine auffällige und sonderbare Weise verändert.

Nicht nur war die Röte seines Nasenrückens im Laufe des Winters in einem ziemlich beunruhigenden Ausmaß angestiegen, während sich die Magerkeit seines Körpers fast ins Skelettartige entwickelt hatte. Auch das Lächeln, das früher wie gemeißelt auf seinem bleichen, unergründlichen Gesicht gelegen hatte, schien nun erheblich weniger selbstsicher, und die kleinen, dunklen Augen starrten zerstreut und geistesabwesend vor sich hin, fast wie im Schlaf.

Auffällig war auch die Unermüdlichkeit, mit der er so gut wie täglich fragte, ob es "Neuigkeiten aus Dänemark" gebe – ebenso wie der Eifer, mit dem er sich über jede Zeitung warf, die ihm unter die Augen kam, und um Erlaubnis zum Lesen bat.

Manche machten sich Gedanken darüber. Aber fing man an, mit ihm über Politik zu reden, über die verzweifelten Verhältnisse zuhause in seinem Vaterland, über die Provisorienzeit1, den König und die Möglichkeit einer Revolution, dann schwieg er plötzlich ganz – und schlich kurz darauf leise davon.

… Dann kam der Tag – am 22. Oktober mit der alarmierenden Botschaft aus Kopenhagen: Mordattentat!2 Schüsse auf den Minister!

Es war eine Nachricht, die sogar die norwegischen Bauernhäuser erschütterte. Jetzt geht es los!, dachten sie. Jetzt ist das Maß voll! Und mit Aufregung nahmen sie jeden Tag die Zeitung in die Hand und dachten mit Unruhe und Anteilnahme an ihr altes Bruderland.

Aber wo war mit einem Mal der Stängel geblieben? Wer hatte den "langen Dänen" geschnappt? Lautlos wie ein Staubkorn war er plötzlich aus dem Blickfeld der Hallingdaler verschwunden … Niemand begriff, wohin oder warum. — — — — — — — — — — — — — —

Er war gleich beim ersten Gerücht Hals über Kopf über alle Berge gewesen, um auf kürzestem Weg zum Meer zu gelangen. Ohne zu ruhen, weder nachts noch tagsüber, war er durch Täler und Städte, Wald und Heide in einer unbekannten Landschaft gelaufen, bis er nach drei Tagen mühsamer Wanderung gegen Abend eine kleine Küstenstadt im Vestlandet erreichte. In einer ihrer kleinen, schmutzigen Seemannskneipen am Kai – den er augenblicklich aufsuchte – fand er schließlich einen kleinen, rotbärtigen, norwegischen Schiffer, der gerade seinen Kahn für Riga beladen hatte, und der nach etwas Hin-und-her-Gerede letztendlich einwilligte, ihn gegen eine bescheidene Geldleistung mitsamt drei Runden Genever und einer Flasche Rum als Passagier auf die Kopenhagener Reede mitzunehmen.

Schon früh am nächsten Morgen holten sie den Anker ein.

II.

Es war ein klammer, nebliger Novembernachmittag, als das Schiff sundwärts bei nordwestlichem Gegenwind fuhr.

Reinald – so hieß er, "der Däne", – stand unter dem Mast auf dem rutschigen und klatschnassen Deck, blau vor Kälte und die steifen Hände in die Ärmel des abgenutzten, fest zugeknöpften Mantels gesteckt, mitsamt dem Hut über dem schweren Haar, unter dem die kleinen, fiebrigen Augen bewegt nach vorn starrten, jedes Mal, wenn sie durch den Nebel ein Stück der heimischen, herbstbraunen Küste erspähen konnten, die sie passierten.

