Esther

Mit gerade fünfzehn Jahren – hübsch, weiß und schmächtig – kam sie von ihrem ersten Ball als Erwachsene nach Hause. Sie war todmüde und ließ sich in den erstbesten Sessel fallen, während die traute Familie das verwirrte junge Ding fast zu Tode geherzt hätte.

"Sie wird wie ein Stern funkeln! – Wie ein Stern!", versicherte Tante Ine, die dabei gewesen war, und schlang ihre langen Arme um sie.

Und die alte Tante Bine schwirrte in glühendster Verzückung umher, umklammerte alles in ihrer Nähe, beschwor alle, darauf zu achten, wie Esther eines Tages den allerhöchsten Kreisen angehören würde.

Esther sah ihre Familie damals mit großen dunklen Augen an und verstand offensichtlich nichts.

Doch als sie schließlich weg waren, und es in der Wohnstube wieder still war, da drehte sie ihren schweren, müden Kopf zu jener Ecke, in der ihr Vetter und Pflegebruder Povl in einem fleckigen Hausmantel abwartend saß, Nägel kauend, schmollend, da er noch immer kein Student war.

Und als sie endlich seinen Blick auf sich gezogen hatte, drehte sie ihren Kopf mit einer dieser großen Fragen, die ihr zartes, neckisches Lächeln in sich barg, noch ein klein wenig vertrauter zu ihm.

Vielleicht war das ein bisschen zu kokett gewesen, denn Esther hörte erschrocken auf, als sich Povl plötzlich zu voller Größe aufrichtete. Und als er ihr darauf wortlos einen düsteren, vorwurfsvollen Blick zuwarf, dass es förmlich knisterte – da war sie wieder ganz Kind und sprang mit einem Aufschrei vom Stuhl auf und schlang ihre jungen Arme um seinen Hals.

"Ach Povl – Povl! Ich will nicht – hörst du? – Ich will das doch überhaupt nicht!" –

Unterdessen sah es fast aus, als würde sich die Prophezeiung der alten Tante Bine erfüllen. In der Tat machte wenig später ein Freier, der sogar Leutnant war, seine Aufwartung.

Jetzt mussten doch alle glauben, das Kind habe sein Glück gemacht. Doch Esther war schon immer ein eigensinniges kleines Geschöpf gewesen. Anstatt Ja, Danke und In Gottes Namen zu sagen, war sie den ganzen Tag stumm wie ein Fisch. Und erst als man das arme Herz so lange angebettelt hatte, bis es erschöpft und gequält sein kleines Geheimnis preisgab, richtete sich Esther keck auf und erzählte freimütig, wenn auch unter Tränen, dass Povl und sie sich schon vor Langem für einander entschieden hätten und sie kein Sterbenswörtchen mehr über diesen Leutnant hören wolle.

Da half kein Flehen der Mutter, mit den Kindereien aufzuhören und zu bedenken, dass dies eine ernste Sache sei. Esther blieb dabei. Und zwischen Mutter und Tochter wäre es fast zum ersten Ehestreit gekommen, als sich plötzlich eine lähmende Krankheit im Körper des jungen Mädchens ausbreitete und von da an alles beherrschte.

Für die meisten anderen außer Esther kam das eigentlich nicht überraschend. Frau Linds kleine Tochter hatte immer etwas ängstlich Zartes und Schmächtiges gehabt. Von Geburt an war sie in Wattedecken gepackt worden, und ihre Amme hatte halb erbost, halb unter Tränen behauptet, dass dies unmöglich ein richtiges Menschenkind sein könne, so wenig wie es von ihrer Milch, auf die sie zu Recht stolz war, zu sich nehme.

Wenn sie mit ihrem zarten, kränklichen Lächeln auf dem blassen, durchscheinenden Gesicht zwischen ihren Schulkameraden herlief, da wagten diese kaum, ihre Füße aufzusetzen, aus Angst, Esther beim kleinsten Geräusch zu Tode zu erschrecken – so zerbrechlich sah sie aus. – –

Jetzt lag Esther das fünfte Jahr auf der Chaiselongue in der Wohnstube, so unbeholfen und kraftlos wie ein Kind in der Wiege – so rein, so jung und friedlich, dass den Leuten schon bei ihrem Anblick die Tränen kamen.

Unter ihren schwarzen Zöpfen lag ein kleines weißes Seidenkissen, und ihre Beine waren in eine getigerte Decke gehüllt.

