Der Dichter – gebunden an den Schreibtischstuhl

Tagebuch

18. Oktober.

Ich erwähnte gestern die alles überschwemmende Produktivität unserer Autoren; Romane, Gedichte, Novellen, Dramen fliegen – unfertig – zu Frühling und Herbst aus ihren Händen. Sie gönnen weder sich selbst noch ihren Lesern Ruhe. Das eine Werk ist kaum gelesen, bevor das andere zur Tür hereingebracht wird.

Wenn dieser überordentliche Reichtum nun von einer entsprechenden Fruchtbarkeit der Seele des Dichters herrührte, er die Auswirkung einer schwellenden Gärung wäre, die Luft haben sollte und müsste – dann wäre nichts daran auszusetzen. Aber man spürt, dass dies nur in den seltensten Fällen zutrifft.

Dies geben die Autoren selbst auch recht offenherzig zu. Sie machen keinen Hehl daraus, dass es oft eher ein allgemein menschlicher Drang ist, der ihnen ihre Bücher diktiert.

Henrik Hertz "sang":

Um zu leben, muss ich schreiben,
wie ich dann auch bin beherzt;
um zu leben, muss ich treiben
die Muse hin zu Vers und Scherz.1

Mit anderen Worten: Weil es nur selten geschieht, dass das Talent mit des Glückes Goldmünzen in der Hand geboren wird, und weil es heutzutage Sitte ist, dass unsere verehrten Dichter sich allein mit dem Dichten beschäftigen und daneben kein anderes Standbein haben, das dabei helfen kann, sie zu ernähren oder ganz für ihre Verpflegung zu sorgen, wenn die Muse – die ja ein weibliches Wesen ist – Launen bekommt oder schließlich ganz mit ihnen Schluss macht; weil die Anzahl der Buchkäufer in einem kleinen Land wie Dänemark zwangsläufig begrenzt ist – dann müssen selbst anerkannte Autoren Mal für Mal ihren Füller gebrauchen, allein um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Soundso viele Blätter müssen sie im Jahr füllen, um nicht im Armenhaus zu landen; und gehören sie nicht gerade zu den Lieblingsautoren der Nation, müssen sie förmlich sowohl mit Händen als auch mit Füßen schreiben, um ein nur einigermaßen bürgerliches Dasein fristen zu können.

Doch stehen die Verhältnisse für dänische Autoren wirklich so schlecht; steht es derartig um das recht berühmte und besungene freie Zigeunerdasein der Dichter, dass sie, um nicht zu Tode zu hungern, gefesselt von Morgen bis Abend sitzen müssen, mit dem Hintern an den Schreibtischstuhl gebunden – so scheint das ein triftiger Grund für sie zu sein, auf die aus der Romantik stammende falsche Hochvornehmheit zu verzichten und vom Parnass hinunterzusteigen und das Leben selbst in die Hand zu nehmen wie andere sterbliche Menschen. Neben dem Dichten müssen sie außerdem Handelsleute, Staatsdiener, Seefahrer, Ackerbauern, Kleinwarenhändler, Bierbrauer werden. Sie werden dann ohne einen anderen Gedanken als den an ihr eigenes Vergnügen und das der anderen ihr Talent pflegen können, und sie werden auch den großen Vorteil haben, in lebhaftem Umgang mit vielen Menschen zu sein und mit unzähligen Verhältnissen vertraut zu werden, die sie bei ihrer gegenwärtigen Zurückgezogenheit nicht kennenlernen. Daher schreiben unsere Dichter auch fast immer ausgehend von ihren Kindheits- und Jugenderinnerungen. Von ihrem fünfundzwanzigsten Lebensjahr an sitzen sie an einen Schreibtisch gepflanzt, sehen nichts, erleben nichts und bleiben deshalb nur dabei, sich bis in unerträgliche Unendlichkeit zu wiederholen, zum Leidwesen für sie selbst und zur Langeweile von anderen. Und zwingt die Not sie schließlich dazu, sich nebenher einen anderen Erwerb zu suchen, werden sie gerne Lehrer in einer Dorfschule oder Journalisten – die beiden stumpfsinnigsten Beschäftigungen, die es auf Gottes allzu grüner Erde gibt.

Urbanus

 
[1] Um zu leben…: Erste Strophe des Gedichts "Dichterlos" in Digte fra forskjellige Perioder [Gedichte aus verschiedenen Epochen], Bd. II (I-IV erschienen 1851-62), S. 60:
For at leve maa jeg skrive,
Om jeg aldrig saa var stemt;
For at leve maa jeg drive
Muserne til Vers og Skjemt.

[Um zu leben, muss ich schreiben,
wär' ich so auch nie beherzt;
um zu leben, muss ich treiben
die Musen hin zu Vers und Scherz.]
(Pontoppidan gibt das Gedicht im Dänischen mit einer Veränderung in der 2. Zeile wider). Pontoppidan hat die Strophe (inkl. dem Fehler in der 2. Zeile) aus Schandorphs Brief vom 06.12.1888 abgeschrieben. tilbage