"Hedda Gabler" in Berlin

Das Lessing Theater – Berlins Westend-Bühne1 für moderne Kunst – führte heute2 Abend Henrik Ibsens neues Schauspiel "Hedda Gabler" auf.

Die Aufführung hatte von Anfang bis Ende den Charakter einer Galavorstellung. Festliche Programmhefte mit Ibsens Bild auf der Vorderseite, ein ausgewähltes Publikum, ein vollgestopftes Theater und schließlich Ibsen selbst mit seiner Frau unter den Zuschauern, ganz allein in einer großen Loge unmittelbar an der Bühne, wie ein königliches Ehepaar.

Nach jedem Akt stürmischer Beifall gemischt mit schwachen, beinahe ängstlichen Zischlauten. Nach drei-vier Vorhängen, wird auch recht energisch nach dem Schriftsteller verlangt. Ibsen klettert aus seiner Loge und zeigt sich auf der Bühne, zuerst gemeinsam mit den Schauspielern, dann alleine, jedes Mal von begeisterten Bravorufen empfangen.

Es hinterlässt einen wunderlichen Eindruck, zu sehen, wie der alte Einsiedler und Menschenverächter wiederholt auf diese Weise von zwei fülligen Schauspielerinnen aus den Kulissen gezogen wird, um die Ehrung der kompakten Majorität3 verbeugend entgegenzunehmen – denn man darf wohl vermuten, dass er bei dieser Gelegenheit der zischenden Minorität kein Recht zuerkannte.

Auf einen Dänen macht dieser feurige Beifall insgesamt eine fast komische Wirkung. Aber wahrscheinlich fordert das Publikum diese, – denn auch für die Dichter gilt wohl "entweder dem Brauch zu folgen oder aus dem Land zu fliehen"4.

Und aus Deutschland und vor den Deutschen zu fliehen, daran denkt Ibsen sicherlich nicht. Seine letzten Bücher – allen voran Hedda Gabler – scheinen für deutsche sowie nordische Zuschauer gleichermaßen gedacht. Mit großer Sorgfalt ist – in jedem Fall in der deutschen Ausgabe5 des Schauspiels – jeglicher Hinweis auf speziell norwegische Verhältnisse vermieden worden.

Somit ist auch die sonst so übliche Ortsbezeichnung "ein kleiner Norwegischer Küstenort" ausgelassen und durch die internationale Umschreibung "der westliche Teil der Stadt" ersetzt worden. Von welcher Stadt? Und in welchem Land? – – Ja, das hat Ibsen wohl nicht recht sagen wollen. Er wünschte wohl, dass jeder seine eigenen Fenster zu sehen meint. Aber dennoch spricht vieles dafür, dass es sich um eine deutsche Stadt handelt.

Tesmans Spezialgebiet ist "Brabants Hauswirtschaft im Mittelalter" – ein etwas weit entfernt liegendes Thema für einen beispielsweise norwegischen Privatdozenten. Auch der Name Hedda Gabler und besonders "General Gablers Tochter" klingen in deutschen Ohren besser als in norwegischen, ebenso scheint die gesamte Gestalt aus Verhältnissen entsprungen zu sein, die eher in eine Großstadt wie Berlin gehören als in eine Kleinstadt wie Kristiania.

Im Ganzen hat Ibsen den deutschen Charakter des Stücks jedoch nicht vollenden wollen oder können, – und das bewirkte während der Aufführung, umso mehr als während der Lektüre, ein leicht merkwürdiges Gefühl, als schwebe man zwischen Himmel und Erde.

Ejlert Løvborg ist ja doch eigentümlich norwegisch. Er gehört zu den missglückten Kristiania-Genies, die Ibsen bereits zuvor ein paar Mal dargestellt hat und über die so viele norwegische Romane und Schauspiele geschrieben wurden, dass man sich im Nachhinein vorstellt, Kristiania sei eine Stadt, die voller Genies sei – mehr oder minder missglückte.

Dieser Ejlert Løvborg wurde deshalb für die Berliner Gesellschaft eine vollends rätselhafte Person, der nicht einmal der Schauspieler heimischen Grund unter die Füße zu legen vermochte. Dieses "dortoben", womit nur sein und Frau Elvsteds vorheriger Aufenthaltsort bezeichnet wird, gab der Figur nicht den Hintergrund von Fjäll und Einsamkeit, vor dem sie gesehen und verstanden werden soll.

Viele dachten sicherlich an kleine norddeutsche Städte wie Lübeck oder Rostock, wenn über den Zufluchtsort gesprochen wurde, wo Løvborg seinen großen Traum von den "Kulturmächten der Zukunft" hatte.

Hätte Henrik Ibsen selbst Ejlert Løvborgs norwegische und der anderen Figuren deutsche Herkunft bezeichnet, hätte man vernommen, dass er diese düsteren, fremden Schwärmer mit voller Absicht in das fröhlich deutsche Spießbürgertum gestellt hat, welches Tesman repräsentiert und was zuletzt Hedda Gabler umbringt, dann würde das Stück sicherlich an Verständlichkeit gewinnen.

Ibsen selbst ist ja so ein Schwärmer, der zur Zeit – wie auch Tolstoi – die durch den Nachhall romantischer Literatur eingelullten Deutschen mit wilden Träumen von den "Kulturmächten der Zukunft" erschreckt. –

Über die Aufführung gibt es nicht viel zu sagen. Sie stach nicht besonders hervor. Die Darstellerin der Hedda Gabler – Anna Haverland – war ein wenig zu groß und schwer und trug einige Male schlecht vor. In den letzten Sätzen im ersten Akt bekam sie zum Beispiel "General Gablers Pistolen" vollkommen in den falschen Hals. Ein paar ihrer Worte, und genau diese, die bereits "beflügelt" worden waren, nämlich ihre Aufforderung an Løvborg "in Schönheit zu sterben" war komischerweise gestrichen. Ganz gewiss hört man nicht gut im Lessing-Theater; jede zweite Minute bringt die Stadtbahn, die unmittelbar daran vorbeifährt, ein dumpfes Poltern im Theater hervor. An den genannten Stellen sprachen auch die Schauspieler in der Natur der Sache sehr sachte, halb flüsternd, – aber ich liege wohl kaum darin falsch, dass der Abschied geändert worden war. –

An drei aufeinander folgenden Abenden ehrt das Lessing-Theater Ibsen, in dem es einige seiner Schauspiele aufführt. Der Ansturm auf die Premiere gestern war so außerordentlich, dass man sich mehrere Tage im Voraus Karten zu überteuerten Preisen sichern musste; und ein anderes, kleineres Theater führte sogar – gegen Ibsens Wunsch – das Stück am Abend zuvor auf. Das deutet daraufhin, dass die "Ibsen-Gemeinde", über die hier oft gespottet wird, stetig wächst. –

H. P.

 
[1] Westend-Bühne: angelehnt an den Londoner Stadtteil "Westend", der bekannt ist für seine hohe Dichte an Theatern. tilbage
[2] heute Abend: 10.2.1891. tilbage
[3] kompakten Majorität: Ibsen Zitat aus Der Volksfeind. tilbage
[4] "entweder…": entspricht der deutschen Redensart "man soll sich den örtlichen Gepflogenheiten anpassen" tilbage
[5] deutsche Ausgabe: das gilt auch für die norwegische. tilbage