Tagebuch

[Der Kampf um das Glück]

In einem Artikel von Leo Tolstoj ("Hvori bestaar Lykke", dt.: "Worin besteht das Glück"), den ich heute gelesen habe, wird in Übereinstimmung mit dem, was der Schriftsteller in all seinen späteren Arbeiten nun fast bis zur Trivialität verfochten hat, dargelegt, wie die moderne Zivilisation, die großen Städte, Wohlstand und Müßiggang Schuld an allem Unglück der Zeit trügen, während die wahre und dauerhafte Lebensfreude allein im Leben auf dem Land zu finden sei, bei den Feldarbeitern und besonders unter denen, die – wie man sagt – "von einem Tag auf den anderen" und "von der Hand in den Mund" leben.

Diese Theorie ist nun bei weitem nicht mehr neu, und genauso wenig ist Tolstoj in der heutigen Zeit der einzige Seelenarzt, der der leidenden Menschheit in weitschweifenden Rezepten das alte Universalheilmittel "Natur" verschreibt. Es sind also nicht die Gedanken an sich, sondern die unterschiedlichen Formen, in denen sie Ausdruck finden, die uns manchmal mit ihrer Originalität umwerfen und mit ihrer Kraft oder Schönheit blenden.

Im obengenannten Artikel schreibt er unter anderem:

Man braucht sich bloß an all die reichen Leute, die man kennt, erinnern und sehen können, dass sie zum Großteil krank sind. Ein wirklich gesunder Mensch, der sich nicht stetig oder regelmäßig jeden Sommer einer Kur unterzieht, ist eine ebenso seltene Ausnahme wie ein Kranker in der arbeitenden Bevölkerung. All (diese) vom Glück Auserkorenen1 sind (die) Zahnlosen und werden in einem Alter grauhaarig oder glatzköpfig, in dem ein junger Arbeiter erst beginnt, seine Kräfte zu sammeln. Nahezu alle leiden sie an Nerven-, Magen- oder Geschlechtskrankheiten als eine Folge von Völlerei, Trunkenheit, Unsittlichkeit und Medikamenten, und jene, die nicht in jungem Alter sterben, verbringen die Hälfte ihres Lebens damit, sich heilen2 zu lassen oder als verkrüppelte, elende Kreaturen vor sich hin zu leben.

Doch ist all das nun auch wirklich wahr?

Ich sehe mich in meiner behaglichen Stube um. Draußen strömt der Regen, der Sturm trommelt gegen das Fenster und ich denke darüber nach, ob es in diesem Augenblick wirklich gesünder und angenehmer sein sollte, sich draußen im Nebel auf schlammigem Brachland zu bewegen, völlig durchnässt, halb von Regen, halb von Schweiß, um gegen Abend in eine muffige Lehmhütte zu kriechen, zu unverdaulicher und oft verdorbener Nahrung und einem Bett voll von Ungeziefer – als hier in einem hohen, gut belüfteten Raum zu sitzen, vor Wind und Kälte geschützt, eine Stunde lang zu lesen, ein paar Sonaten zu spielen, um sich dann nach einem erfrischenden Bad, einer halben Stunde Fechtübungen oder einem Ausritt am Sund entlang, zu einer leichten, aber stärkenden Mahlzeit niederzusetzen.

Natürlich ist es zur Sommerzeit gesünder auf einer Kleewiese oder Nordseedüne zu dösen, als die schwüle, faulige Stadtluft einzuatmen. Aber macht die wohlhabende Bevölkerung nicht gerade das?

Man muss nicht weit im Land herumgekommen sein, um zu wissen, dass Tolstojs Behauptungen auf keinen Fall zu den Verhältnissen hier in Dänemark passen. Die dänischen Bauern sind wahrlich nicht so kerngesund wie es viele gerne hätten, und die dänische Aristokratie ist weit von einem solch verkrüppelten und hinfälligen Stand entfernt, wie so oft behauptet wird.