In ungefähr der gleichen Position und auf dem gleichen Fleck hatte er die meiste Zeit der langwierigen Überfahrt verbracht. Ab und zu hatte er sich etwas Bewegung zwischen Mast und Reling erlaubt, oder er hatte sich – wenn Aufregung, Unruhe und Ungeduld ihn überwältigten – in eine Rolle Ankertau auf dem Deck gesetzt, das Gesicht in den Händen vergraben. Sogar die Mahlzeiten hatte er ganz allein hier oder in der Kajüte eingenommen. Aber nachts schlief er unten zwischen einem Matrosen und einem kecken Burschen, die sich einen richtigen Spaß aus diesem unbegreiflichen Passagier machten, der sich wie ein gefangener Fisch in der Koje hin- und herwarf und im Schlaf laut schrie.

Ansonsten hatte es nicht viel Gelegenheit gegeben, nähere Bekanntschaft zu machen. Es war ein Hundewetter gewesen, mit Sturm und Regen über der Nordsee und Nebel im Kattegat. Ganze zwei Tage lang hatten sie ziemlich still vor Hesselø liegen und ununterbrochen mit der Warnglocke läuten müssen. Und als sich der Nebel endlich so sehr gelichtet hatte, dass sie das Segelsetzen wagten, mussten sie vor Kullen wieder anhalten, um einen Lotsen zu holen. Erst am Vormittag erreichten sie Kronborg, – und nun umgab sie der Sund wie eine bleigraue, schwerfällig wogende Masse, über die sich das Schiff langsam nach vorn schlich.

Es war fast Abend geworden, als Kopenhagen aus dem Dunst vor ihnen auftauchte. Ein eigenartiger Ruck durchfuhr Reinalds Körper, als er sah, wie sich die ersten Zinnen wie dünne Nadeln auf dem grauen Schleier des Horizonts abzeichneten, und unwillkürlich machte seine Hand eine Bewegung zu seiner Lende, als wollte er sich vergewissern, dass sich sein kleines, aber scharf geschliffenes Schnitzmesser noch in der Lederscheide unter seinem Mantel befand.

Sein Gesicht wurde blass. Seine langen Lippen bebten vor Ungeduld, während ein Turm nach dem anderen und eine Turmspitze nach der anderen aus dem Nebel hervortraten: Vor Frelsers3 schlankes Schneckenhorn, der Backsteinkegel der Sankt Jakobskirche und die anschwellende Kuppel der Marmorkirche; – und später: Die Börse, die Frauenkirche, der alte Mauerkran der Holmens Kirke4 und die schneeweißen Dächer der Schweinemetzgereien.

Zwölf Jahre lang hatte er seine Geburtsstadt nicht gesehen … nicht seit diesen ereignisreichen Tagen in den frühen siebziger Jahren, als er sich mit seinem brennenden jugendlichen Mut, seiner flammenden Begeisterung direkt in den Kampf gestürzt hatte, – in der Gewissheit, dass die Stunde nun für den großen Aufruhr geschlagen hatte, für die teure Rache der Leidenden, der Unterdrückten und der ungerecht Behandelten. Zwischen Sankt Petri und der Frauenkirche, in einer kleinen, ärmlichen Stube mit blauen Gardinen und hellgrauen Wänden, mit Blumen auf der Fensterbank und Sand auf dem immerzu gereinigten Fußboden, dort hatte er mit seiner betrogenen und verlassenen kleinen Mutter, deren einzige Sünde und Verbrechen er war, geschuftet und gestrebt. Die Augen träufelten ihm täglich den verbitterten Hass in die Seele, der seine jungen Wangen zum Brennen, sein Gehirn zum Glühen brachten. Und von dort stürmte er hinaus zu den großen Versammlungen im Fælled, wo er unter den Augen der Anführer selbst seine feurigen Reden an die jubelnden Tausenden hielt.

Und dann war er fortgereist: – enttäuscht, gebrochen, voll von Überdruss; – auf die schwarze Liste sämtlicher Papiermachermeister5 gesetzt, verfolgt von dem triumphierenden Grinsen treuloser Kameraden und den wachsamen Augen der Polizei. Und als dann auch noch seine Mutter starb, riss der letzte Faden, der ihn noch mit seinem Zuhause verband – und seitdem war er auch nicht mehr dort gewesen.

