"Nur einmal in diesem Leben"

Tagebuch

3. August

Ein schwedisches Buch mit dem Titel "Die sexuelle Hygiene und ihre ethischen Konsequenzen", drei Vorträge von Dr. Seved Ribbing, Professor in Lund, erschien nun in dänischer Übersetzung.

Man wird sich kaum in der Annahme irren, dass diese Vorlesungen – oder zumindest deren Veröffentlichung – durch Bjørnstjerne Bjørnsons letzte aufsehenerregende Vortragsreise1 veranlasst wurden, auf welcher er mit offenbar fester Überzeugung die Flagge der Reinheit in der ebenfalls von der Gegenseite angestoßenen Sittlichkeitsdebatte hisste.

Sein Anliegen (das im Übrigen alles andere als neu war) lief bekannterweise darauf hinaus, dass beide Parteien gleichermaßen unberührt in die Ehe eintreten sollten, um Glück und Treue zu wahren, und er prophezeite eine Wiedergeburt der Erde an dem Tag, da die Forderung der Frau nach männlicher Reinheit erfüllt würde.

Doch unter dieser "Reinheit" verstand er nicht etwa die Unberührtheit der Seele. Er sprach bloß über den Leib und behandelte im Großen und Ganzen die Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau, als bestünde sie hauptsächlich aus einer gegenseitigen Untersuchung der Genitalien.

Natürlich riefen solche Worte eines Dichters Verwunderung und vielerseits Empörung hervor.

Stellen wir uns einen jungen Mann vor, der seine Jugend so verbrachte, wie es die meisten jungen Männer zur Zeit tun, und der sich im Alter von etwa dreißig in ein hübsches Mädchen verliebt. Er hat früher schon mit mehreren Frauen zusammengelebt, doch dies ist die erste richtige Liebe, die ihn durchdringt und der er sich mit der innigen Leidenschaft eines bislang unbekümmerten Herzens hingibt. Die Tugend der jungen Frau kann nicht einmal die schändlichste Verleumdung beflecken. Einst hatte sie hingegen heimlich einen Mann geliebt, der ihre Liebe weder ahnte noch erwiderte und schließlich eine andere ehelichte. Zwei Jahre lang konnte sie ihn daraufhin nicht vergessen, so sehr hatte er ihr Herz beherrscht, und deshalb waren alle ihre Gedanken und Träume an die Hoffnung geknüpft, ihn zu besitzen.

Nun hält der junge Mann um ihre Hand an, und da ihr Herz jetzt wieder frei ist und sie ihn wirklich liebt, gibt es beste Aussichten für eine Vereinigung der beiden, bis sich die Familie der jungen Frau angesichts seiner leichtsinnigen Vergangenheit verpflichtet fühlt, einzuschreiten und eine Trennung in die Wege zu leiten.

Und doch wagt man es kühn zu behaupten, dass von diesen beiden er der Reinere sei, der Unberührte, und darum – nach der Theorie Bjørnsons – auch der, der die besten Voraussetzungen für ein Zusammenleben in dauerhaftem Glück mitbringt. Seine Liebe ist frisch wie eine junge Knospe im Frühjahr, sein Herz gleicht weichem Wachs, das sie noch formen kann, während all ihre Sehnsüchte schon längst von einem fremden Mann geweckt, und ihre Gefühle in dem Feuer einer anderen Liebe verhärtet wurden.

Denn in Wirklichkeit liebt man nur einmal in diesem Leben.2 Später (oder früher) kann das eigene Verlangen gewiss auf verschiedene Weisen geweckt werden; aber nur einmal trifft uns die Liebe wie der Blitz, der Augen und Ohren öffnet, sodass es so wirkt, als höre und sehe man zum ersten Mal. Dann werden alle Saiten des Herzens für den Rest des Lebens gestimmt, und wer sie künftig berührt, vernimmt nur die Töne, die der andere erzeugt hat. Wir wissen das selbst nicht, weil wir häufig für vergessen und tot halten, was noch heute üppig in unserer Seele gedeiht.

Diese Katastrophe trifft die unterschiedlichsten Menschen zu höchst unterschiedlichen Zeiten; man sagt sogar bis ins hohe Alter. Am gewöhnlichsten ist sie jedoch in den jungen Jahren, wenn das Blut kocht und das Gemüt am empfänglichsten ist. Insbesondere gilt das für junge Mädchen, die aufgrund mangelnder Beschäftigung allerlei Gelegenheit haben, auf das kleinste Vibrieren der Nerven zu achten.

Daher hat es mit dem Gegensatz zwischen der Reinheit der Frauen und den schmutzigen Lastern der Männer überhaupt nicht so viel auf sich. Die meisten jungen Mädchen knien auf dem Brautschemel mit tiefen Wunden der Männer, die sie einst in ihren Herzen trugen, und die – ihnen selbst nicht bewusst – ihr Geisterleben bis in die Ehe fortführen.

Wie dem auch sei, die bjørnsonsche Reinheit spielt jedenfalls in echten Liebesbeziehungen keine Rolle. "Rein" ist jeder, der liebt. Liebe ist das reinigende Bad, das mühelos den nur oberflächlichen Schmutz abwäscht, der für junge Männer so leicht mit dem Leben einhergeht. – –

Das Buch von Professor Ribbing stimmt genau mit Bjørnsons Ansichten überein, doch der Autor ist Arzt und behandelt die Frage als eine rein hygienische, und mehr als das ist sie auch nicht. Er bringt etliche interessante Erklärungen vor, denen, da er eine Autorität ist, vorläufig Glauben geschenkt werden muss. Er behauptet, dass es in der Regel nicht als schädlich angesehen werden kann, im Zölibat zu leben, und führt aus diesem Grund eine scharfe Polemik gegen verschiedene moderne, ästhetische Schriftsteller, die sich in ihren Schriften für ein freieres Geschlechtsleben ausgesprochen haben.

Gelegentlich nimmt er sich bei den Erklärungen jedoch nicht in Acht davor, seinen Gegnern in die Hände zu spielen. Wenn er etwa schreibt, dass sich eine Frau im Falle einer Geburt eigentlich 2-2½ Jahre des Geschlechtsverkehrs enthalten sollte, nämlich 9 Monate davor und 15-20 Monate danach, so scheint das Verhältnis eines Mannes mit einer Frau zweifelsfrei nicht mit der Ordnung der Natur vereinbar zu sein, und die Gesundheitskommission sollte dann versuchen, den Paragrafen über Bigamie in unserem Strafgesetzbuch so bald wie möglich zu ändern.

Urbanus.

 
[1] Gemeint ist der Vortrag Engifte og Mangegifte (dt. Monogamie und Polygamie), mit dem Bjørnson 1887-1888 auf Vortragsreise ging (dänische Transkription veröffentlicht im November (?) 1888). tilbage
[2] einmal in diesem Leben: vgl. Søren Kierkegaard: "Man liebt nur einmal in seinem Leben, das Herz hängt an seiner ersten Liebe"; nach einem Gedankenstrich fügt Kierkegaard hinzu: "der Ehe". Entweder – Oder. Teil II, hrsg. v. Hermann Diem und Walter Rest, München 1988, S. 590f. tilbage