Aus Berlin

Berlin 91.

Man braucht nicht lange, um zu erkennen, dass Berlin eine Weltstadt jüngeren Datums ist. Die meisten seiner großen Prachtbauten haben ein vor Neuheit fast noch feuchtes Aussehen. Man findet unter ihnen keine alten Denkmäler vergangener Größe, und – was noch schlimmer ist – der moderne deutsche Geschmack, der den Großteil der öffentlichen und privaten Bauvorhaben prägt, zeugt nicht immer von einem künstlerisch so ausgeprägten Sinn, wie der, der die berühmten deutschen Baumeister des Mittelalters auszeichnete.

Und das ist schade – denn die Berliner geizen offenbar nicht mit dem Geld, wenn es um das Bauen geht, und am allerwenigsten, wenn von öffentlichen Gebäuden die Rede ist. Sie scheinen sich sogar zu bemühen, alles in möglichst kostbarem Material und mit besonders schimmerndem Glanz auszuführen. Zweifelsohne bringen sie damit oft auch den fremden Betrachter angesichts der Beträge, die dort wohl verwendet wurden, zum Stutzen. Aber gleichzeitig kann man manchmal nur etwas mitleidig mit den Achseln zu zucken – so, wie man es gegenüber einer Dame macht, die sich mit zu vielen Goldschmiedearbeiten um den Hals und das Handgelenk ausstaffiert hat. Man ist verblüfft, aber nicht beeindruckt, ja zuweilen fühlt man sich fast verlegen. "Das schöne, verschwendete Geld!", bricht es unwillkürlich aus einem heraus. Etwas weniger Glanz hätte es auch getan – wäre er bloß mit etwas mehr Feinheit und Takt angebracht worden.

Vor allem in ein bestimmtes kostbares Baumaterial scheinen sich die Architekten hier in Berlin verliebt zu haben. Es handelt sich um das rote, polierte Granit. Dieses wird in großem Maßstab verwendet, zum Beispiel am breiten Sockel der umstrittenen Siegessäule, für die neue Kaiser-Wilhelm-Brücke und an vielen anderen Stellen. Nun kann man nicht leugnen, dass polierte Granitsäulen und Balustraden, in Maßen eingesetzt, von vortrefflicher Wirkung sein können. Aber durch ihre Masse wirken sie hier an vielen Stellen so brutal, dass es einem Verdruss bereitet. Besonders die bereits erwähnte, frisch eingeweihte Kaiser-Wilhelm-Brücke ist ein Monstrum dumm und plump prahlender Architektur. Selbst in der neuen Offiziers-Akademie an der Ecke Louisenstraße und Dorotheenstraße, wo das polierte Granit in einem sechs Ellen hohen Fundament verwendet wurde, kleidet diese große, spiegelglatte Fläche das ansonsten recht schöne Gebäude nicht – genau wie die obligatorischen langschnäbligen und viel zu blanken Stiefel viele ansonsten recht stolze und kräftige Erscheinungen unter den preußischen Offizieren nicht kleiden.

Selbstverständlich zeigt man besonders bei allem, was das Kriegswesen angeht, eine außerordentliche Großzügigkeit. Zur künstlerischen Ausschmückung der sogenannten "Ruhmeshalle" – wieder Massen von poliertem Granit – wurde so viel Kapital eingesetzt, dass dem Bürger einer kleinen Nation, in der man 5 Jahre lang auf Verteidigungsbällen von Skagen bis Gjedser tanzen muss, um für eine Kanone zu sammeln, die Haare zu Berge stehen können. Aber auch für Kunstsammlungen, Bibliotheken usw. wurden neue und große Prachtbauten errichtet.

Dagegen blutet einem das Herz beim Anblick des jämmerlichen Zustandes, in dem sich die meisten Kirchen Berlins befinden – und wenn man in Betracht zieht, wie oft und warm man offiziell dem Herrgott für die Kriegserfolge von 1864-70 gedankt hat, macht diese stiefmütterliche Behandlung der Gotteshäuser einen etwas eigentümlichen Eindruck. Während die Göttin auf der Spitze der Siegessäule sich golden leuchtend über der Stadt erhebt, gleicht selbst der Berliner Dom mit seinem finsteren Dach und seinen gekalkten Mauern am ehesten einem vernachlässigten Kornspeicher. Die Anzahl der Kirchen ist in Berlin außerdem im Verhältnis zur Einwohnerzahl verschwindend gering. Sie sind allesamt unansehnlich, einzelne sogar so winzig klein und schäbig, dass ich sie eine lange Zeit für Spritzenhäuser hielt.

Aber Berlin ist ja bekanntlich auch eine ausgesprochen wenig religiöse Stadt. Unter den Bürgern gehört es hier offenbar nicht zum guten Ton in die Kirche zu gehen – und in anderen deutschen Städten verhält es sich damit kaum anders.