Im Gegenteil. Gehen Sie bloß einmal am Tag eines Pferderennens auf dem Sattelplatz beim Jagdschloss Eremitage umher, wo Sie wohl am ehesten all jene versammelt sehen werden, die Tolstoj ironisch "die vom Glück Auserkorenen" nennt – es ist wahrlich kein Krankenhausvorhof, den Sie dort zu sehen bekommen. Auch wenn es vielleicht nicht immer so gut um die Intelligenz steht, leiden die Körper selten an ernsthaften Gebrechen. Die Herren der Aristokratie und insbesondere ihre Frauen sind für gewöhnlich von der Schöpfung vollendet, anmutig und sie strotzen vor Gesundheit und Kraft. Selbst im hohen Alter bewahren sie oft ihre Schönheit, die blühende Gesichtsfarbe, die aufrechte Haltung und den sicheren Gang, wohingegen ein bedauernswerter Feldarbeiter schon mit fünfzig Jahren steife Glieder, einen krummen Rücken und ein zerfurchtes Gesicht wie das eines Greisen hat. Wann hat man zuletzt ein zwanzigjähriges Bauernmädchen mit mehr als zehn Zähnen im Mund gesehen? Dagegen wird man leicht Kurtisanen finden, die alle ihre paarunddreißig in bestem Zustand haben.

Gewiss ist es Aberglauben, dass "zu leben" immer mit so großer Gefahr verbunden sein sollte. Vielmehr scheint dagegen die Arbeit, neben ihrem Segen, auch die darauffolgende Strafe in sich zu tragen.

Doch selbst jener Segen der Arbeit, der Entsagung und der Armut, und das Glück, das Tolstoj jedermann voraussagt, der sich bloß in Kittel und Holzschuh kleiden, Ochsen über ein Feld ziehen oder sein eigenes Holz hacken möchte – wie verhält es sich eigentlich damit? Dass eine solche Beschäftigung für den Dichter und Grafen Leo Tolstoj zur Abwechslung recht belebend sein kann, ist sogar verständlich (und dass er das seinem hohen Alter zum Trotz noch vermag, widerlegt am besten seine eigene Behauptung bezüglich dieser Altersschwäche, an der fröhliche Wüstlinge rasch zu Grunde gehen). Doch die Sache ist eine andere für einen armen Bauern ohne Erinnerungen an ein buntes Jugendleben, vom dem er zehren kann, der ein Leben lang tagein, tagaus dieselben Schritte auf denselben Äckern auf und abgegangen ist; dessen Augen und Ohren nicht auf das Spiel der Sonne im Nebel über der Wiese oder den schönen Silberklang in der Stimme der Lerche gerichtet sind, für den Sturm, Regen und Sonne kein interessantes Schauspiel aufführen, aber für den all das zusammen böse oder gute Mächte sind, die ihn und die seinen entweder ernähren oder in Not und Elend stoßen.

Aber selbst wenn unsere Sinne wacher sind, warum sollen wir denn unbedingt hinaus aufs Feld und in den Wald fahren, um die Natur zu genießen und uns von ihrer Zauberei beeinflussen zu lassen? Warum spricht Tolstoj so verächtlich über jene, die "bloß zwei Mal in ihrem Leben die Sonne haben aufgehen sehen und sich ferner nur mit von Menschenhand bearbeiteten Materialien, Steinen und Bäumen umgeben und überall nur den Klang von Maschinen, Equipagen, Kanonen und Musikinstrumenten hören". Kann ein Marktplatz voller Menschen, Farben und Leben, kein ebenso erhabener Anblick wie ein Sonnenuntergang sein? Und, ehrlich gesagt, höre ich auf Dauer lieber Rubinstein Klavier spielen als eine alte, heisere Krähe krächzen.

Doch es ist auch gewiss nicht immer so viel dran, wenn die Dichter die Natur derartig lobpreisen. Eines Winters, als ich selbst auf dem Land lebte, bekam ich Besuch von einem jungen Naturdichter3, der seine Schilderungen regelmäßig mit begeisterten Ausrufen wie: "O, ich bin wieder auf dem Land, des Himmels freie Kuppel wölbt sich wieder über meinem Haupt" oder "Der Hahn erweckt mich mit seinem Ruf, ich muss auf, ich muss hinaus –" begann.

Das Wetter an jenen Tagen war ganz hinreißend, mit blauem Himmel und der Sonne auf frischgefallenem Schnee, jedoch erwies sich der junge Naturdichter als höchst abgeneigt, die warmen Zimmer zu verlassen und nur mit größter Mühe bekam man ihn gegen Mittag hinaus aus den Federn. Die meiste Zeit verbrachte er damit, sich an den Kachelofen zu drängen und während sich alle anderen draußen fröhlich auf Schlittschuhen oder Schlitten herumtrieben, stöberte er in Bücherregalen und alten Zeitungsstapeln, als ob er eigentlich zwischen die Maden gehörte, die dort ihr lichtscheues Dasein führen.