Aber wohin er seinen Fuß auch setzte – immer hatte er das halbe, hellhörige Ohr und sein ganzes Herz den alten Orten zugewandt … wachsam lauschte er jedem noch so leisen Geräusch, und grübelte darüber, wann wohl die Zeit kommen würde, zu der das Maß wirklich voll wäre.

… Und nun war es sicherlich voll. Nun war der Geduldsfaden endlich gerissen, die Axt bereit für die Wurzel des Bösen! … Oder – war es schon geschehen? War das Urteil vielleicht gefallen? Ihm schien es, als ruhte eine seltsame, ereignisschwangere Stille über der Stadt, die sich ihm nach und nach mit ihren bleichen Lichtern unter den stummen Silhouetten der Fabrikschornsteine offenbarte.

Er sank auf die Taurolle. Die Finger tanzten krampfartig in den Mantelärmeln. Und als der Matrose plötzlich vorbeikam, musste er den Kopf ganz in den Schoß legen, um seine Unruhe zu verbergen.

III.

Pünktlich um sechs Uhr warfen sie in der inneren Reede den Anker.

Nun war es vollkommen finster. Hunderte Schiffslaternen wogten auf beiden Seiten des durchdringenden Lichts, das von Trekroner ausging. Ein Dampfschiff fuhr plätschernd mit seinen iltisroten und katzengrünen Augen an ihnen vorbei, unter unaufhörlichem Pfeifen und Zischen. Aus der beleuchteten Stadt erklang dumpfes, fernes Getümmel.

Wackelnd, fast wie im Rausch, stieg Reinald in die Jolle, die ihn sogleich an Land brachte.

Der erste, den er an der Treppe zum Toldboden traf, war ein Stadtbote, der unter einer Laterne stand und Zeitung las. Mit klopfendem Herzen machte er einen großen Bogen um ihn, während er eindringlich sein blaues, aufgedunsenes Gesicht beäugte. Doch das verriet nichts. Auch der Zollangestellte, ein kleiner, mürrischer Kerl, der stumm seinen Rucksack untersuchte, gab ihm keine Auskunft. Doch als er jetzt durch das Tor in die leere, neblige Straße trat, wo einzelne Gestalten scheu unter dem matten Laternenschein an den Mauern entlangschlichen, wurde er erneut von dieser merkwürdigen Schweigsamkeit ergriffen, die das Blut in seinen Adern gefrieren ließ.

"Könnte es schon geschehen sein?", dachte er wieder.

Und unwillkürlich beschleunigte er seinen Schritt, wobei er ängstlich auf jeden Laternenpfahl schielte, an dem er vorbeikam.

Plötzlich blieb er stehen. Es kam ihm vor, als senkte sich ein starker, beißender Brandgeruch über die Straße. Er ging auf die Fahrbahn, um sich umzusehen. Doch im gleichen Moment läutete direkt hinter ihm eine brüchige Glocke, und von einem Branntweinausschank stürzten ein paar lautstarke Gäste auf den Bürgersteig.

Er beeilte sich, fortzukommen, und wollte sich gerade zur Bredgade aufmachen, als er durch den Nebel mehrere große Plakate entdeckte, die in einiger Entfernung an einem Palisadenzaun hingen. Erneut zuckte er zusammen. Bürgeraufruf!, fuhr ihm durch den Kopf, und mit langen Schritten schlich er über die Straße.

Doch durch den schwachen Lichtschein einer fernen Laterne las er daraufhin: Frau Menter!6 Letztes Konzert! Theater! Der Äquilibrist Chung-Chang! Hervorragende Leistung der höheren Luftgymnastik! Musse kommt!!! … Wanzenbekämpfung! …

Ein Stück entfernt erklang ein trockenes Husten. Er blickte sich um und erspähte einen Polizeihelm, der sich ihm langsam von der Grønningen näherte … Ungesehen schlich er um die Ecke und betrat die Store Kongensgade.