Dazu trug sie immer ein schneeweißes Wollkleid mit vielen Spitzen an Ausschnitt und Ärmeln, denn das arme Ding wusste, dass ihr das stand und sich mit dem dunkelgrünen Samtplüsch der Chaiselongue gut ausnahm.

Ganz allein, mit geschlossenen Augen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und die schwachen Hände locker über der Decke gefaltet – so lag sie ruhig da.

Doch da wurde ihr Gesicht von einem eigentümlich offenen Ausdruck erfüllt, wie man ihn bei schwerhörigen Menschen findet.

Denn sie lauschte; sie erfreute sich daran, anhand der Geräusche zu erraten, was vor sich ging, was unten auf der Straße oder weiter oben im Haus geschah. Diese langen, müßiggängerischen Tage hatten ihre Ohren so bemerkenswert fein und hellhörig gemacht, dass sie alle Dinge und alle Nachbarn an ihren Geräuschen erkannte; und in ihrer kleinen Welt geschah nichts, das nicht in die Ecke der Wohnstube drang, erraten und bewertet wurde und Stück für Stück zu einem Bild verschmolz.

Vor allem aber hatte sie ein feines Gespür für das leicht knirschende Geräusch von Povls Stiefeln, das sie unter Hunderten anderen ausmachen konnte, sobald sie vom Kongens Nytorv abbogen.

Und sie folgte auf ihre eigene zärtliche Art deren Weg über das Pflaster hinweg, näher und näher, zwischen Holzschuhen und Pantoffeln, bis zum abrupt einsetzenden dumpfen Geräusch der Schritte auf dem wippenden Rinnsteinbrett der Brennerei, bevor er ins Tor einbog.

Dann schlug sie die Augen auf und betrachtete ihren Spitzensaum; und wenn sie dann den Kopf so weit sie konnte zur Tür drehte, da huschte ihr gleichsam ein Hauch von Röte über die bleichen Wangen. –

Povl war in diesen fünf Jahren von einem knochigen Jungen zu einem schwerfälligen und dicken Regensianer1 mit runden, munteren Wangen herangewachsen. Trotz seiner dreiundzwanzig Jahre hatte er bereits einen ziemlich dicken Bauch; doch leider war er in allen anderen Dingen nicht so gewissenhaft wie im Biertrinken.

Für seinen Aufenthalt in der bekannten polytechnischen Besserungsanstalt in Zürich war Frau Lind seinerzeit aufgekommen; doch ein wohlgesinnter Freund hatte ihn nach weniger als einem Monat in solch einem verwahrlosten Zustand zurückgeschickt, dass er weder wusste, wo seine Uhr noch sein Geld waren.

Und dennoch war dies eine glückliche Fügung, da er so der Hochzeit mit einer Sängerin und einer ordentlichen Tracht Prügel durch die anwesende Metzgersgilde entkam.

Jetzt studierte er irgendetwas Unbestimmbares am Regensen, und die übrige Zeit tauchte er bei Bällen und Gesellschaften ab, wo er unter dem Namen "der schöne Lind" firmierte.

Denn Povl hatte – trotz seiner Fülle – immer noch etwas Frisches und Einnehmendes, und jetzt hatte er auch noch diesen winzigen schwarzen Schnurrbart, den Esther ihm damals so sehr gewünscht hatte.

Den Weg zur Familie in der Store Kongensgade fand er jedoch immer seltener. Und wenn er schließlich kam, war er gewöhnlich so beschäftigt, da er hierhin zum Mittagessen, dorthin zum Abendessen und allenthalben auf einen Ball musste, dass er kaum Zeit fand, sich zu setzen, bevor er wie ein Wirbelwind wieder von dannen zog.

Esther lag wieder mit geschlossenen Augen in ihrer Ecke, lauschte den fortgehenden Schritten, dem dumpfen Geräusch auf dem Rinnsteinbrett und den kleinen taktfesten Schlägen des Stocks auf dem Pflaster – ferner und ferner – zwischen Holzschuhen und Pantoffeln, bis er um die Ecke bog. – Drei Schritte konnte sie ihm auf den Kongens Nytorv folgen. Dann entfleuchte er ihr.

Derweil schwanden mit jedem Tag Esthers schwache Kräfte; es war leicht zu erkennen, dass sie ihr Leben kaum noch würde aufrechterhalten können.

