"Wem die Gabe des Glaubens nicht gegeben ist"

Tagebuch

20. August

Für einen Außenstehenden ist es schwierig, das Verhältnis zwischen den Gläubigen und ihrem Gott zu verstehen. Solange es sich zum Teil auf die Hoffnung auf eine himmlische Belohnung und die Furcht vor ewiger Strafe gründet, lässt es sich recht natürlich erklären. Aber dieses Liebesverhältnis zu Christus, auf das sich das moderne Christentum immer mehr zu beschränken scheint, die Freude in der Gemeinschaft mit einem erdachten Wesen, die selige Empfindung gegenüber einem mystischen Unsichtbaren, der stützt, tröstet, erfreut und liebt, und ohne den das Leben aus lauter Sorgen, Entbehrung und Finsternis bestünde – das alles zusammen ist ein Rätsel, ja, ein Wahnsinn für diejenigen, denen die Gabe des Glaubens nicht gegeben ist.

Ich habe in der Tat einen Mann gekannt, ein sogenanntes "Cholerakind"1, der eine leidenschaftliche Liebe zu seiner Mutter hegte, obwohl er sie nie gesehen hatte und nicht das Geringste über sie wusste. Das Bild, das er von ihr erdacht hatte, war vollständig aus der Luft gegriffen, und dennoch bewahrte er ihr Antlitz mit tiefster Ehrfurcht, ja er ließ sogar einen Maler auf der Grundlage seiner Beschreibungen ein Portrait von ihr anfertigen, das er in seiner Stube aufhängte, und sagte zu seinen Gästen aus voller Überzeugung:

"Das ist meine Mutter!"

Das Bedürfnis der Menschen, sich ihren Ursprung leibhaftig vorzustellen, ist alt und natürlich. Wir alle tragen wohl mehr oder weniger ein Gottesbild in unserem Herzen, angepasst an unser Verlangen und unsere Bedürfnisse. Dennoch erklärt dies nicht die sture Überzeugung der Gläubigen von der Unfehlbarkeit ihrer Vermutungen. Jener verwaiste Mann liebte wohl das Bild, das er sich von seiner Mutter gemacht hatte; aber wenn schließlich ein Eingeweihter zu ihm gekommen wäre und gesagt hätte, es wäre fehlerhaft, hätte er doch nicht ernsthaft an der Verlässlichkeit seines Fantasiegebildes festgehalten. Dies hingegen tun die Gläubigen. Sie glauben eher, dass alles, was sie mit ihren irdischen Augen um sich herum sehen, dass alles, was Intelligenz und Erfahrung lehrt, bloß Sinnestäuschung ist, als dass sie an der Wahrheit eines einzigen Details des Christusbildes zweifeln, das in ihrer Seele entstanden ist. Es nützt nichts, wenn die Wissenschaft sagt: Das ist unmöglich! Ihre Überzeugung ist so unerschütterlich, dass sie dafür sogar in den Tod gehen, wenn nötig.

"Aber wie kann ich auch zweifeln", sagen sie, "wenn ich beständig Gottes Anwesenheit fühle und täglich von seiner Liebe erfüllt bin? Ich wusste gar nicht, was Freude ist, bis zu dem Tag, als meine Augen geöffnet wurden für das Leben mit Gott und ich mich zu ihm bekannte."

Fragt man nun einen Gläubigen, wie er dazu kam, sich zu Gott zu bekennen, sagt er immer, insofern er sich überhaupt noch daran erinnert, dass es die ein oder andere Gelegenheit gab, in der sein Gemüt stark bewegt war und er von der Macht ergriffen (oder angesteckt) wurde, die der Glaube über jemanden anderen hatte. Mit anderen Worten: In einem bestimmten Augenblick, als seine Nerven besonders empfänglich waren, stand er unter Einfluss eines anderen Gläubigen und dieser hatte ihm mit seinem Bekenntnis seinen Glauben "eingeimpft".

Erinnert dies nicht an hypnotische Phänomene?