Hier strotzte es vor Licht und Menschen. In engen Scharen strömten Spaziergänger aus beiden Richtungen über die matschigen Bürgersteige – sprachen, lachten und husteten im dichten Nebel, der sich zwischen die großen Häuser gelegt hatte. Droschken rollten durch die Straße, Ladenglocken läuteten, Jungen pfiffen "Der glückliche Kupferschmied". An einer Ecke stand ein dicker Polizist und gähnte.

Reinald stutzte.

Er betrachtete diese jungen Herren, die mit wohlgepflegten Schnurrbärten und wohlzufriedenem Lächeln in ihren neuen Spaziermänteln an ihm vorbeiglitten, … diese Frauen und Fräuleins, die nach Parfum dufteten und ihre leuchtenden Augen hinter den kirschroten Schleiern spielen ließen, … diese Kinder, die hinter den Ecken Verstecken spielten oder in Gruppen vor den beleuchteten Ladenfenstern standen, … diese Dienstmägde, die mit ihren nackten Armen und hohen Absätzen kokettierten und zwischen Bäcker und Metzger hin und her huschten. Er blickte all diese Handwerker an, diese Geschäftsleute, diese Madames und Gesellen, die in Türen und Toren standen, über ihre Nachbarn plauderten oder Tabak rauchten. Und er lugte in Wirtshäuser und Kellerkneipen, wo die Leute dicht zusammengedrängt tranken und lachten.

Er verstand es nicht.

Verschleierte sie vielleicht etwas, diese Munterkeit? War sie ein Deckmantel, unter dem heimlich die Messer geschärft wurden?

… Fast ohne es zu merken, war er nach links in die menschenleeren Nebenstraßen abgebogen, wo er lange nachdenklich umherging.

Da wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich auf einen starken Lichtschein gelenkt, der von einem Haus etwas weiter vorn auf die Straße fiel, und in dem eine Equipage nach der anderen einfuhr und stehenblieb. Auf beiden Seiten des überdachten Eingangs war dort eine Menschenmenge zusammengekommen, wo Damen in Ballkleidern und Männer mit weißen Krawatten die feierliche Vorhalle betraten.

"Was ist hier los?", fragte Reinald einen Schuhmacherlehrling mit Sommersprossen, nachdem er dieses Schauspiel eine Weile verwundert mitangesehen hatte.

"Das sind die Liberalen."

"Die Liberalen? Wer soll das sein?"

"Die Liberalen! Also! … Jetzt reicht’s aber!"

"Es ist Fahnenweihe", warf nun ein altes Mütterchen in Haube und Saloppe7 ein und nickte ihm feierlich zu.

Er blickte auf sie hinab, als würde er seinen eigenen Ohren nicht trauen. – Fahnenweihe!, wiederholte er innerlich … Aber war denn irgendein Sieg errungen worden? – Oder …

Er überlegte, sich an einen gutmütig aussehenden, älteren Herrn mit grauem Hut zu wenden, der auf seiner anderen Seite stand und schmunzelte. Aber als er sich mit der Hand am Hutrand zu ihm beugen wollte, bekam er einen Blick zugeworfen, der weitaus weniger wohlwollend war, als er erwartet hatte; ihn verließ der Mut, und anstatt zu fragen, drehte er sich ganz um – und ging weg.

Er fühlte sich ganz benommen. Am Ende wusste er weder ein noch aus und schlich ziellos durch die dunklen Straßen.

Endlich hielt er zufällig an einer tiefgelegenen Kellerkneipe an. Und als ihm dabei einfiel, dass er den ganzen Tag nichts gegessen hatte, ging er hinunter.

IV.

Es war ein kleiner, schmutziger Raum mit vollgespucktem Fußboden, in dem sich gerade jedoch kaum Gäste aufhielten. Mitten unter der Decke hing eine dösig brennende Petroleumlampe ohne Kuppel oder Schirm, und in einem Winkel vor dem Ausschank saß der dicke Wirt ohne Jacke und schnarchte friedlich. Beim Klang der Türglocke fuhr er zusammen und starrte den Fremden mit schläfriger Verwunderung an.

Reinald setzte sich ans Ende der Bank neben der Tür und bestellte belegte Brote und eine Flasche Bier.

