"Ein Volksfeind" in Berlin

Heute Abend fand erneut eine Ibsen-Vorstellung im Lessing Theater statt. Es wurde "Ein Volksfeind" aufgeführt.

Das Theater war nicht ausverkauft. Der Verkäufer sagte, als ich am Morgen kam, um eine Karte zu kaufen: "Ibsen ist ja wohl ein äußerst genialer Dichter, und es wird viel über ihn in den Zeitungen geschrieben … aber dennoch haben wir ein fast leeres Haus, wenn wir seine Stücke öfter als nur ein paar Male spielen".

Die "Ibsen-Gemeinde" scheint wohl nicht groß genug zu sein, um das Theater an drei Abenden zu füllen.

Und es war schade, dass heute Abend nicht jeder Platz besetzt war. Alles in allem war es doch eine Mustervorstellung, die geboten wurde; denn diese begeisterte zunehmend das zu Beginn ziemlich kühle und augenscheinlich mehr aus Gegnern als aus Anhängern bestehende Publikum zu einem ohrenbetäubendem Beifall, sodass der Dichter hier volle Anerkennung für Hedda Gablers eventuell leicht zweifelhaften Triumph erhielt.

"Ein Volksfeind" ist aber auch ein Schauspiel, das einen nicht einfach unberührt lassen kann. Es scheint mir allmählich eines von Ibsens allerbesten Werken zu sein. Die seiner Zeit sehr matte und tendenziöse Aufführung in Kopenhagen war der alleinige Grund für das verhältnismäßig geringe Interesse, das sie auf der Bühne erweckte. Aus diesem Grund ist es ja gerade ein Bühnenstück von allererstem Rang. Das ganze wird gekennzeichnet durch eine Dynamik und Wärme, die bei Ibsen ungewöhnlich ist. Man merkt, dass jeder Satz aus dem Herzen strömt und nicht aus dem Kopf gezimmert wurde – wie in vielen anderen seiner Werke.

Der frische Wind, der durch das Stück zieht, hauchte Leben in die Darbietung der Schauspieler. Man bemerkte nichts von der ängstlichen Unsicherheit, die neulich die Darstellung von "Hedda Gablers" vernebelten Gestalten prägte. Sie verstanden hier vollkommen die Idee des Dichters und erfassten seine Gedanken in den feinsten Nuancen.

Vor allem sollte der Darsteller des Dr. Stockmann, Herr Adolph Klein, genannt werden. Niemals zuvor habe ich solch eine vortreffliche Theaterdarbietung gesehen; und da Dr. Stockmann – wie allgemein bekannt – von Anfang bis Ende auf der Bühne steht, trug er vor allem nebst dem Dichter selbst – zum Gelingen des Stücks bei. Er spielte mit Bjørnsons Mimik und Gestik – und wenn man ihn so eifrig gestikulierend und belehrend in seinem Wohnzimmer oder bei der Volksversammlung auf der Rednertribüne vor und zurück schreiten sah, während er seinen Vortrag hielt, bald mit beiden Händen in der Tasche und den Blick auf den Boden gerichtet, als ob er mit sich selbst reden würde, bald mit einer gewaltigen Löwenstimme ausfallend über die Menge zeigend, als ob er ihnen die Wahrheit in die müden Köpfe schlagen wolle – könnte man fast glauben, es sei der echte Bjørnson, den man vor sich habe. Den ganzen Abend über verzog er keine Miene, keine Bewegung, die einen Herrn Adolph Klein unter der Maske vermuten ließ – geschweige denn einen Schauspieler Klein, dem es nicht entgangen sein konnte, dass vor ihm ein Publikum von 600-700 Menschen saß. Das ist umso verblüffender, da ein Berliner Schauspieler kaum die Gelegenheit gehabt haben kann, das Wesen und das häusliche Leben der Norwegischen Volkssprecher zu studieren – und die Figur war gerade so durch und durch norwegisch, sodass man sich wohl keine norwegischere Figur vorstellen konnte als Bjørnstjerne Bjørnson.

Es sind Leistungen wie diese, die die alte, eingeschlafene Theaterbegeisterung wieder zum Leben erwecken lassen. Es kann nämlich nicht geleugnet werden, dass man selbst während der Aufführung ausgezeichneter moderner Stücke von Zweifeln ergriffen wird und sich fragt, ob diese sich überhaupt für die Bühne eignen oder ob man sie nicht lieber als Lesedrama im eigenen Wohnzimmer genießen sollte. Und sind diese Zweifel nicht der Grund dafür, dass viele sehr häufig bevorzugen, harmlose Scherze in einer Farce oder einem dressierten Schwein in einem Varieté zu sehen? Aber die Schuld dafür tragen allein die Schauspieler, nicht die Schriftsteller. Dem modernen Drama mangelt es vielerorts an szenischen Größen, die ihm Leben auf der Bühne einhauchen können. Den Begriff Lesedrama gibt es meines Erachtens nicht. Jedes Schauspiel, das man in seinem Wohnzimmer genießen kann, muss doppelt so gut auf der Bühne werden können – vorausgesetzt man hat die richtigen Schauspieler, um es aufzuführen.

Wir müssen uns in Kopenhagen einen Schauspieler wie Klein einer ist, wünschen. Er scheint mir bedeutungsvoller als Kainz zu sein, mit dem er zusammen arbeitet. Er hat wohl nicht Kainz' feurige Nervosität – aber auch nicht seine Manier. Ganz im Gegenteil verfügt er über ein unglaubliches Verwandlungstalent. An dem einen Abend spielt er den unruhigen, kindisch aufbrausenden Dr. Stockmann, am anderen beispielsweise den ruhigen, trockenen und pfiffigen Untersuchungsrichter in Raskolnikow (Red. Schuld und Sühne) – und beides als ob er in seinen eigenen Kleidern steckte. Dass er aus Ejlert Løvborg in Hedda Gabler keine so vollendete Figur machen konnte, war nicht seine Schuld.

Allein schon um "den Volksfeind" zu sehen lohnt sich zurzeit die Reise von Kopenhagen nach Berlin. Diese Mühe zahlt sich aus.

H. P.