Überhaupt ist es, als ob alle edleren Gefühle der Deutschen nach und nach in der einen, großen, alles verzehrenden Nationalbegeisterung aufgingen, in der Vergötterung der Nation und ihrer großen Männer – eine Begeisterung, deren Ausmaß man sich nicht vorstellen kann. Der alte Kaiser Wilhelm war der Herrgott der Deutschen und zu seiner Rechten und Linken saßen Bismarck und Moltke. Diese drei Männer machten die Dreifaltigkeit aus, um die sich das Volk anbetend versammelte. Ihnen galt 20 Jahre lang dessen Lobgesang; in sie setzte das Volk all seine Hoffnung. Dicht gedrängt scharte man sich "Hurra"-rufend um ihre Paläste und strömte mit Andacht zu ihren Truppenschauen – und die Kirchen wurden immer leerer. Der "deutsche Geist" – das war der wiederauferstandene Heiland, der wahre Erlöser der Welt; und diejenigen, die das nicht anerkennen und nicht in das Halleluja einstimmen wollten – die waren Abtrünnige, "Reichsfeinde", für die die Hölle des Ausnahmegesetzes nicht heiß genug war.

Aber die teuflischen Sozialdemokraten und Liberalen waren nicht die einzigen, die von dieser stürmenden Nationalbegeisterung hart getroffen wurden. Diese verschlang – und verschlingt Tag für Tag – auch Opfer anderer Art. Und für diese letzteren kann man oft mehr Mitgefühl empfinden, als für erstere.

Gerade dieser Tage traf es erneut einen solchen Mann – Professor Koch.

Niemand, der nicht vor ein paar Monaten täglich ein paar deutsche Zeitungen las, kann sich eine Vorstellung von dem alle gesunden Sinne vernichtenden Triumphschrei machen, der zu dieser Zeit aus Anlass der Entdeckung von Tuberkulin über ganz Deutschland tönte. Viele Zeitungen beinhalteten wochenlang so gut wie nichts anderes als ausgelassene Jubelartikel über das epochemachende Ereignis. Es war das achte Weltwunder, das hier vollbracht worden war – von deutscher Hand. Der Name des Professors wurde unter den allergrößten Wohltätern der Menschheit aufgeführt. Es konnte nun bloß eine Frage der Zeit sein, bis auch andere der schlimmsten Menschheitsplagen – Krebs, Diphterie usw. – Geschichte wären. Aus der halben Welt strömten Ärzte nach Berlin – und als sich nur die Franzosen etwas kühl mit ihrer Anerkennung zurückhielten, machte dies den Siegesrausch komplett. Berlin ernannte den Professor zum Ehrenbürger, die Studenten wollten für ihn einen Fackelzug veranstalten, in allen Schaufenstern wurden Bilder und Büsten des Professors mit Lorbeeren gekrönt ausgestellt… es war ein dreiwöchiger Trommelwirbel der Begeisterung, der der Welt verkünden sollte, dass die Wunder des deutschen Geistes nun auch die Wissenschaft erreicht hätten, dass der große Pasteur überwunden, dass ein neuer Siegeszug aus Berlin im Anmarsch war.

Professor Koch selbst war wohl kaum über diesen Jubel erfreut; und er war sicherlich auch nicht dazu im Stande, ihn aufzuhalten. Es war eine nationale Pflicht, an das Wunder zu glauben. Wie konnte er also selbst daran zweifeln?

… Dann schien es, als ob der Tod, den man behauptete überwunden zu haben, plötzlich sein grinsendes Haupt hervorstreckte und Stille um sich herum verbreitete. Die Zeitungen wurden mit einem Mal ungewöhnlich ruhig, die Studenten stellten ihren Fackelzug ein, und leise, damit das Ausland es nicht hören konnte, begannen einzelne sogar darüber zu reden, dass der Ehrenbürgerbrief vielleicht doch etwas verfrüht ausgestellt worden war.

Es schleicht sich bereits ein gewisses Unbehagen bei den Deutschen ein, wenn man den Namen "Koch" nennt. Der bescheidene Gelehrte ist nun, da der wilde Jubelsturm sich hin zu Kälte und Hohn zu wenden scheint, wirklich zu bemitleiden.1

H. P.

 
[1] Der deutsche Bakteriologe und Arzt Robert Koch (1843-1910) teilte auf dem Zehnten Internationalen Medizinischen Kongress in Berlin 1890 mit, es sei ihm gelungen, einen Stoff (Tuberkulin) zu gewinnen, der Tuberkulose bei Versuchstieren heilen konnte. Das erwies sich nach einiger Zeit als Fehlannahme. tilbage