"Der Durst nach Freude"

Tagebuch

14. November

Es wurde darüber geklagt – und wird es noch immer – dass die neue Literatur so pessimistisch sei. Zuletzt war es der schwedische Autor Verner von Heidenstam, der in einer kleinen Broschüre namens "Renaissance"1 den Ruf wiederholte, dass "die Zeit nach Freude dürstet".

Aber ob die Zeit nach Freude dürstet oder nicht – was kümmert es eigentlich die Autoren? Verspürt ein Dichter den Drang, sich mit dem Kummer und den Enttäuschungen des Menschenlebens zu befassen, mit der Ungerechtigkeit der Gesellschaft und dem Elend der Armut – so tut er das, ohne Per Tot oder Povl Fjot um Erlaubnis zu bitten.

Natürlich – wünscht er sich Modeautor zu werden, sollte er zuerst diesen beiden werten Herren seine Aufwartung machen und sich erkundigen, wonach es sie im Augenblick "dürstet". Aber die guten Autoren fragen den Zeitgeist nicht danach, was er wünscht. Sie folgen allein der Stimme ihres eigenen Herzens – und die harmoniert in der Regel gerade nicht mit der des Zeitgeistes.

Diese Klagen über die "schwarze" Kunst der Gegenwart scheinen mir auch aus einem anderen Grund unberechtigt. Ich kann nämlich nicht erkennen, dass unsere heimische moderne Literatur so übertrieben pessimistisch ist oder war. Man sagt, ihre Bücher endeten alle "so traurig". Aber darauf kommt es doch nicht immer an. Mit ebensolchem Recht könnte man auch Oehlenschläger vorwerfen, seine Tragödien nicht zu Lustspielen gemacht zu haben. Oehlenschläger hat ein ganzes Regal voller Bücher geschrieben, die mit Qual gespickt waren und mit lauter Kummer endeten. Aber so weit ich weiß, nahm ihm das niemand übel.

Dass unsere Zeit nach Freude dürstet, kann unmöglich verwundern. Es ist ein Durst, der dem eines abgehärteten Trunkenboldes am Morgen nach einem Rausch entspricht. Er erträgt es nicht, nüchtern zu sein. Das widerspricht mittlerweile seiner Natur. Seine Hände zittern, seine Augen sind matt – und hier liegt die ganze unerledigte Arbeit von gestern, da all die für den kommenden Tag. Woher soll er die Kraft dafür nehmen? – Und um sich herum sieht er all den Schmutz und den Dreck, den er in seiner Trunkenheit verursacht hat. Er ekelt sich davor: Er will es nicht sehen. Weg damit! Er muss sich betäuben, vergessen. Ein Schnaps! Ein Schnaps!

Vielleicht ist es wahr, dass unsere Zeit keine Ruhe findet, bevor sie sich wieder in neue Orgien stürzt. Aber vielleicht wäre es besser, wenn sie ihre Natur bezwingen und die Arbeit, die auf sie wartet, erfüllen würde.

Lasst sie ruhig dürsten! Der Durst – sagt ein altes Sprichwort – treibt den Rausch aus. Deswegen gibt es keinen Grund, ihr einen Heiltrank zu reichen. Im Gegenteil. Gebt ihr mehr Salz!

Urbanus

 
[1] Renaissance trägt den Untertitel "ein paar Worte zum nahenden neuen Umbruch in der Literatur". tilbage