Stolzer Henrik schreitet über die Bühne

Tagebuch

16. Oktober

Derzeit wird von allen Seiten über den dahinsiechenden Zustand der Literatur geklagt. Gewisse Kritiker haben es sich geradezu zur Berufung gemacht, beim Blick auf den abgemagerten Patienten in Ohnmacht zu fallen, und haben auf die blühende und vollblütige Dichtkunst unserer Nachbarländer als Quelle der Verjüngung verwiesen, während andere bald zu einem asketischen Kühlungspulver, bald zu einem romantischen Brei-Umschlag geraten haben, die all die durch den Naturalismus eingeimpfte Krankheit und Fäulnis aus dem Körper saugen könnten.

Beständig lauter war in den letzten Jahren der Ruf nach Erneuerung, Umsturz und Revolution zu vernehmen, womit – erstaunlicherweise – die Rückwendung zu alten Kunstformen gemeint ist; und einzelne unserer jungen, aufmerksamen und vorwärtsstrebenden Skalden, die vermutlich selbst eingesehen haben, dass sie in dem prunklosen Alltagsgewand des Realismus nicht gerade imponierend aussahen, haben sich doch auch beeilt, diesen gegen die romantische Gala einzutauschen, ihre Glieder in Purpur gehüllt, eine Schwanenfeder an ihren Hut und klingende Goldsporen an ihre Lederstiefel gesteckt, schwangen sie sich hinauf auf einen apfelgrauen Hengst und bliesen in die Lure als Herolde der neuen Zeit – – und all die literarischen Ankleidefrauen haben vor Bewunderung in die Hände geklatscht und sind im Chor ausgebrochen:

"Ach, wie ist der Herr doch schön! Wüsste man es nicht besser, würde man glauben, er sei ein echter Oehlenschlaeger! Solch eine Haltung! Nun bloß die Hand an die Seite, dann ist der Herr unwiderstehlich" – – und mit dem Holzsäbel am Schenkel und einer Kindertrompete am Mund schreitet der stolze Henrik über die Bühne und drängt unter dem Jubel der Galerie den realistischen Müllmann1 hinein in die Kulisse.

Es kann nicht bestritten werden, dass unsere literarischen Verhältnisse derzeit etwas an eine kindliche Maskerade erinnern, in der die Agierenden weniger an das Wohl der Kunst denken, als daran, dass sie selbst glänzen wollen; in der man mit allem möglichen Hokuspokus – plötzlichen Umschwüngen, der Aufkündigung alter Freund- und Genossenschaften, Geschrei und Gebrüll, verstellter Aufregung oder erlogener Lebensfreude – versucht, die Aufmerksamkeit eines verehrten Publikums auf sich zu ziehen, ja, in der man nicht einmal davor zurückschreckt, sich als auffälligen Clown zu verkleiden, um die Blicke auf sich zu lenken.

In Verbindung damit steht die gehetzte Produktivität, der Mangel an literarischem Gewissen, die – mehr als der Mangel an Talenten – dazu beigetragen haben, der Literatur die Luft zum Atmen zu nehmen. Man hat das Gefühl, dass unsere Autoren ihre Bücher nicht länger aus einem inneren Drang heraus schreiben, sondern sie aus einem äußeren "machen". Und sie haben so zu sagen alle Durchfall2; sie werfen uns ihre unverdauten Produkte massenweise nach – aus jähzornigem Begehren danach, immer dabei zu sein und der Furcht, vergessen zu werden. Für den Moment eines Augenblicks und um die Tagesmode oder ihre eigene Bequemlichkeit zufriedenzustellen, opfern sie leichtsinnig ihr literarisches Renommee – anstatt die Kunst so zu pflegen, wie der Bauer seine Felder bestellt: geduldig, selbstlos und in Gedanken an die kommenden Generationen.

Urbanus

 
[1] Von dän. "skarnager": Müllwerker/Müllmann, hier jedoch als allgemein herabwürdigendes Schimpfwort mit dem Anklang, dass der "Realismus" "schmutzig" macht. tilbage
[2] Von dän. "durkløb": Diarrhö/Durchfall. tilbage