Hans Christian Andersen

"Die Welt huldigt dem dänischen Märchendichter"

Zur gleichen Zeit, als Hans Christian Andersen mit seinen Märchen und kurzen Geschichten Weltruhm errang, welcher uns, seinen jetzigen Landsleuten, etwas zu Kopf gestiegen ist, saß Steen Steensen Blicher in seinem einsamen Pfarrhof und schrieb seine jütländischen Meisternovellen.

Welcher dieser beiden großen Dichter als der Größte angesehen werden sollte, ist Ansichtssache. Die Bekanntheit kann auf jeden Fall nicht als Maßstab gelten.

Beide waren sie Erneuerer, und dies sowohl in sprachlicher als auch in künstlerischer Hinsicht. Das allermeiste dessen, was wir in den letzten paar Menschenaltern an Erzählkunst hervorgebracht haben, hat seinen Ursprung bei ihnen. Auch in der gegenwärtigen Prosaliteratur kann man häufig noch die eine oder die andere dieser beiden Quellen rieseln hören. Wenn wir nun in diesen Tagen mit unseren Herzen an der weltweiten Huldigung von Hans Christian Andersens Genie teilnehmen, können wir gerne gleichzeitig seines etwas älteren Dichterbruders gedenken, der zusammen mit ihm hierzulande das goldene Zeitalter der Prosakunst begründete und eine neue Gattung bis zur Vollkommenheit hervorbrachte: die Novelle, das Miniaturbild1, die mit der Klarheit eines Tautropfens das Leben sowohl feiner als auch tiefer widerspiegelt als der Großteil der Haupt- und Staatsaktionen im Theater oder in mehrbändigen Romanen.

Henrik Pontoppidan (gez.)

 
[1] Miniaturbild: Dän.: Lillebillede ("Kleinbild"), die Darstellung von etwas in ganz kleinem Format; Miniatur(bild). Jens Baggesen gebrauchte das Wort Lillebillede an zwei Stellen in seinem Werk Labyrinten (1792-93) und Johannes V. Jensen benutzte es in seinem Kurzprosatext Ved Livets Bred (1928) (ODS). tilbage