Mit großer Anstrengung und erst nach ein paar vergeblichen Versuchen kam der Dicke vom Stuhl hoch und schleppte sich zu einem Loch in der Wand, vor dem er daraufhin fünf Minuten lang stehen blieb, sich streckte und gähnte, bis das Gewünschte endlich durchgereicht wurde.

"Schlechte Zeiten – was?", sagte er dann, als er sich wieder auf einen Stuhl gegenüber vom Gast sinken ließ und sich betrübt eine Prise Schnupftabak genehmigte.

Über sein Brot gebeugt nickte Reinald stumm.

"Nirgendwo geht es voran. Nur Bankrott und Unglück und Elend überall … Mit Verlaub, sind Sie ein streikender Schmied?" Er hob das eine, schwere Augenlid zur Hälfte und blickte seinen Gast träge an.

Reinald schüttelte den Kopf.

"Also, das hätte ich aber gedacht" … Das Lid sank wieder. – "Hatschi!" – Er nieste, dass der Raum bebte … "Es war neulich einer hier unten – nur für einen Absacker, natürlich! – Lauter bedauerliche Dinge – natürlich! Alles im Pfandhaus! Frau und Kinder krank! Keine Kleidung am Körper! … Und so was überall! … Erst vorgestern wurde ein Schuhmachergeselle hier aus dem Dachstübchen rausgeworfen. Konnte nicht mehr die Miete bezahlen – natürlich! Sonst eigentlich ein anständiger Kerl, fleißig und ordentlich – aber viele Kinder und keine Arbeit. Die ganzen Sachen auf die Straße geschmissen! … Unser Herrgott wird schon wissen, wie das enden soll! … Und all das wegen der verdammten Politik!"

Bei diesem letzten Wort spitzte Reinald die Ohren. Aber auch der Dicke hielt auf einmal vorsichtig inne und warf einen musternden Seitenblick auf den Fremden.

"Ja, was halten Sie von der Politik hier?"

Reinald antwortete, dass er erst diesen Abend vom Ausland in die Stadt gekommen war und nichts wusste, aber dass er gern mehr erfahren würde. Er habe so viele Gerüchte gehört.

"Haben Sie auch von den neuen Provisorien gehört?"

"Nein!"

"Von den Gendarmen? Und der Polizei?"

"Nein …"

Der Dicke schüttelte den Kopf. Er genehmigte sich erneut eine traurige Prise Schnupftabak und ließ das vierfache Kinn auf seine schwulstige Brust sinken, auf der schon die gefalteten Hände wie zwei große Fettkissen ruhten, über denen die porige und runzlige Haut lose wie auf einem Gänsebürzel lag.

"Ist denn … Ist denn etwas passiert? … Ich meine – etwas Ernstes?", fragte Reinald stammelnd.

"Ach Herrgott, erlöse uns!", sprang der andere in fast weinerlichem Ton auf. "Was sollte da denn noch passieren? Ist es nicht ohnehin schon ernst genug? … Ich mache mir, Gott sei Dank, nichts aus Politik und dergleichen, und ich finde auch, dass sowohl Højre als auch Venstre8 was Gutes haben. Aber warum können die sich nicht vertragen? Die sollten doch daran denken, dass unsere Geschäftstreibenden das Ganze ausbaden müssen. Denn was helfen denn diese ganzen Maßnahmen? Essen die Leute deshalb jetzt mehr? Kaufen sie mehr Strümpfe und Schuhe – oder trinken sie deshalb jetzt mehr Bier? Also! Und jetzt auch die Wirtshäuser? … Ich habe hier die letzten Tage eineinhalb Fässer Bier an einem einzigen Abend allein an Arbeiter und Kleinhandwerker ausschenken können. Aber jetzt halten sich die Leute von öffentlichen Orten fern, um nicht wegen ihres Mundwerks in Verlegenheit zu geraten. Jetzt bleiben sie bei sich zuhause – oder vielleicht in geheimen Gesellschaften! … Ja, denn wer weiß, es gibt womöglich viele von denen. Und ist das besser? Ohne dass wir es wissen, ergeht es uns bald wie in Russland …"

"Glauben Sie?", fragte Reinald aufgeregt.

