Das Adlernest

Es war im Sommer in der Zeit der hellen Nächte, in einer dunklen Fischerhütte bei den Lofoten, einige Wochen nach der Unionsauflösung. Dort saßen ein Dutzend Menschen, redeten über Politik und tranken Bier. Mit einer einzigen Ausnahme waren sie alle Norweger.

Wie überall, wo sich Norweger in dieser Zeit im Namen der Freiheit versammelten, war Ministerpräsident Michelsen im Geiste anwesend.

"Er soll unser erster Präsident sein!" sagte einer. "Das hat der tüchtige Junge verdient!"

"Das ist sicher", brummte es im Chor aus dem Halbdunkeln.

"Aber wenn nun die Schweden euer Angebot einen Bernadotte-Prinzen zu adoptieren annehmen?", fragte der Fremde.

"Das machen die nie!", klang es wie aus einem Mund, und darin lag sowohl ein Lachen als auch eine Bedrohung.

"Aber ich habe vereinzelte Äußerungen von Furcht vor der – wie ihr sie nennt – Gewerkschaft der gekrönten Häupter gehört."

"Hör zu, mein Freund! Wir Norweger sind ein Volk des Fortschritts. Das hat der Kampf der letzten hundert Jahre aus uns gemacht. Wir haben im Grunde bereits die Republik. Wir müssen nur noch den Präsidenten wählen."

"Na dann lebe die Republik!"

"Ja, darauf ein Prost!"

Solche Szenen wiederholten sich in jenen hellen, hoffnungserfüllten Sommertagen überall im Land. Von Hammerfest bis Kristiania – am wenigsten vielleicht in letzterem – war man derart eifrig dabei, nach dem Königreich auszulüften, dass man beispielsweise unzufriedene Äußerungen über die Postschiffe hören konnte, weil diese die Krone nicht aus der Flagge genommen hatten.

Nun soll Norwegen wieder einen König haben, vom Volk selbst gewählt, ein fremder Prinz, der vor einem halben Jahr in diesem Land kaum bekannt war, weder von Namen noch von Nutzen. Bestimmt wird er mit Hurrarufen, Salutschüssen und anderem loyalen Spektakel empfangen werden, wenn nicht aus einem anderen Grund, so um den Klagegesang des Herzens zu übertönen. Der Ministerpräsident Michelsen höchstpersönlich wird den jungen Herrscher des Landes auf der Piperviksbrücke empfangen, der daraufhin mit einem mächtigen Gefolge aus überzeugten Republikanern zum Schloss kutschiert werden wird.

Und es wird nichts zu lachen oder zu spotten geben, vielmehr ist es tragisch. Unwillkürlich wird man an Bjørnstjerne Bjørnsons kleine Erzählung "Das Adlernest" und deren tragischen Ausgang erinnert. Hoch oben über dem Dorf – so erzählt er – war das Nest auf eine Felskante platziert, die jeder sehen, aber niemand erreichen konnte. Die Adler segelten über dem Tal und machten die Gegend unsicher. Bald rissen sie ein Lamm, bald ein Kitz, einmal nahmen sie sogar ein Kind und trugen es fort. Schon sehr früh übten die Dorfjungen das Klettern in den Bäumen und in den steilen Bergwänden, um einmal das Nest erreichen und herunterreißen zu können; aber bisher war es noch keinem geglückt. Ein Junge namens Lejf, der der kühnste von ihnen war, sagte früh von sich, dass er die Adler fortschaffen werde, und eines Tages im Frühsommer stieg er hinauf. Die Dorfbewohner sammelten sich unter dem Felsen, um sich das Wagnis anzusehen; die Alten rieten ab, die Jungen feuerten an. Zu Beginn ging alles gut. Selbst dort, wo der Felsüberhang begann, fand er geschickt Halt. Zum Schluss hing er hoch oben unter dem Bergvorsprung, und die Spannung unter den Zuschauern erzeugte solch eine Stille, dass der eine den anderen atmen hören konnte. Da fing er an müde zu werden. Wie zur Vorwarnung rollte ein kleiner Stein hinunter. Kurz danach rutschte eine Hand ab. Er bekam wieder Halt; aber jetzt rutschte der Fuß und gleichzeitig glitt die andere Hand ab. Ein ganzer Strom von Sand, Steinen und Erde rumpelte die Felsseite hinab. Einen Augenblick später lag er aufgerissen und unkenntlich auf der Erde.

Die Erzählung endet mit den Worten des Dorfältesten:

"Es ist gut, wenn etwas so hoch hängt, dass nicht jeder es erreichen kann."

Wer zum ersten Mal ohne Vorkenntnisse diese wunderbar erzählte, kleine Geschichte liest, erwartet bestimmt, dass der Wagemut des kühnen Lejf zu einem glücklichen Sieg über das hochbauende Räuberpack führen wird. Auf Grund der Überraschung fühlt sich sein Unglück doppelt tragisch an.

Eine ähnlich schmerzhafte Enttäuschung haben viele angesichts der letzten Geschehnisse in Norwegen erlebt. Ein starker und mutiger Versuch ist missglückt, und Europas königliche Adler haben der Welt aufs Neue gezeigt, wie unzugänglich und stark befestigt sie ihre Macht aufgebaut haben. Daher kann man verstehen, dass sie ihre raubgierigen Krallen gewetzt haben, seit ein Volk mit einem Unabhängigkeitsgefühl wie das Norwegische sich in seinem Selbstbestimmungsrecht bedrohen lässt.

Aber wie das Unglück des kühnen Lejf nur eine Episode im Kampf dieses Dorfes war und nicht das Ende, so ist die norwegische Königswahl wohl auch nur ein Einschub, ein Zwischenspiel in dem großen Befreiungsdrama, und der letzte Akt kann noch den Sieg bringen.

Denn nichts hängt so hoch, dass nicht der zähe, vereinte Wille des Volkes es einmal erreichen wird.

Henrik Pontoppidan.