Deswegen wunderte es mich, als ich einige Tage nach seiner Abreise einen Brief erhielt, in dem Folgendes stand:

"Das waren herrliche Tage… die freie, liebliche Natur… Ich ersticke hier an Rauch und Staub… es ist, als versperrten diese Mauerkolosse mir meine Sehnsüchte, als wollten sie zusammenbrechen und mich erdrücken… Grüß den Wald, die weiten Felder, die schönen Hügel…"

Ich habe seither jedes Mal meine Zweifel, wenn ich über die Naturverehrung eines Dichters lese. Und nachdem ich ein Bild vom Grafen Tolstoj gesehen habe, auf dem er sich in einer Bauerntracht hinter einem Ochsengespann darstellen lässt, scheint er mir der Natur ferner zu stehen, als zuvor, da ich ihn mir als einen kecken Offizier oder im Anzug mit weißen Handschuhen vorstellte.

Es ist die alte Geschichte des Königs Nebukadnezar4, der nur der Abwechslung halber von seinem Goldthron herabstieg, um mit den Stummen Gras zu fressen.

Urbanus.

 
[1] Folgendes wurde im Zitat ausgelassen: beginnen ohne Ausnahme sehr früh sich mit Onani zu beschäftigen, was in ihren Kreisen eine natürliche Bedingung für Entwicklung ausmacht; alle tilbage
[2] Folgendes wurde im Zitat ausgelassen: und setzt sich Morphininjektionen. tilbage
[3] Junger Naturdichter: Knut Ahnlund schreibt in seiner Abhandlung:

Es könnte gut sein, dass dieser Dichter Ola Hansson war. Jener, der während seines ersten Aufenthaltes in Herman Bangs Wohnung in Kopenhagen, im Winter 1883-84 Henrik Pontoppidan (HP) in Jørlunde besuchte. Laut einem Brief an Johanne Hans-Larsson vom 21. März 1884, hatte er von Pontoppidan den Rat bekommen, hinaus auf die Felder zu gehen anstatt "zwischen den Pflanzen in Herman Bangs Wohnung zu sitzen". Hansson beschrieb HP in diesem Brief als den glücklichsten und freisten Menschen und meinte, es könne der Seele guttun, einen so gesunden Menschen zu sehen. Henrik Pontoppidans Frau und sein Familienleben hatten großen Eindruck auf Hansson gemacht, der sagte, er habe wichtige Anregungen aus dem Treffen mit HP erhalten. Der Brief war mir nicht zugänglich, aber sein Inhalt wurde mir von fil. lic. Ingvar Holm aus Lund mitgeteilt. Über Ola Hansson, Herman Bang und Pontoppidan, siehe Erik Ekelund, Ola Hanssons Ungdomsdiktning, S. 27f, 29, 105 ff., sowie Ola Hansson, Ur Minnet och Dagboken, S. 58 ff. und 67 f. Über Bangs Sicht auf den jungen HP, siehe eine Rezension in der Nat. Tid. 29.12.83 von HPs Landsbybilleder. In seiner Rezension "Dänische Nachtwache" von HPs Nachtwache (Die Nation 14.7.1894) schilderte Hansson seinen Besuch in Jørlunde: "Ich kam zu einem kleinen Dorf in einer hügeligen, baumleeren Landschaft von dunkler Farbe; da lagen die Bauernhochschule, die sein Bruder leitete, und das Haus, wo er selbst wohnte. Pastorensohn aus einer der ältesten und berühmtesten Pastorenfamilien Dänemarks, hatte er sich als echter Sohn dieser ersten Tage des neuen Volksthums ein Bauermädchen aus des Bruders Hochschule zur Frau genommen. Er stand noch fest mitten in einer erlebten Ueberzeugung, die für ein ganzes Menschenleben dauern sollte; er hatte seine Kinder, und er hatte seine Bücher, und damit hatte er genug; und er rieth mir, die parfümirten Salons Hermann Bang's zu verlassen, um, wie er, nach meiner eigenen ländlichen Heimath in Schonen zu gehen und Hasen und Enten zu schiessen." (Knut Ahnlund: Henrik Pontoppidan, 1956, S. 429.)

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[4] Die Geschichte des Königs Nebukadnezar wird im Buch Daniel erzählt. Er ist Heide und leistet Götzendienst. Daniel rät ihm, nicht länger zu sündigen, was er in einer zwölfmonatigen Buße beweisen soll. Sein Stolz ändert sich nicht, eine Stimme aus dem Himmel nimmt ihm das Königtum. Nebukadnezar wird wahnsinnig, ausgestoßen und frisst sieben Jahre lang mit den Rindern Gras. (Anmerkung der Übersetzerin). tilbage