Der Wirt beäugte seinen Gast abermals mit einem vorsichtigen Blick. Dann blinzelte er ein paar Mal mit dem einen Augenlid und sagte in einem sonderbar geheimnisvollen Tonfall:

"Man sollte in diesen Zeiten auf nichts schwören. Es kann vielleicht nach etwas Neuem gefragt werden, bevor man es ahnt."

"Was meinen Sie?"

"Hm! Ich sage nichts!", sagte er und blickte mit wichtiger Miene in die Stube. Aber kaum hatte er die Worte ausgesprochen, wandte er sich gänzlich Reinald zu und legte vertraulich die Hand auf seinen Arm.

"Oben im zweiten Stock wohnt einer der Anführer", sagte er mit gedämpfter Stimme, "von der Opposition, versteht sich – –"

"Hier im Haus?"

"Im zweiten Stock, ja … Sie können mir glauben, da oben ist etwas im Gange. Das war ein Gerenne in letzter Zeit, die Treppen rauf und runter! Und die haben gezischt und geflüstert und die Köpfe zusammengesteckt, sobald sie auf die Straße kamen. Neulich … aber wieder nicht meine Worte! … Neulich gab es ein richtiges Treffen, bestimmt zwanzig Stück, auch Frauen – natürlich! Sie können sich darauf verlassen, da wurden die Dinge besprochen, mein Guter! Denn da muss die Polizei schön ihre Nase bei sich behalten. Und die Gendarmen! Guten Morgen! Die sollten lieber bald rausgeschmissen werden, nicht wahr? … Also, gut, wenn man da nichts mit zu schaffen hat. Wenn man sich um sich selbst und sein Geschäft kümmert, kommt man auch nicht in Verlegenheit, komme was wolle. Und ich bin weder Nihilinz noch Nilikunz, aber habe genug mit mir selbst und meiner Familie zu tun … Darf es noch ein Bier sein?"

"Nein danke", sagte Reinald und erhob sich schnell.

"Noch ein Gläschen?"9

"Nein danke. Wie viel muss ich zahlen?"

"Zweiundvierzig Öre."

Er zählte die Münzen ab – seine Finger zitterten leicht –, verabschiedete sich und verließ den Keller.

V.

Draußen auf der Straße blickte er sich zunächst sorgsam um. Daraufhin schlich er durch das Tor und stieg die Treppe hinauf. Im zweiten Stock prangte ein sehr großes Messingschild an der Tür. Er erkannte den Namen von den Zeitungen wieder und klingelte zaghaft.

Ein Zimmermädchen öffnete und sah ihn erschrocken an.

Ob der Herr zuhause sei?

Ja, aber er sei heute nicht zu sprechen. Er müsse weg und sei im Begriff, sich anzuziehen. Ob es nicht bis morgen warten könne?

Nein, er wolle sehr gern noch heute Abend mit ihm sprechen.

Ob sie ihm nicht etwas ausrichten könne?

Nein, er müsse dringend selbst mit ihm sprechen.

Sie ging. Doch zuvor verschloss sie die Tür mit der Sicherheitskette und warf einen Blick auf die Mäntel und Umhänge an der Garderobe.

Als sie zurückkam, bat sie ihn herrisch, sich gut die Schuhe auf der Matte abzuputzen, woraufhin sie ihn in ein großes, schickes und schön eingerichtetes Zimmer mit Teppichen, Samtsesseln, Kupfer und Gemälden einließ. An der einen Wand hing ein Türvorhang, und von hier trat kurz darauf ein mittelalter, blonder und fülliger Herr mit einem großen Knebelbart, schwarzer Robe, einer weißen Krawatte aus Atlas, Handschuhen und einer Rose im Knopfloch ein.

"Sie wünschen, mich zu sprechen?"

"Ja."

"Ah! Jetzt verstehe ich! Es geht um diese Kotillons!10 Also – haben Sie die Bukette arrangieren können?"