Sie quälte sich so einen Sommer und einen Winter und noch einen Sommer lang; doch als der Herbst anbrach, fiel sie ganz in sich zusammen, und an einem stürmischen Augustabend war es in Frau Linds großer Wohnstube so still, als erwarte man den Tod.

Auf dem Tisch brannte die Lampe. Ihr dunkelgrüner Schirm tauchte das Zimmer in ein grünliches Halbdunkel, während das stärkste Licht in solch einem kleinen Kreis auf das Spitzendeckchen fiel, dass sich Tante Ine und Bine zum Tisch vorbeugen mussten, um ihre Handarbeiten sehen zu können.

Es war ganz still: nur das Geräusch zweier emsiger Stricknadeln und Esthers kurzer Atemzüge vom Bett, das auf ihren Wunsch hierher gestellt worden war, damit sie da sterben konnte, wo sie am meisten gelebt hatte. Draußen tobte der Wind und pfiff um die Ecke. Ein Windstoß blies ohne Unterlass aus der Seitenstraße und klopfte gegen die Scheiben.

Doch in der Stube war es heiß, im Ofen knisterte ein Holzscheit, und es duftete angenehm nach eingelegten Rosenblättern.

Gegen neun Uhr wurde Esthers Atem so schwach, dass Frau Lind, die am Kopfende Wache hielt, meinte, es ginge zu Ende.

Da legten die Tanten die Arbeiten zur Seite und stellten sich ans Bett.

Aber vorher drehten sie den Lampenschirm ein wenig zur Seite, sodass ein starker Schein auf Esthers weißes Bett und eine Vase mit noch taufrischen Blumen fiel, die am Kopfende stand.

Da riss Esther plötzlich die Augen weit auf und verharrte so einen Moment, als würde sie lauschen, – und dann glitt ihr eine Zuckung über die Lippen. Es hätte ein Lächeln sein sollen.

"Povl!" – sagte sie, während sie die Augen wieder schloss, mit leiser Stimme, in der noch etwas von dieser ihr eigenen Sanftheit, diesem Singenden lag.

In diesem Moment rumpelten drei-vier Wagen durch die Straße, und der Wind sauste lautstark herab; es zeigte sich, dass sie recht hatte. Kurz darauf läutete es.

Povl kam, für einen Ball gekleidet. Er wusste nicht, wie ernst es um sie stand und war ganz erstaunt, als sie ihm Schweigen geboten. Doch nachdem er leise ans Bett geschlichen war und sich den Kneifer aufgesetzt hatte, musste er den Kopf schütteln.

Dort lag Esther und atmete so sachte, dass sich ihre Brust kaum hob. Aber nach einem kurzen Moment regte sich etwas in ihr, erst ganz schwach, dann stärker und stärker, aber lautlos. Die drei standen um das Bett und sahen sie ruhig an. Im leeren Esszimmer schlug die Uhr neun kleine zitternde Schläge.

Povl wurde durch diesen Anblick so gerührt, dass er mit seiner dicken Hand anfing, ihre mageren Finger, die sich auf dem Laken krümmten, glatt zu streicheln. Und dabei erinnerte er sich plötzlich an all die Kindereien, mit denen diese Finger beschäftigt gewesen waren: Kränze aus Stroh, die er geflochten hatte; einen Bernsteinring, den er gekauft hatte; die kostbaren Schwüre, die er geleistet hatte; – und nun kam ihm das alles wieder ins Gedächtnis: der Ballabend, der Leutnant. Er musste beinah lächeln; und als die Erinnerungen kamen, streichelte er ihre Hand schneller und schneller. Doch da war sie tot. –

 
[1] Regensianer: Bewohner des Collegium Regium – im Dänischen als Regensen bezeichnet –, ein Wohnheim der Universität von Kopenhagen. tilbage
[2] Martin Kok (1850-1942): Diplomvolkswirt und Autor von Erzählungen und patriotischen Gedichten, insbesondere über den Deutsch-Dänischen Krieg, hatte 1881 die Gedichtsammlung Niels Kjeldsen herausgegeben. Die Erwähnung von Pontoppidan in diesem Zusammenhang ist daher nicht schmeichelhaft. tilbage
[3] Zitiert nach Georg und Edvard Brandes: Brevveksling med nordiske Forfattere og Videnskabsmænd, hrsg. von Morten Borup, Bd. 2, Kopenhagen 1940, S. 378. tilbage
[4] Brief an Otto Borchsenius vom 28.6.1882. tilbage