Einmal wohnte ich einem großen Kirchenfest im Markusdom in Venedig bei2. Der große, prachtvolle Raum war bis zur Bedrängnis mit einer bunten Schar jeglicher Klassen gefüllt, in Seide gekleidete Damen, Landstreicher, Bürger und Dienstmädchen, die vom Markusplatz hereingetrieben wurden, um das Schauspiel zu sehen. Ein Bischof unter einem Baldachin, gefolgt von einer Schar weißgekleideter Priester mit hohen Leuchtern, Mönchen in Braun und Messdienern in Rot mit vergoldeten Weihrauchgefäßen, zog mit tiefem, monotonem Gesang durch die Kirche, während von der Empore aus, unter dem Chorbogen, ein Männerchor begleitet von Orgeltönen ab und zu einfiel. Am Anfang gab es ein Drängeln und Schubsen, um etwas zu sehen, und ein Flüstern und Tuscheln von jenen, die sehen konnten. Als allmählich der betäubende Weihrauch den Raum erfüllte und sich die tiefen Stimmen der Mönche erhoben, wurde die Menschenmasse von einer unheimlichen Andacht ergriffen. Die Leute verstummten und rührten sich nicht länger. Sie falteten die Hände vor der Brust und viele Wangen wurden bleich. Als erst eine und dann eine weitere Frau unter hysterischem Heulen auf die Knie fiel, breitete sich so etwas wie eine hypnotische Ansteckung über die gesamte Versammlung aus; als dann am Ende der Bischof zum Altar ging, während der Gesang lauter wurde, sich mit dem heiligen Goldkreuz in der erhobenen Hand unter dem Chorbogen wandte, sank mit einem Mal die gesamte Menschenmasse, in vollkommener Ekstase, der Länge nach auf den Marmorboden der Kirche, die in Seide gekleidete Dame Seite an Seite mit dem Landstreicher, händeringend und in Tränen aufgelöst. Es war kaum zu glauben, dass dies wirklich die gleichen Menschen waren, die vor einer Viertelstunde vom hellen und fröhlichen Markusplatz in die Kirche gezogen waren, den Kopf voller alltäglicher Kleinigkeiten, und noch mit dem weltlichen Weihrauch aus Tabak, Wein und Parfum in ihren Kleidern.

An diese Szene musste ich denken, als ich neulich im Sitzungssaal der Heilsarmee saß.

Die langatmigen, etwa gleich lautenden Bekenntnisse der Agierenden, die in einem näselnden, halb singenden Ton vorgetragen werden, versetzen einen in einen sonderbar dämmrigen Zustand, der einem vollständig die Kraft rauben würde, wenn nicht kleine Schimpftiraden, die hier und da plötzlich von dem Redner aufkommen, dem Schlaf die Stirn bieten würden. Das Ergebnis ist schließlich eine sonderbar weiche, nachgiebige Stimmung; und dann, gegen Ende der Sitzung, schleichen ein paar aus der Mannschaft zwischen den Zuhörern umher und flüstern plötzlich von hinten mit geheimnisvoller Stimme Worte ins Ohr wie:

"Ich bin Jesus", "Dein Retter ist bei dir" und so weiter.

Es nützt nichts, wenn man so tut, als ob man ihn nicht hört, oder ihn bittet zu gehen. Die Stimme verbleibt mit: "Ich bin Jesus … Hier spricht Jesus …" Da passiert es manchmal, dass Ungefestigte die Fassung verlieren, besonders junge Mädchen, die sich vielleicht wirklich sündbehaftet oder verlassen fühlen; sie brechen in heftige Tränen aus; die geheimnisvolle Stimme hat sie in ihrer Gewalt und führt sie schließlich willenlos zum Ambo, wo sie bekennen: "Eine Seele ist gerettet!"

Es ist eine unheimliche Erscheinung. Und im Stillen fragt man sich, ob es nicht an der Zeit wäre, dass die Gesetzeshüter, die ja gerade zurzeit so stark gegen die magnetischen Quacksalber vorgehen, sich auch um diese Art von Hypnose kümmern.

Urbanus.

 
[1] Cholerakind: verlor seine Eltern in der Choleraepidemie von 1853. tilbage
[2] Einmal: auf der Hochzeitsreise 1882. tilbage