"Nein – ich bin Buchbindergeselle."

"Wie?" – der blonde Herr holte seinen Zwicker hervor – "Darf ich Sie dann um die Freundlichkeit bitten, sich kurz zu fassen. Mein Wagen wartet an der Tür, und ich muss dringend weg."

Reinald, der blass vor Anspannung war, und den dieser unerwartete Luxus und der sonderbare Empfang noch mehr verwirrten, konnte lange kein Wort hervorbringen. Endlich sammelte er sich, und mit naiver Umständlichkeit machte er sich daran, seine Anwesenheit zu erklären. Er begann mit seiner Jugend, mit den großen Versammlungen im Fælled und der Abreise, erzählte davon, wie er erst diesen Abend aus Norwegen hergekommen war, wo er sich die letzten zehn Jahre aufgehalten hatte, wie er dort oben den Verlauf des Streits mitverfolgt hatte, und nun gekommen war, um "der Sache" seinen Dienst anzubieten.

Ein aufhellendes Lächeln stahl sich unter den großen, blonden Knebelbart und in die hellen Augen, die misstrauisch hinter der Brille auf dem merkwürdig aussehenden Fremden geruht hatten und ihn genauestens vom buschigen, wilden Haar bis zu den ausgetretenen, schmutzigen Schuhen betrachtet hatten. Er ging einen Schritt auf ihn zu und reichte ihm herzlich die Hand.

"Was Sie mir erzählen, erfreut mich sehr. In Zeiten wie diesen braucht das Land jeden seiner grundgesetztreuen Söhne. – Ja, wirklich; es ist, wie Sie sagen … wir haben Krieg im Land, Krieg bis aufs Messer! Aber gerade deshalb ist es gut, ja, groß von Ihnen, dass Sie zur Stunde der Gefahr zu den Fahnen eilen. Herzlich willkommen! Seien Sie gewiss, dass wir Ihre Hilfe nicht geringschätzen."

Er schüttelte ihm abermals die Hand.

Aber Reinald, der jetzt Mut fasste, blickte sich nun um und sagte daraufhin im Flüsterton:

"Uns kann wohl keiner hören?"

"Nein, junger Mann! Aber wieso?"

"Ja … ich würde nämlich … ich würde nämlich gern noch heute Abend wissen, wofür Sie mich gebrauchen können."

"Gebrauchen können? … Wie meinen Sie das?"

"Sie können über mich gebieten. Ich bin für alles bereit."

"Bereit? … Für was?"

"Sie können mir ganz sicher vertrauen, Herr. Sie können sich auf mein Wort verlassen. Wie ich Ihnen sagte: Ich habe bis heute geschwiegen."

"Aber was will der Mann?", rief der Blonde schließlich, wobei er zum Schreibtisch zurückwich und mit plötzlichem Entsetzen auf diese blasse, bebende Gestalt starrte, diese beiden kleinen, kohlschwarzen Augen, die über den dunklen Bartstoppeln glühten. "Was sagen Sie da? Was wollen Sie? Was meinen Sie? … Haben Sie den Verstand verloren, Mann? – – Wollen Sie …? Ist es Ihre Absicht …? Kommen Sie wegen? …? Haben Sie den … – – –"

"Na, na, na, ja, ja", unterbrach er sich selbst, als er die verblüffende Wirkung seines Ausbruchs auf den Mann sah – er hatte sich auch selbst echauffiert, streckte jetzt aber beruhigend die Hand aus … "Das ist natürlich auch nicht Ihre Absicht. Natürlich nicht! … Es sind – ich kenne das von mir selbst, und verstehe es letztlich so gut – diese … diese starken Gedanken, die … in einzelnen Momenten … in diesen Zeiten … also! … Aber – nicht wahr, lieber Freund? Lassen Sie uns um Gottes willen nicht mit dem Feuer spielen. Nehmen Sie meine Worte deshalb nicht zu ernst. Am wichtigsten von allem ist es, sich nicht falsch zu verstehen."

Und als er erst einmal in Fahrt gekommen war, fuhr er fort, während er hin und her lief und eifrig gestikulierte – mit seinem Taschentuch, das er ab und zu über seine noch warme Stirn wischte:

"Wie ich Ihnen sagte, was Sie mir erzählt haben, erfreut mich außerordentlich. Jetzt müssen sich alle grundgesetztreuen Männer unerschütterlich zusammentun. Wir erleben zurzeit einen Neuanfang. Man hat gegen das Grundgesetz verstoßen – ein klarer und unmissverständlicher Verstoß! Aber – nicht wahr? – wir wollen den Kampf mit der Waffe der Rechtmäßigkeit führen, die siegen soll, muss und wird. Lassen Sie alle ungesunden Gedanken beiseite, lieber Freund! Unterstützen Sie uns mit all Ihrem Können in unserem Streben nach festem Boden. Treten Sie der Wahlvereinigung bei, unterstützen Sie unsere Zeitungen, kommen Sie fleißig zu den Treffen, spenden Sie Ihr Geld an unsere Fonds … und Sie werden sehen: Der Sieg wird eines Tages doch noch unser."

Kurz darauf tapste "der Stängel" die Treppe hinunter. Als er auf der Straße stand, rollte ein Wagen aus dem Tor. Er schaute ihm lange hinterher und lächelte schmerzlich.

Jetzt wandert er wieder durch die norwegischen Berge und atmet ihre reine, unverfälschte Luft.

HENRIK PONTOPPIDAN.

 
[1] Als Provisorienzeit (da. provisorietiden) werden die Jahre 1885-1894 bezeichnet, in denen der konservative (der Partei Højre angehörige) Ratspräsident (heute Premierminister) und Finanzminister J.B.S. Estrup "provisorische" Haushaltsgesetze gegen die Stimmen der Mehrheit des Parlaments (Venstre) erließ. Mitglieder und Unterstützer der Venstre als verurteilten diese Alleingänge als verfassungswidrig. In der Folge kam es landesweit zu Ausschreitungen und Festnahmen; auch Henrik Pontoppidans Bruder Morten musste wegen seiner Kritik an der Regierung für drei Monate ins Gefängnis. Estrup trat 1894 zurück, nachdem Højre und Venstre gemeinsam das jährliche Haushaltsgesetz erarbeitet und erlassen hatten. tilbage
[2] Am 21.10.1885 schoss der neunzehnjährige Typograf Julius Rasmussen zweimal mit einem Revolver auf J. B. S. Estrup vor dessen Haus. Das erste Projektil prallte an Estrups Mantelknopf ab, das zweite ging daneben. Die Regierung nahm den Vorfall zum Anlass, das Gendarmkorps zu gründen. Rasmussen wurde zu vierzehn Jahren Zuchthaus verurteilt und nahm sich nach vier Jahren das Leben. tilbage
[3] Vor Frelsers Kirke ist der Name einer Barockkirche in Kopenhagen. tilbage
[4] Holmens Kirke bezeichnet eine Kirche in Kopenhagen, die am Holmens Kanal liegt. tilbage
[5] Pontoppidan schreibt im Original papmager. Hierbei handelt es sich vermutlich um eine Abstufung des Buchbinderberufs. tilbage
[6] Sophie Menter war eine deutsche Pianistin und Komponistin. tilbage
[7] Eine Saloppe ist ein locker sitzendes, ärmelloses Kleidungsstück für den Sommer. tilbage
[8] Højre war eine dänische Partei im rechten Spektrum, die 1915 in der konservativen Partei Det Konservative Folkeparti aufging. Venstre verweist ebenfalls auf eine dänische Partei (Det forenede Venstre), die historisch im linken Spektrum verortet war und entsprechend ein Gegenstück zu Højre bildete, heute jedoch als liberal gilt. tilbage
[9] Im Original "knude", eine Mischung aus bayerischem Bier und Bitterorangensaft. tilbage
[10] Kotillon bezeichnet in diesem Zusammenhang nicht einen Tanz, sondern Blumenbukette. tilbage